Erinnerung im Film.

Zu Hans-Jürgen Syberbergs Film Ein Traum, was sonst?

Hiroshi Arai


Der große Film Hitler, ein Film aus Deutschland (1977), der dem deutschen Regisseur Hans-Jürgen Syberberg internationalen Ruhm gebracht hat, thematisiert die Ästhetik des Nazismus, daher starrt man oft nur auf den skandalösen provokativen Aspekt des Films. Aber dieser Film wurde natürlich ohne die Absicht gedreht, die Faszination durch den Nazismus zu bejahen oder gar zurückzuwünschen, sondern er zielt darauf, das Hitler-Bild von damals zu verstehen und dadurch zu überwinden. Damit wollte er zur Rettung der irrationalen Seite der deutschen Kultur, wie sie vor allem von der Romantik repräsentiert wurde, beitragen. Syberberg schreibt in seinem Kommentar zu Hitler, ein Film aus Deutschland: Wir wissen von Glanz und Elend des Irrationalismus, aber ohne ihn ist Deutschland nichts und gefährlich, krank, ohne Identität, explosiv und ein kümmerliches Abbild seiner Möglichkeiten1. Die Romantik wurde von Hitler und dem Nazismus dazu benützt, einen nach ihrer Ideologie idealen Staat aufzubauen, und danach als eine Art präfaschistischer Ästhetik gebrandmarkt, z. B. in Die Zerstörung der Vernunft(1954) von Georg Lukács. Über diese Tendenz hat sich Syberberg beklagt: Deutschland ist seelisch enterbt und enteignet, was nicht soziologisch, gesellschaftspolitisch zu rechtfertigen war, wurde verschwiegen. […] Wir leben in einem Land ohne Heimat.2 Deutschland sei nicht von Hitler in idealer Form realisiert, sondern ruiniert geworden. Syberbergs Versuch einer „Rettung“ enthüllt, dass es keine Übereinstimmung gab zwischen der sogenannten politischen Ästhetik des Nazis einerseits und der Romantik, auch der Musik Wagners andererseits.

Während dieser mit seinem Gesamtkunstwerk des Musikdramas die alte mythische Welt erneuern wollte, verdankte der Nationalsozialismus seinen Aufstieg von allem der engen Beziehung mit dem internationalen Kapitalismus, d. h. er stellte eine Verkörperung des Widerspruchs inmitten der Moderne dar, den Syberbergs Lehrer Hans Sedlmayr als den „Verlust der Mitte“ charakterisiert hat. Hitler habe sein Drittes Reich als Gesamtkunstwerk erschaffen und sich mit Deutschland pervers identifizieren wollen, und das sei „[…]  der Schreckliche und totale Selbstmord Hitlers in der Gestalt Deutschland“ gewesen. Syberberg setzte sich mit dem Bild Hitlers durch das Medium des Films auseinander, der für ihn das heutige Gesamtkunstwerk ist.

Die Filmserie Monologe, die Syberberg zwischen 1985 und 1994 gedreht hat, besteht aus den 6 Filmen Die Nacht. (1985), Molly (Edith Clever liest Joyce). (1985), Fräulein Else. (1987), Penthesilea. (1988), Die Marquise von O... (1989) und Ein Traum, was sonst? (1994). In Ihnen spielt ein und dieselbe Darstellerin Edith Clever alle Figuren. Sie spricht die Texte ohne die Maske, woanders z. B. ein Darsteller der griechischen Tragödie mit seiner jeweiligen Rolle identifizierbar war. Auf seiner Bühne, die auf elektronische Mittel verzichtet, stehen nur symbolische Objekte, z. B. Wasser im Glas oder Kerzenlicht, was die Elemente der naturlichen Welt repräsentiert, und Symbole des Alltags wie alter ein Schreibtisch, ein Stuhl oder Bücher, die uns etwas Vergangenes übermitteln. Als Symbole erscheinen diese Objekte in der Imagination.

Es geht also in den Filmen Monologe nicht um die Realisierung einer Idee, sondern um die Imagination selbst, die einer engen Beziehung von Kunstwerk, Künstler und Zuschauer bedarf. Susan Sontag hat im ihren Essay zu Hitler, ein Film aus Deutschland zu recht darauf hingewiesen, dass die Imagination nach der „romantischen“ Denkweise Syberbergs das höchste Vermögen des Menschen sei.3 Das gilt auch für Monologe. Im Sinn des Begriffs romantische Imagination können wir uns nicht nur an historische Tatsachen und persönliche Erlebnisse erinnern, sondern darüber hinaus an die überhistorische mythische Welt, wo die Götter und Menschen zusammen gewohnt haben. Die verlorene mythische Welt wird hier nicht vom Genie heraufbeschworen, sondern durch deren Spuren im Medium der Texte potenziell von jedem imaginiert. Die Imagination gilt Syberberg als die Urkraft des Dichtens und auch des Traums, eine Kraft, die mit unserer Vernunft nicht erfassbar ist. Der Traum trägt hier nicht zur Herausbildung des modernen Individuums im Sinn Freuds bei, sondern gemäß Jungschen Symboltheorie verbindet er das Unbewußte mit der mythischen Welt.

