"Ich habe kein Wort zu korrigieren"
Marcel Reich-Ranicki über seine Akte und die Zeit im Geheimdienst
DIE WELT: Herr Reich-Ranicki, in polnischen Archiven sind jetzt Dokumente
aufgetaucht, die nahe legen, dass Ihre Rolle in Polen weit wichtiger war,
als Sie sie in Ihrer Autobiografie dargestellt haben. Was sagen Sie zu diesen
Dokumenten?
Marcel Reich-Ranicki: Ich kenne diese über 100 Seiten umfassende Akte
nicht. Ich kann mich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass hier jemand eifrig
bemüht war, diejenigen Angaben herauszufischen, die vielleicht gegen
mich sprechen könnten. Dennoch beweisen die jetzt aufgetauchten und von
der WELT zitierten Dokumente keineswegs, dass meine Rolle in Polen in der
letzten Kriegszeit und gleich danach (also bis 1949) größer war,
als ich sie in meinem 1999 erschienenen Buch "Mein Leben" dargestellt
habe. Ich habe in meiner Darstellung kein Wort zu korrigieren.
DIE WELT: In Ihrer Autobiografie schildern Sie sich als lustlosen Agentenführer.
Die jetzt vorliegenden Beurteilungen lassen vermuten, dass Sie hervorragend
waren.
Reich-Ranicki: Ein Agent ist - laut Duden-Fremdwörterbuch - ein "im
staatlichen Geheimauftrag tätiger Spion". Ich hatte während
meiner Tätigkeit in London überhaupt keinen Agenten, konnte also
kein Agentenführer sein. Wohl aber haben mich über die polnische
politische Emigration zehn bis 15 Mitarbeiter informiert. Meist waren es arbeitslose
oder pensionierte polnische Journalisten. Diese Informanten wurden in der
Warschauer Zentrale wichtigtuerisch "Agenten" genannt.
DIE WELT: In den Akten heißt es, Sie hätten Ihre Arbeit in London
"mit Leidenschaft betrieben".
Reich-Ranicki: Das Leben in London war für mich natürlich viel interessanter
und auch bequemer als in Warschau. Wenn ich auf diesem Posten bleiben wollte,
konnte ich der Warschauer Zentrale doch nicht die Wahrheit sagen, dass ich
nämlich meine Arbeit für den Geheimdienst für belanglos und
überflüssig halte und dass ich sie daher ungern mache.
DIE WELT: Warum sind Sie Mitarbeiter des polnischen Geheimdienstes (MBP) geworden?
Reich-Ranicki: Wir, meine Frau und ich, hatten uns, kaum befreit (es war 1944,
also noch während des Kriegs gegen Hitler) zur polnischen Armee gemeldet
und wurden dort der Propaganda-Abteilung zugeteilt, die Flugblätter und
ähnliche Materialien in deutscher Sprache bearbeiten sollte. Da aber
diese Abteilung schließlich doch nicht gegründet wurde, wir aber
schon mobilisiert waren, hat man uns zur militärischen Postzensur kommandiert.
Warum gerade zur Zensur? Weil wir Fremdsprachen beherrschten - und das hatte
in der damaligen polnischen Armee Seltenheitswert. In der Postzensur unterstanden
wir automatisch dem Sicherheitswesen.
DIE WELT: Es heißt in den Dokumenten, Sie hätten über "große
gesellschaftliche Kontakte in Parteikreisen" verfügt.
Reich-Ranicki: Leider trifft das nicht zu, wir kannten kein einziges Mitglied
des Zentralkomitees, keinen Minister. Es wurde damals von den Halbanalphabeten,
die in der Personalabteilung arbeiteten, in den Akten viel Unsinn notiert.
Deshalb empfiehlt es sich dringend, derartige Akten nicht immer für bare
Münze zu nehmen.
DIE WELT: Wie kamen Sie an den Decknamen "Albin"?
Reich-Ranicki: Wer vom Nachrichtendienst ins Ausland geschickt wurde, musste
einen Decknamen haben. Ich habe von dem meinigen nie Gebrauch gemacht.
DIE WELT: Waren Sie in Kattowitz, um dort das Bezirksamt des MBP aufzubauen?
Reich-Ranicki: Nein, keineswegs. Ich hatte in Kattowitz lediglich die militärische
Postzensur zu organisieren, was ich rasch gemacht habe - innerhalb von einigen
Tagen, höchstens einer Woche. Die Angabe, ich sei in Kattowitz mehrere
Wochen gewesen, ist falsch. Warum? Vielleicht hat sich eine Sekretärin
verschrieben.
