9. Die Herausforderung Brecht (1962 – 1975)
 
 
Bertolt Brecht auf einer Probe 1952 im Berliner Ensemble
 
 
9.1  Das Berliner Ensemble im Weltruhm
 
« Genau das ist die Theaterform, auf die wir so lange gewartet haben, die wir alle suchen... Diese Form steht da vor uns, lebendig, meisterhaft verwirklicht, das Wirkliche mit dem Poetischen vereinend, den nüchternen Realismus mit der vollkommensten Stilisierung... Welche Erschütterung!» (9.1) So schwelgte der französische Theaterkritiker A. Antoine anlässlich des ersten Gastspiels des Berliner Ensembles 1954 in Paris. Die Berliner zeigten «Mutter Courage und ihre Kinder». Brecht und sein Theater wurden stürmisch gefeiert, nicht allein wegen der faszinierenden Form, sondern insbesondere wegen des progressiven Anliegens. Der Aufstieg in den Weltruhm ward offenkundig. Gastspiele in weiteren europäischen Hauptstädten, in Moskau, London und erneut in Paris, bestätigten und festigten den Ruf dieses jungen Theaters der Deutschen Demokratischen Republik.
1949 hatte Brecht - noch am Deutschen Theater -«Mutter Courage und ihre Kinder» gemeinsam mit Erich Engel und mit Helene Weigel in der Titelrolle herausgebracht. Ebenfalls 1949 folgte Brechts «Herr Puntila und sein Knecht Matti» (Regie: Brecht/ Engel) mit Leonhard Steckel zunächst, dann mit Erwin Geschonneck in der Hauptrolle. 1951 inszenierte Brecht «Die Mutter» nach Gorki mit Helene Weigel. 1953 führte er Regie bei der Aufführung von Erwin Strittmatters «Katzgraben - Szenen aus dem Bauernleben» mit Gerhard Bienert, Erwin Geschonneck und Friedrich Gnaß. 1954 folgte - nun im eigenen Haus, im ehemaligen Theater am Schiffbauerdamm - die Inszenierung seines Stücks «Der kaukasische Kreidekreis» mit Ernst Busch als Richter Azdak, 1955 Johannes R. Bechers «Winterschlacht» (Regie: B. Brecht/M. Wekwerth) mit Ekkehard Schall als Johannes Hörder.
Nach dem Tode Brechts 1956 arbeitete Erich Engel 1957 «Leben des Galilei» mit Ernst Busch. Manfred Wekwerth und Peter Palitzsch, Schüler Brechts, inszenierten 1959 «Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui» mit Ekkehard Schall und 1961 die Uraufführung von Helmut Baierls «Frau Flinz» mit Helene Weigel. 1962 brachten Manfred Wekwerth und Joachim Tenschert Brechts «Die Tage der Commune» heraus.
 
