SPIEGEL ONLINE - 02. Oktober 2007, 06:13
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OSTDEUTSCHLAND
Abzugsprämie soll Dörfer entvölkern
Von Marie Preuß
Elche statt Einkaufsstraßen, Wölfe statt Wohnungen: Die Verfasser einer Studie regen an, ganze Dörfer in Ostdeutschland aufzugeben und die Einwohner durch Prämien zum Abwandern zu bewegen. So könnte man Infrastrukturausgaben sparen. Die Betroffenen sind empört.
Letschin - Horst Müller geht hier nicht weg. "Höchstens mit de Beene zuerst." Seit knapp 40 Jahren wohnt der gebürtige Thüringer in dem großen hellblauen Haus am Rand von Letschin, einem Dorf im Märkischen Oderland. Mit ihm zusammen lebt "die Frau", wie er seine Angetraute schlicht nennt. Außerdem noch zwei Schafe, Katzen, Hühner, ein großes und ein kleines Pferd.
PROJEKT WILDNIS: OSTDEUTSCHLAND ALS



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Wenn es nach einem Gutachten des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung ginge, müssten Herr Müller und Frau ihre Heimat bald verlassen. Und sie würden dafür auch noch bezahlt. Eine Studie zum demografischen Wandel in Brandenburg, vom Landtag in Auftrag gegeben, erhofft sich von einer Prämie für abwanderungswillige Bürger, die unaufhaltsame Entsiedelung der Gebiete beherrschbar zu machen.
Denn die Entwicklung in den brandenburgischen Gebieten ist alarmierend. Immer mehr Schulen werden geschlossen, Siedlungen stehen leer, Dörfer sind entvölkert. Die Studie geht davon aus, dass im Jahr 2030 jeder dritte Brandenburger älter als 65 Jahre alt sein wird. Heute ist es bereits jeder fünfte. Im Vergleich zu 2004 wird Brandenburg dann einen Verlust von rund 470.000 Menschen zu verzeichnen haben. Die Infrastruktur des Landes bröckelt. Kanalisationssysteme und notärztliche Versorgung drohen vielerorts zusammenzubrechen. Bereits heute sind 173 Hausarztpraxen unbesetzt. 2030 werde es in manchen Landkreisen nicht einmal mehr einen Allgemeinarzt geben, warnt das Institut.
Mehr Geld den Kommunen
Um die Probleme zu lösen, müsse vor allem Bildung massiv gefördert werden. Die Studienverfasser fordert, den Bildungshaushalt "zum wichtigsten Finanzposten des Bundeslandes" zu machen und die Kommunen selber darüber entscheiden zu lassen, wofür die Mittel eingesetzt würden. Außerdem sollten mehr Initiativen über Stiftungen gefördert werden. Um die Pflege der alternden Bevölkerung sicher zu stellen, regt das Gutachten die Einrichtung von Mehrgenerationenhäusern an.
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Der umstrittene Plan des Berlin-Instituts sieht außerdem vor, spärlich besiedelte Landschaften wieder in Wildnis zurück zu verwandeln. Wölfe und Füchse sollen dort leben, wo Herr Müller in all den Jahren seinen Spargel anbaute, Gänse züchtete und Kürbisse pflanzte.
" Das ist gaga!"
" Der Vorschlag bereitet mir Bauchschmerzen", sagt Peter Hettlich, Bundestagsabgeordneter der Grünen. Die Studie sei zwar sehr gut, sie enthalte hauptsächlich "urgrüne Vorschläge", jedoch hält er es für "relativ gaga, dass die Politik sich anmaßt, Lebensqualitäten zu verschreiben". Alte Menschen müssten das Recht haben, dort ihren Lebensabend zu verbringen, wo sie aufgewachsen sind.
" Wenn ein Dorf ausstirbt, dann werden wir nicht dagegen steuern", beteuert er. Eine gewisse soziale Infrastruktur müsse schon vorhanden sein, aber ob die Oma länger auf ihren Arzt warten muss, weil der 30 Kilometer weit entfernt ist, seien Konsequenzen und freie Entscheidungen, welche die Menschen selber treffen müssten, so Hettlich. Die Politik solle vor allem ehrlich sein und die Wahrheit aussprechen. Im Klartext: Wer in der Provinz wohnt, darf keinen Großstadtservice erwarten.