DIE WELT: Weshalb haben Sie im MBP so schnell Karriere machen können?
Reich-Ranicki: Was Sie "Karriere" nennen, beschränkt sich auf
den Umstand, dass der (übrigens erst im Entstehen begriffene) Auslands-Nachrichtendienst
mir den Posten in London anbot. Warum wohl? Weil ich Englisch, Französisch
und Deutsch konnte, weil ich über eine gewisse Allgemeinbildung verfügte,
weil ich schon im Ausland (zehn Jahre in Berlin) gelebt hatte. Bevor ich nach
London ging, musste ich einige Monate im Außenministerium praktizieren
und mich im Nachrichtendienst mit der Situation der Polen in Großbritannien
und Deutschland beschäftigen. Es stimmt, dass ich für die Übergangszeit,
in der es vor allem darum ging, mich für die Londoner Tätigkeit
vorzubereiten, den Posten eines stellvertretenden Abteilungsleiters erhielt,
nur gab es diese Abteilung praktisch überhaupt noch nicht. Es war alles
improvisiert und ziemlich chaotisch.
DIE WELT: Sie wurden in einem Handbuch des MBP zu den wichtigsten 1100 Mitarbeitern
des Ministeriums gezählt.
Reich-Ranicki: 1100? Da bin ich aber enttäuscht. Jedenfalls können
Sie der überraschend großen Ziffer entnehmen, dass ich eben keineswegs
eine sonderlich wichtige Figur war.
DIE WELT: Welche Verbindungen hatten Sie, als Sie in London als Konsul arbeiteten,
zu den nach Großbritannien exilierten Polen? Wollte der MBP die Exilanten
ausforschen und zur Rückkehr nach Polen bewegen?
Reich-Ranicki: Überhaupt keine. Ich habe mich niemals mit der Rückführung
von Polen in ihre Heimat beschäftigt, und es war niemals meine Aufgabe,
irgendjemanden zur Rückkehr nach Polen zu überreden.
DIE WELT: Unter Ihrer Leitung wurde eine Kartei mit Informationen über
2000 Exilpolen geführt. Was für eine Kartei war das? Welchem Zweck
diente sie?
Reich-Ranicki: In dieser Kartei wurden die in polnischen Zeitungen in England
erwähnten Namen erfasst. Es war eine so harmlose wie überflüssige
Kartei, die nie benutzt wurde.
DIE WELT: Haben Sie nach Ihrer 1949 bzw. 1950 erfolgten Entlassung aus dem
polnischen Außenministerium und dem Sicherheitsministerium irgendwelche
Kontakte mit diesen Ministerien oder irgendwelchen Geheimdiensten in Polen
gehabt?
Reich-Ranicki: Niemals, nicht die geringsten. Dieser Abschnitt meines Lebens
war damals, also vor bald 53 Jahren, endgültig abgeschlossen. Es folgte
für mich eine schwere Zeit: Erst war ich zwei Wochen im Gefängnis,
in einer Einzelzelle. Später war ich als Literaturkritiker tätig,
aber viele Leute hatten Angst vor Kontakten zu mir, denn ich war, da aus der
Partei ausgeschlossen, ein verfemter Mensch - und dann wurde noch gegen mich
ein Publikationsverbot erlassen. Als ich 1958 Polen in Richtung Bundesrepublik
verlassen konnte, war ich glücklich. Das alles habe ich in meinem Buch
"Mein Leben" ausführlich beschrieben.
Das Gespräch führte Uwe Wittstock.Was bisher bekannt warDass Marcel
Reich-Ranicki Mitglied der Kommunistischen Partei war, für das polnische
Ministerium für Öffentliche Sicherheit gearbeitet hat und als Konsul
nach London entsandt wurde, ist nicht neu. Das hatte der Kritiker bereits
1994 öffentlich bestätigt. Damals hatte der WDR-Journalist Tilman
Jens auf Neuseeland einen ehemaligen polnischen Agenten und Londoner Mitarbeiter
Reich-Ranickis ausfindig gemacht, der 1949 zum britischen Geheimdienst übergelaufen
und dann in Polen in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war. Der Überläufer
hat seine Erlebnisse und auch Reich-Ranicki in einem Buch beschrieben (Krzysztof
Starzynski: Doppelagent. Brandenburgisches Verlagshaus, Berlin 1997). Wenig
später zitierten Edith Heller im Berliner "Tagesspiegel" und
Janusz Tycner in der "Zeit" aus Akten des polnischen Außenministeriums
und der ehemaligen KP, die die ersten Berichte bestätigten und weitere
Details ergaben. Deutschland erlebte eine heftige Debatte, auch wenn offen
blieb, ob Reich-Ranicki überhaupt jemandem konkret geschadet hatte.