 
Ernst Busch 1957 als Galilei
 
Nicht nur die Stücke und Aufführungen, auch die theoretischen Schriften des Dichters, aus seiner Theaterpraxis gewachsen und sie anregend, fanden zunehmend Widerhall. Brecht empfahl und beschrieb ein dem Leben und dem Fortschritt zugewandtes Theater. An den Anfang seines «Kleinen Organons für das Theater» setzte er die elementare Erkenntnis: «Theater besteht darin, daß lebende Abbildungen von überlieferten oder erdachten Geschehnissen zwischen Menschen hergestellt werden, und zwar zur Unterhaltung.» (9.2) Die «allgemeinste Funktion der Einrichtung Theater» beschrieb er als eine Vergnügung. «Es ist die nobelste Funktion, die wir für Theater gefunden haben.» (9.3)
Brecht bestimmte zwei Hauptteile der Schauspielkunst: die Beobachtung und die Wahl des Standpunktes. Und er argumentierte: «Will der Schauspieler nicht Papagei oder Affe sein, muß er sich das Wissen der Zeit über das menschliche Zusammenleben aneignen, indem er die Kämpfe der Klassen mitkämpft. Dies mag manchem wie eine Erniedrigung vorkommen, da er die Kunst, ist die Bezahlung geregelt, in die höchsten Sphären versetzt; aber die höchsten Entscheidungen für das Menschengeschlecht werden auf der Erde ausgekämpft, nicht in den Lüften; im "Äußern", nicht in den Köpfen. Über den kämpfenden Klassen kann niemand stehen, da niemand über den Menschen stehen kann.» (9.4)
Der Dichter orientierte sein Theater auf für die Zuschauer genussvolles Spiel und auf die «Lösung der Probleme». «Es macht die praktikablen Abbildungen der Gesellschaft, die dazu imstande sind, sie zu beeinflussen, ganz und gar als ein Spiel: für die Erbauer der Gesellschaft stellt es die Erlebnisse der Gesellschaft aus, die vergangenen wie die gegenwärtigen, und in einer solchen Weise, daß die Empfindungen, Einsichten und Impulse genossen werden können, welche die Leidenschaftlichsten, Weisesten und Tätigsten unter uns aus den Ereignissen des Tages und des Jahrhunderts gewinnen. Sie seien unterhalten mit der Weisheit, welche von der Lösung der Probleme kommt, mit dem Zorn, in den das Mitleid mit den Unterdrückten nützlich sich verwandeln kann, mit dem Respekt vor der Respektierung des Menschlichen, das heißt Menschenfreundlichen, kurz mit all dem, was die Produzierenden ergötzt.» (9.5)
Es war dies eine qualitativ neue Haltung gegenüber der Gesellschaft. Bislang hatte das Theater seinen ästhetischen Reiz von der Unerklärbarkeit der Gesellschaft bezogen. Es nahm überirdische Mächte an und stellte den Menschen dar als zwar dagegen aufbegehrend, aber letztlich ihnen ausgeliefert. Das Brecht-Theater zeigte die Gesellschaft als von Menschen gemacht und von ihnen veränderbar.
Ausgehend von der Erwartung und Hoffnung, «daß die ungeheure Umwälzung der Lebens-, Arbeits- und Denkweise bei derEinführung des Sozialismus auch in den Künsten Veränderungen von Bedeutung hervorbringen und benötigen würde», beschrieb Brecht «einige Eigenarten des Berliner Ensembles». Sie kommen, meinte er, «von den Bemühungen: 1. Die Gesellschaft als veränderbar darzustellen. 2. Die menschliche Natur als veränderbar darzustellen. 3. Die menschliche Natur als abhängig von der Klassenzugehörigkeit darzustellen. 4. Konflikte als gesellschaftliche Konflikte darzustellen. 5. Charaktere mit echten Widersprüchen darzustellen. 6. Entwicklungen von Charakteren, Zuständen und Ereignissen als diskontinuierlich (sprunghaft) darzustellen. 7. Die dialektische Betrachtungsweise zum Vergnügen zu machen. 8. Die Errungenschaften der Klassik im dialektischen Sinn "aufzuheben". 9. Aus Realismus und Poesie eine Einheit herzustellen.» (9.6) Und er schlussfolgerte: «Die besonderen, neuen Anforderungen an die Schauspieler setzen eine allgemeine Ausbildung voraus, eine Unterweisung in realistischem, auf Beobachtung gestelltem, natürlichem und zugleich gestaltetem Spiel...» (9.7)
Diesen besonderen, neuen Anforderungen an die Ausbildung von Schauspielern stellte sich der Nachfolger von Wolfgang Heinz als Direktor der Schule - der Schauspieler, Regisseur und Schauspielpädagoge Rudolf Penka.
 