Unter der unaufhaltsamen Landflucht hat auch Letschin zu leiden. 2020 wird es hier noch 3000 Einwohner geben. Heute sind es noch 4800 Menschen, erklärt Bürgermeister Michael Böttcher. Sein Büro liegt in einem pappkartonähnlichen Gebäude, das sich hinter der Weide befindet. Wenn er aus dem Fenster sieht, kann er den Pferden auf der Wiese zusehen. Anders als vielerorts in Uckermark oder Prignitz, dem am dünnsten besiedelten Landkreis Deutschlands, kann sich Böttcher noch glücklich schätzen: "Wir haben immerhin noch eine Schule." Zwischen 1994 und 2003 wurden in Brandenburg 149 Grundschulen geschlossen - fast 25 Prozent des Bestands. Die Folge ist, dass Schulwege immer länger werden. Knapp drei Stunden sind manche der ABC-Schützen mittlerweile zum Unterricht unterwegs.
Die Abzugsprämie hält Böttcher dennoch für eine "Zwangsräumung". Wenn er an seine Heimat denkt, spüre er einen "inneren Schmerz". Er fasst sich an die Brust. "Das ist die Vertreibung aus dem Paradies."
Zehn Kilometer weiter geht es weniger pathetisch aber in der Sache ebenso bestimmt zu. Edeltraut Studier, 47, arbeitet seit 20 Jahren in der Bäckerei an der Hauptstraße in Gusow. Und sie will es die nächsten 20 Jahre auch noch tun. Ihr Mann ist hier geboren. Sie kann sich nicht vorstellen wegzugehen. "Im Westen ist es doch ooch nicht besser." In der Vitrine liegen selbstgebackener Pflaumenkuchen und Erdbeertörtchen. Gerade kommt der Sohn zur Tür herein. "Der Junge macht eine Ausbildung als Versicherungskaufmann." Ein bisschen traurig fügt sie hinzu: "Bäckermeister wollen die heute nicht mehr werden."
In Gusow stehen renovierte Häuser wie die Bäckerei der Studiers und verfallene Ruinen nebeneinander. "In dem Tanzsaal am Ende der Straße wurden früher rauschende Feste gefeiert", seufzt Frau Studier und faltet die Hände über ihrer roten Schürze. Heute sind neben hakenkreuzverschmierten Wänden und zerbrochenen Glasscheiben noch zwei verstaubte gelbe Öfen zu erkennen. Bonjour Tristesse.
Brachliegende Felder? Alles Quatsch
Der Vorschlag, den Osten Deutschlands streckenweise ganz bewusst zu entvölkern, ruft bei den betroffenen Bewohnern Trotz hervor. Manche Politiker wollen nun retten, was gar nicht mehr zu retten ist. Bürgermeister Böttcher erzählt von einem Musiker, der vor kurzem sein Tonstudio im Landkreis eröffnet hat, während Gernot Schmidt, Landrat des Märkischen Oderlands, auf Freiberufler wie Architekten hofft. Das Land böte Chancen.
Die Studie des Berlin-Instituts, behauptet er, kenne das Gebiet gar nicht. Von brachliegenden Feldern sei dort die Rede. "Alles Quatsch." Die Landwirtschaft sei auf dem Vormarsch. "Ich glaube, dass wir in 15 Jahren keine Subventionen mehr in der Landwirtschaft brauchen." Rapsöl sei eines der Produkte, von denen er sich ökologischen Aufschwung erhofft. Aber dafür werde Ackerfläche gebraucht - und keine verwilderten Haine.
Während Gernot Schmidt am rapsgelben Bild seiner blühenden Landschaften zeichnet, muss der Leiter des Berlin-Instituts, Reiner Klingholz, solche Vorstellungen dementieren: Elche liefen heute schon permanent durch manche Landstriche Ostdeutschlands. Die brachliegenden Flächen gebe es definitiv. Andreas Weber, der die Studie miterarbeitet hat, spricht von mindestens neun Prozent der Flächen, die mit EU-Subventionen künstlich stillgelegt wurden.
Bei Horst Müller blöken die Schafe. Die schwarze Katze Morle streicht ihm um die Beine. "Jibt et wat Schöneres?" Er will jetzt weiter machen. Das gemähte Gras muss noch in die Scheune, bald ist schon wieder Zeit für Kaffee. Er grinst. "Ick hab im Leben schon jenuch jetan." Und die Frau wartet auch schon auf ihn.

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Abwanderung Ost: Weiblich, ledig, jung gesucht (18.09.2007)
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siehe auch>
Arbeit an Paris vor 4 Jahren Centre Pompidou (noch alles zu)nachdem wie N.vorgefunden. Als die frühere Bewohnerin diesee kastrierten Räume, die wieder offenen, Türen und Fenster sah, weinte sie. Als Bürgermeisterin:hier wird nicht zurückgebaut!. Nun betreutes Wohnen Demmin. Der Sohn abgehauen Hamburg, Dazwischen Brand im Haus, gelegt, Treuhand. Gerichte. Betrug. Der andere ist Präsident der Bauernschaft M/V. Andere Geschichte. Irgendwann aufhören zu schweigen.

Dienstag, den 2. Oktober

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das sollte man sehen