In der Folge erklärte sich Reich-Ranicki in "Spiegel"-Interviews,
beharrte jedoch darauf: "Ich bereue nichts." Über seinen Einsatz
in Oberschlesien sagte er nichts. Der Schriftsteller Andrzej Szczypiorski
schrieb in der "Woche", das MBP sei eine "kriminelle Organisation"
gewesen. Dazu Reich-Ranicki im "Spiegel": "Diese Bezeichnung
trifft alles in allem zu."
In "Mein Leben", seiner 1999 erschienenen Autobiografie, beschreibt
Reich-Ranicki seine Arbeit für die Staatssicherheit als harmlos und belanglos,
sein Wissen darüber habe er nur aus Romanen bezogen, er habe weder jemandem
geschadet noch irgendjemandem genutzt. gna.Weitere Artikel zum Thema
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Nur eine Facette
Im Mai 1945 waren die Kämpfe noch nicht vorbei
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Tagesübersicht
Der Fall RR.
Die Bilder dazu zeigt man lieber nicht, aus Rücksicht mit dem Angeklagten. Wie sie aus dem 3 Sat Programm kommentierten (T.Jens, dessen Frau eine Jüdin aus polnischer Familie, weiss, wovon gesprochen wird.)
Interessanter noch sind die Berichte aus dem Getto zur Zeit der Gestapo. Als RR zwischen den Fronten arbeitete, heisst es da. Und was heute zu berichten wäre, wenn er sagt, er wolle, dass der eine gelesen würde und der andere nicht, Kritik als konspirative Tat. Der Täter oder wie ein Kritiker zum Mörder wird, in ganz anderen Interessen, Aufträgen, und wessen. Mord an was. Die FAZ jedenfalls berichtet nichts.
Nur eine Facette
Kommentar
Von Johann Michael Möller
In einer der ergreifendsten Passagen seiner Lebenserinnerungen beschreibt
Marcel Reich-Ranicki den Augenblick, als ihn die Nachricht von der deutschen
Kapitulation in Warschau erreicht. Keine Freude, kein Glück, sondern
Trauer, Wut und Zorn. Er blickt in den unbarmherzig blauen Himmel und sieht
eine dunkle, schwere Wolke aufziehen. Er spürt: "Diese Wolke über
uns, sie würde sich nie verziehen, sie würde bleiben, unser Leben
lang."
Vielleicht wird Reich-Ranicki recht behalten. Ein Leben, eine Biografie
in jenen totalitären Tagen wird nie mit ihnen nur durch zufällige
Umstände verbunden bleiben, wird immer unentrinnbar affiziert sein,
belastet, geformt, bedrückt und zerstört. Das ist die bittere
Wahrheit hinter jenem so oft und so leichtfertig verwandten Satz, es gebe
kein wahres Leben im falschen. Er meint nie nur die tatsächliche Verstrickung
in die Geschichte, für die sich die Historiker interessieren müssen.
Er meint auch die einfache Harmlosigkeit des Lebens, die sich in der Rückschau
in große Schwere, ja bedrückende Last verwandeln kann.
Es gehört zu den erstaunlichsten Momenten dieser totalitären Epoche,
dass sie sich nicht nur in der tagtäglichen Repression, sondern fast
unentrinnbarer noch in ihrer nachträglichen Ausdeutung manifestiert,
in jener klirrend kalten, menschenfremden Sicht auf das Leben. Doch die
Geschichte ist kein englischer Zierrasen, und aus gutem Grund hat sich die
bürgerliche Gesellschaft einst unter die Prärogative des Rechts
und nicht der Moral gestellt.
Marcel Reich-Ranicki hat nach einer furchtbaren Lebenserfahrung unter grauenhaften
Umständen nach dem Glück gesucht. Er hat sich dabei für kurze
Zeit sogar mit den Stalinisten eingelassen. Wie tief, das werden die Historiker,
vor allem die polnischen zu prüfen haben.