 
 
Anmerkungen:
 
 
9.1                                A. Antoine zu «Mutter Courage und ihre Kinder», L'lnformation v. 1.7.1954; zitiert in: K. Rülicke-Weiler, Die Dramaturgie Brechts, Berlin 1966,S. 226    Zurück zum Text
9.2                                Bertolt Brecht, Kleines Organon für das Theater, Berlin/Weimar 1964, Schriften Bd. 7, S. 12    Zurück zum Text
9.3                                Ebenda, S. 12     Zurück zum Text
9.4                                Ebenda, S. 45     Zurück zum Text
9.5                                Ebenda, S. 25    Zurück zum Text
9.6                                Bertolt Brecht, Schriften, a.a.O., Bd. 6, S. 188    Zurück zum Text
9.7                                Ebenda    Zurück zum Text
 
 
 
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Freitag, den 18. März

etwas Geschichte zur kommenden Premiere am hist.Ort 1953(Urfaustfilme und Mutter Courage...)
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unabsehbar leeren Horizont etwas zu bewegen scheint, ein Mensch hervortritt – ah, kommt da nicht ein Fremder? Wer kommt denn da? – etwas bewegt sich in weiter Ferne, kommt näher und näher. Und wenn es dann so aussieht, als ob endlich ein neuer unbekannter Mensch auftaucht, auf mich zu kommt, so bist es am Ende doch wieder du. Und noch einmal du. Wir haben nichts geahnt. Warum ahnen wir nichts mehr? Alles, was sich früher Zukunft nannte. Aufgegeben, vergessen, versunken wie Atlantis. Ich finde es ungeheuer aufregend, schokkierend, grandios. Niemand gehört nur zu einem anderen. Niemand paßt mehr in ein einzelnes Leben. Ein Mensch flieht zum nächsten. Der flieht zum übernächsten. Und so fort. Unendlich. Irgendwo, auf freier Strecke, mitten auf der Flucht von einem zum nächsten, bleibt der Mensch plötzlich stehen, erstarrt zu seiner letzten Figur. Dann ist es vorbei. Dann bist du auf der sicheren Seite. Es gibt so ein Alter, wie du’s mir vorwirfst, heute gar nicht mehr. War einmal. So ein Alter ist heute keins. Das ist etwas von gestern. Erfahrungen machen jung. Das Innenleben blüht. Paß auf. Es kommt noch jemand von außen. Jemand, der urplötzlich, kurz vor Toresschluß, ganz einfach unverhofft vor mir steht. Auftaucht und dableibt. Ich habe noch einen frei. Eine Umarmung habe ich noch frei. Wir sind allein. Du und ich. Kein Fremder taucht mehr auf am Horizont. Ich bin da, wo ich immer war. Vorn. Ganz weit vorn. Ich habe kein Inter
STRAUSS DIE EINE UNDDIEANDERE Mit: Mareile Blendl, Edith Clever, Sonja Grüntzig, Jutta Lampe, Dörte Lyssewski; Gerd Kunath, Rainer Philippi, Sebastian Rudolph, Gerold Ströher, Ronny Tomiska, Oliver Urbanski, Axel Werner Inszenierung: Luc Bondy Bühne: Karl-Ernst Herrmann Kostüme: Rudy Sabounghi Premiere am 24. März 2005 Die Leute lachen nicht mal. Idiot! brüllen sie. Paß doch auf. Reiß dich zusammen. Nur weil ich eine Störung für sie bin, ein öffentliches Ärgernis. Jetzt da die meisten von uns hinüber sind, weg, gestorben, verschwunden, wiederverheiratet, verspießert und verkegelt, jetzt haben wir freie Bahn. Jetzt können wir ungehindert aufeinander los. Jedesmal wenn sich am leeren,
Ganz weit vorn. Ich habe kein Interesse an faulen Kompromissen. Jetzt mache ich erst mal die Rechnung fertig. Jetzt machen wir erst einmal Schluß. Wir ziehen den Schlußstrich. Ich bin fertig mit euch. Fertig mit euch allen. SCHÄNDUNG aus DIE EINE UNDDIE ANDERE