Ich möchte hier den letzten Film der Reihe, Ein Traum, was sonst? (1994), unter Aspekt der Erinnerung betrachten. Dass Erinnerung das Thema ist, wird schon am Anfang klar: ein Erdhaufen, in dem einen Schaufel steckt ― die archäologische Szene.

Bezeichnend für die Inszenierung ist das schwarzes Kleid, das Edith Clever in Ein Traum, was sonst? und den anderen Monologen trägt. In Hitler, ein Film aus Deutschland wurde das Filmstudio Edisons, die Black Maria, im Film wie auf einer Bühne nachgebaut. Dieses Filmstudio gilt überall als der Ursprung des Films. Daran sehen wir, dass die Farbe Schwarz nicht nur Trauer, Nacht oder das Dunkel einer Felsenhöhle, wichtige Motive in Syberbergs Werk, symbolisiert, sondern auch die Natur des Kinos. Bewußt verzichtet dieser Regisseur auf die Technik der Montage, die ein Ereignis mit Hilfe des Filmschnitts dargestellt und einen illusionären Raum baut. Er bevorzugt die Projektion des Lichts auf die Leinwand: Aber man vergaß, daß an der Wiege des Films noch etwas anderes gestanden hatte, von Anfang an: die Projektion, die Idee, auf eine Leinwand oder in einem Kasten etwas durch Licht zu projizieren, das entsprach der seelischen und geistigen Entdeckung der psychoanalytischen Wissenschaftler unseres Zeitalters der Massen.4 Dabei erinnern wir uns an einen Hinweis Syberbergs in Hitler, ein Film aus Deutschland. Dort läßt er Hitler selbst sagen, dieser sei die Projektion der geheimsten Wünsche der deutschen Volks, d. h. dieser Hitler ist in der Tat „ ein Film aus Deutschland “

Wenn man den Blick darauf richtet, was im Film dargestellt wird, haben die Monologe keine filmische Handlungsstruktur, d. h. Syberberg hat keine realen Ereignisse realistisch dargestellt, sondern geistige Ereignisse abstrakt inszeniert, und zwar dadurch, daß die Kamera nur Edith Clever, welche die Monologe spricht, auf der Bühne oder in einen Raum statisch aufnimmt.

Ein Traum, was sonst? besteht ebenso wie Die Nacht aus unterschiedlichen Texten, z. B. aus Euripides´ Hekuba und Die Troerinnen, aus FaustⅡ und Kleists Prinz Friedrich von Homburg, wo der Oberst Kottwitz am Schluß sagt: Ein Traum, was sonst? Das erste Wort von Clever im Film ist auch des erste Wort der Hekuba bei Euripides. Nach Syberbergs Erklärung zu Ein Traum, was sonst? verkörpert Edith Clever nicht nur Hekuba, sondern auch Antigone, obwohl aus dieser Tragödie des Sophokles im Film nicht zitiert wird.5

Diese beiden mythischen Figuren stellen das tragische Urbild des Opfers der Staatsgewalt und des Krieges, also der Heimatlosen dar. Überdies lehre Antigone uns die Menschlichkeit der Tränen: unabhängig von der staatlichen bzw. gesellschaftlichen Rechtsordnung hätten alle Menschen das Recht zur Trauer.6

Wenn die schwarz gekleidete Edith Clever diese tragischen Texte als Monologe spricht, scheint sie sich in jede Figur, als welche sie jeweils spricht, zu verwandeln. Umgekehrt gesagt, sieht es so aus, als wäre sie als Clever ein Niemand und zugleich die Leinwand, auf die verschiedene Bilder projiziert werden. Syberberg selbst behauptet das Gegenteil: [Sie ist alles aus sich.7 Syberberg stelle also in dem Film keine auf die Leinwand projizierte Idee dar, sondern den Ursprungsort, aus dem alle Ereignisse entstehen, d. h. Clever erscheint wie eine dunkle Stelle als der Ursprungsort der Geschichte selbst, was der Konstitution des Films eigentlich wiederspricht. Wenn wir darüber nachdenken, was es impliziert, dass alle Figuren, ob männlich oder weiblich, von der einen Darstellerin gespielt werden, erinnern wir uns an die von den Nazis abgelehnte Theorie Bachofens vom Mutterrecht.