Seine Gegner mögen bei ihm ein Motiv des Rächens oder auch nur
der verständlichen Opportunität vermuten. Schwerer wiegt jedoch,
wie dieser Mann, der im Namen der deutschen Kultur fast zu Tode getrieben
wurde, die Wunden dieser Kultur wieder zu heilen half, sie in einer großen
Geste der Versöhnung denen zurück gab, die sich ihrer auf barbarische
Weise entäußert hatten. Dabei ist ein Lebenswerk entstanden,
das sich in immer mächtigeren Anstrengungen von den Anfangs- und Beweggründen
seiner Entstehung zu befreien wusste. Man mag über manche seiner literarischen
Urteile streiten; auch darüber, wie er sie mitunter gefällt hat.
Aber dass am Ende dieses Lebens ein Werk und eine Biografie steht, die geistig
frei geworden ist, die den totalitären Teufelskreis des Jahrhunderts
durchbrochen hat, das gehört zu den wirklich großen, zu den bleibenden
Leistungen Marcel Reich-Ranickis. Die Stadt Frankfurt am Main dankt ihm
das jetzt mit dem Goethe-Preis.
Denn egal, was die Historiker noch herausfinden werden. Es kann höchstens
eine Facette dieser Biografie sein und wird nie mehr ihr Ganzes. Und die
schwarze Wolke? Auch sie war wohl niemals der ganze Himmel.Weitere Artikel
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Die polnische Geheimdienst-Karriere Marcel Reich-Ranickis im Spiegel seiner
Personalakte
Marcel Reich-Ranicki: "Es wurde damals von den Halbanalphabeten, die
in der Personalabteilung arbeiteten, in den Akten viel Unsinn notiert"
Foto: AP
Von Gerhard Gnauck
Von 1944 bis 1950 hat Marcel Reich-Ranicki für das Ministerium für
öffentliche Sicherheit gearbeitet. Das berichtet der Literaturkritiker
in seiner Autobiografie. Als erste Zeitung erhielt die WELT Einsicht in seine
Personalakte
Warschau - Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki war nach dem Zweiten
Weltkrieg im kommunistischen Regime in Polen eine wichtigere Figur als bislang
bekannt. Das geht aus der Personalakte des Ministeriums für Öffentliche
Sicherheit (MBP) hervor, dessen Mitarbeiter Reich-Ranicki Ende 1944 mit 24
Jahren wurde und mit kurzer Unterbrechung bis zum 28. Januar 1950 war. Sie
liegt unter der Nummer IPN 0193/896 im polnischen "Institut des Nationalen
Gedenkens (IPN)" in Warschau, der polnischen Entsprechung der Gauck-Behörde.
Die WELT erhielt als erste Zeitung Einsicht in das bisher verschlossene Dossier,
das jetzt im "Lesesaal für offene Akten" des Instituts an der
Warschauer Towarowa-Straße "zu wissenschaftlichen und publizistischen
Zwecken" eingesehen werden kann.
Demnach muss Reich-Ranicki die geheimpolizeiliche Arbeit für das neue
Regime geradezu mit Leidenschaft betrieben haben und ein hervorragender Agentenführer
gewesen sein. In mehreren "Charakteristika" loben verschiedene Vorgesetzte
über mehrere Jahre hinweg Intelligenz und Eifer: Er sei "gut in
der operativen Arbeit, vernarrt in den Geheimdienst", er "kennt
die Psyche des Agenten", auch sei er der Volksrepublik "ergeben,
politisch zuverlässig, bewährt". Seine Karriere gebe "Anlass
zu großen Hoffnungen". Bescheinigt werden ihm auch "große
gesellschaftliche Kontakte in Parteikreisen".
Allerdings werden in manchen Bewertungen die Eigenschaften Arroganz und Opportunismus
sowie "intelligenzlerhafte Manieren" getadelt. In der Mehrheit sind
die Bewertungen eindeutig positiv. Den gelegentlich fast euphorischen Ton
bezeichnen polnische Historiker als ungewöhnlich: Gerade in der Staatssicherheit
hätten Vorgesetzte stets äußerst zurückhaltend formuliert,
um sich gegen künftige Konkurrenten, aber auch gegen mögliche "Fehlentwicklungen"
des Beurteilten abzusichern.