Sie erscheint insofern als der Urquell, als sie sozusagen die geschichtlichen und zugleich die übergeschichtlichen Bilder hervorbringt; Geschichte entsteht nicht aus dem Mythos, sondern wir bemerken die mythischen Bilder nachträglich an dem, was geschieht. In diesem Sinn ist der Mythos kein gewaltiger, Identität schaffender Mechanismus, wobei sich das Subjekt unreflektiert mit einer fiktionalen Subjektivität identifiziert, sondern ein Medium zur Erinnerung. Demnach könnte man den Mythos das Gedächtnis der Geschichte nennen, das sich in der Gegenwärtigkeit der menschlichen Rede jeweils aktualisiert. Er ist das ursprüngliche und stärkste Medium der Geschichte, das von Raum und Zeit nicht beschränkt ist und sich überhistorisch ständig wiederholt.

So wiederholt sich für Syberberg das Schicksal jener beiden mythischen Figuren im Leben einer zeitgeschichtlichen Person wie Marion Gräfin Dönhoff, die, auf Schloß Friedrichstein geboren, ihre Kindheit in Ostpreußen verbrachte und nach dem Zweiten Weltkrieg als Journalistin tätig war. Dönhoff war trotz des Zusammenbruchs von Hitler-Deutschland in ihrer Heimat geblieben, musste aber Anfang 1945 in den Westen flüchten. Clever spielt die Heimatlosen, Hekuba, Antigone, zugleich teilt sie die Trauer des Heimatlosen Syberberg. In Ein Traum, was sonst? überlappen sich Fotos von Ruinenstädten nach dem Krige und aus Syberbergs eigener Kindheit sowie Aufnahmen von Clever. Das tragische persönliche und das kulturelle Gedächtnis bilden Schichten in dem einen Film. Syberberg formuliert seine schmerzliche Trauer in seinem Internet-Tagebuch Nossendorf Tagebuch folgendermaßen: ein Traum was sonst, /nannten wir den Untergang der Städte in Deutschland, /den Verlust von einem Fünftels des /Landes mit der Flucht der Menschen /daraus mit 15 Millionen Fliehenden und /den stummen Gesang vom Ende des /ländlichen Lebens derer, dies nicht sagen durften.8

Hier stellt sich uns die Frage: Wie macht er seine Filme gegen die Eigengesetzlichkeit des Films? Die Werke Die Nacht, Penthesilea, Marquise von O..., und Ein Traum, was sonst? wurden zuerst als Theaterstücke aufgeführt und danach als Filme gedreht. Er sieht hier offenbar eine Möglichkeit des Films auch außerhalb der Projektion. Gilles Deleuze plädiert in seinem Buch Kino 2 dafür, im filmischen Drama eine andere als physikalische Zeit zu konstruieren: Das Ereignis hat dann nichts mehr gemeinsam mit dem Raum, der ihm als Ort dient, noch mit dem vorübergehenden gegenwärtig Aktuellen […] , es ist die leere Zeit, in der wir die Erinnerung antizipieren, in die wir dasjenige, was aktuell ist, auflösen und die einmal gebildete Erinnerung hineinversetzen. Es gibt diesmal keine Aufeinander folge von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit mehr, entsprechend dem genau bestimmten Übergang unterscheidbarer Gegenwarten.9 Die leere Zeit komme dadurch zustande, dass der von der Filmtechnik konstruierte realistische Handlungsraum durch eine rein optische, vertikale oder vielmehr in die Tiefe gehende Sicht ersetzt werde. Dem entspricht in Monologe die Überlappung von Ruinenfotos und Aufnahmen der Darstellerin, bei Vermeidung der Montage—Technik und einer Bevorzugung der Großaufnahme. Wie Deleuze bemerkte schon Béla Balázs in seinem Buch Der Film (1949), dass die Großaufnahme die Vorstellung der Figuren nicht nur von der geordneten Zeit, sondern auch vom Raum trennen könne. Wir haben solchen leeren, zeit— und raumlosen Ort bereits kennen gelernt; Die Darstellerin in schwarzen Gewand stellt ihn vor. Ihre Erscheinung würde dann Erinnerung und Mythos symbolisieren. Ich meine, daß der Film auf diese Weise eine Virtualität der Zeit in unserer Erinnerung ermöglicht. Mit nur wenigen, sparsam eingesetzten Requisiten, die an geschichtliche Ereignisse oder an die Kindheit erinnern, unterstreicht Syberberg die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Zeiten. Syberberg selbst erklärt, was er mit Ein Traum, was sonst? beabsichtigt hat: Film nicht als technisch neu ermöglichter Mummenschanz und Mimenwechsel von Figuren, Orten und Zeiten, sondern fließende Bewegungen, wie jenseits der Zeiten und Räume der Erdenschwere, die unsere Augen und Ohren der diesseitigen Welt kennen, wie die Alten sie als Bilder und Töne der Seele dachten, waren das Ziel.10 Syberberg wollte also in seinen Filmen den Fluß einer virtuellen Erinnerns und geistiger Strömungen darstellen.

Zum Schluß möchte ich Syberbergs Monologe gleichsam als Antifilme mit einer Melodie vergleichen. Der Regisseur erklärt, dass die Musik in Ein Traum, was sonst? das wichtigste Element sei, das die anderen Elemente umfasse und seinen Film zum Kunstwerk mache: Durch die Musik Beethovens ist nun dieser Faust mit Kleists Homburg vereint im Zeichen jener Kultur, die durch ihren ländlichen Charakter eine Identität erstrebte, die uns verloren ging. Verlust der Authentizität, die noch einmal beschworene Musik, in der die Erinnerung Kunst werden kann.11 Ein Traum, was sonst? besteht aus den unterschiedlichen Elementen wie beim postmodernen Art Collage, was in Hitler, ein Film aus Deutschland noch als Verfremdungseffekt fungiert hat. Doch werden solche Elemente diesmal in unserer Vorstellung vereinigt und erneuern sich im Fließen ist, wie jeder Ton trotz seiner Selbständigkeit einer Melodie ist. Hier ist es eine Melodie aus der 6. Symphonie Beethovens. Dieser habe, so heißt es in einer Biographie12, auf Anregung durch prosaische Schriften Schillers in diesem „Pastorale“(„ländliches Fest“) genannten Werk versucht, [...] den Menschen im Stand der Unschuld, d. h. in einem Zustand der Harmonie und des Friedens mit sich selbst und von außen darzustellen.13 Dieser „Stand der Unschuld“ ist in der Geschichte verloren gegangen. Beethoven hat in diesem Werk auch Vogelgesang nachgeahmt. Am Anfang von Ein Traum, was sonst? hören wir eine Vogelstimme. Bei der Erinnerung geht es nicht um Trauer, sondern auch um Mimesis. Das wäre ein neues Thema für meine weitere Beschäftigung mit Syberberg-Filmen.14

1 Syberberg: Hitler, ein Film aus Deutschland. Hamburg (Rowohlt) 1978. S.19.

2 Ebd. S. 15.

3 Vgl. Susan Sontag: Syberberg´s Hitler. In: Under the Sign of Saturn. New York (Picador USA) 1972. p. 160.

4 Syberberg: Die freundlose Gesellschaft. München/Wien (Hanser) 1981. S. 70.

5 Hans-Jürgen Syberberg: Programheft zu Ein Traum, was sonst? Berlin
(Hebbel-Theater) 1990. S. 3.

6 Hans-Jürgen Syberberg: Antigone. In: Vom Unglück und Glück der Kunst in
Deutschland nach dem letzten Kriege. München (Matthes Seitz) 1990. S. 161.

7 Anmerkung von Syberberg. In: Hiroshi Arai: Imagination des Verlusts oder die
Kunst, in Nossendorf zu leben. In: Syberberg: Film nach Film. Wien (Kunsthalle)
2008. S. 37.

8 Hans-Jürgen Syberberg: Nossendorf-Tagebuch. 9. Oktober. 2003.
(http://www.syberberg.de/Syberberg4_2003_1/9_Oktober.html)

9 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1997. S. 135.

10 Hans-Jürgen Syberberg: Katalog zu Ein Traum, was sonst? S. 8.

11 Ebd. S. 9.

12 Vgl. Martin Geck: Beethoven. Reinbek (Rowohlt) 1996. S. 102-107.

13 Zitat nach Martin Geck. Ebd. S. 104

14 Ich danke Herrn Hans-Jürgen Syberberg und seiner Frau Helga. Ihre Hilfe hat
meine Studien und meine Forschung bedeutend gefördert.

 


per mail 31-August

Vorgestern habe ich ein Referat über den Traum gehalten in der asiatischen Germanistentagung.
Wegen der Beschränkung der Redezeit habe ich nicht alles gut geschrieben. Diese wissenschaftliche Tagung wurde in Kanazawa veranstaltet, Japan.
Kanazawa ist eine sehr alte und nördliche Stadt in Japan,
in deren Mitte der Rest des Schlosses und der große und alte japanische Garten stehen.
Etwa 30 Leute waren da zu meiner Referat, die aus Deutschland, Japan, Korea, China und Taiwan kommen.
Alle Leute sind Professoren oder Forscher der Germanistik, nicht allgemeines Publikum.

kanazawa