Die jetzt freigegebene Akte umfasst 109 Blatt, zum Teil beidseitig beschrieben,
darunter Reich-Ranickis Aufnahmegesuch vom 25. 10. 1944, Verpflichtungs- und
Schweigeerklärungen, handschriftlich verfasste Lebensläufe, detaillierte
Personalfragebögen, Anträge der Vorgesetzten auf Beförderung,
drei Fotos und einige private Briefe. Im Dienst des Ministeriums brachte es
Reich-Ranicki schnell zum Rang eines Hauptmanns. Er erhielt drei Auszeichnungen,
eine davon, das Silberne Verdienstkreuz, mit der summarischen Begründung
"für herausragende Verdienste, Tapferkeit im Kampf mit Diversionsbanden
und musterhaften Dienst", wie es in der Begründung heißt.
Ein internes MBP-Personalhandbuch, das nach der Wende in Polen nachgedruckt
wurde, nennt ihn unter den wichtigsten 1100 Mitarbeitern.
Das Dossier ist eine Personalakte, die die Tätigkeit und Eignung des
Mitarbeiters Reich-Ranicki bilanziert. Einzelne "operative Vorgänge"
enthält sie daher ebenso wenig wie den Decknamen "Albin", unter
dem er nach eigenen Angaben geführt wurde, den er aber, wie Reich-Ranicki
sagt, nie benutzt hat. Über die frühe Zeit, in der er in der "Kriegszensur"
(Postzensur) tätig war, die dem MBP unterstand, erfahren wir wenig, ebenso
über seinen Einsatz im oberschlesischen Kattowitz. Laut MBP-Handbuch
war er dort vom 5. 2. bis 25. 3. 1945 Leiter einer "Operationsgruppe",
die die Strukturen des Bezirksamts der Staatssicherheit aufbauen sollte.
Danach war er, wiederum bei der Zensur, in Warschau tätig. Nach Auskunft
eines handschriftlich verfassten Lebenslaufs leitete Reich-Ranicki dort zeitweise
kommissarisch die Abteilung für die Zensur der gesamten Auslandspost.
Offenbar aufgrund eines Zerwürfnisses mit der Chefin der Zensurbehörde,
Wierblowska, bat er schriftlich um Versetzung und wurde im Auftrag des Amtes,
das die Rückführung von geraubten Industrie- und Kulturgütern
aus Deutschland nach Polen betrieb, an die polnische Militärmission in
Berlin entsandt (Januar bis April 1946).
Nach seiner Rückkehr machte Reich-Ranicki weiter im MBP Karriere. In
der Abteilung Nachrichtendienst wurde er binnen weniger Monate dreimal befördert
und war schließlich Leiter des Großbritannien-Referats und zugleich
kommissarisch stellvertretender Chef der II. ("operativen") Abteilung,
die neben Großbritannien für Deutschland, Nordamerika und die Hälfte
der übrigen Welt zuständig war.
Anfang 1948 wurde er unter dem polnisch klingenden Namen Ranicki in doppelter
Mission nach London geschickt, wo er bis November 1949 blieb. Er war ausgeliehen
an das polnische Außenministerium und in London offiziell Vize-Konsul,
dann Konsul und zeitweise Leiter des Generalkonsulats, inoffiziell Agentenführer.
London war damals aus Warschauer Sicht der brisanteste diplomatische Posten:
Die Emigrantenszene um die nichtkommunistische polnische Exilregierung sollte
bespitzelt und infiltriert werden, zugleich sollten möglichst viele Emigranten
zur Rückkehr nach Polen bewegt werden.
Das Generalkonsulat hat laut eigenen Berichten, die heute im Archiv des Außenministeriums
in Warschau liegen, im zweiten Quartal 1949 gerade einmal 75 Pässe ausgestellt.
Die Zahl erteilter Visa wird für ein früheres Quartal (1947) mit
90 angegeben. Doch die Emigranten, um die es ging, hatten ohnehin polnische
Pässe: Mit ihrer Rückführung war der Konsul, wie er in einem
Bericht an Warschau schrieb, "in Zusammenarbeit mit dem Militärattaché
und den Behörden im Heimatland" im Detail befasst.
Auch die nichtkonsularischen Aufgaben haben in den Akten Spuren hinterlassen:
In einem seiner Briefe an die Zentrale berichtet Konsul Ranicki am 12. August
1948 von "Elementen" unter den Emigranten, die einer "verbrecherischen
politischen Tätigkeit" nachgingen. Einer der dem Konsul persönlich
zugewiesenen Aufgabenbereiche waren nach einem anderen Dokument ausdrücklich
die Angelegenheiten der Exilpolen. Unter seiner Leitung wurde eine Kartei
mit Informationen über mehr als 2000 Emigranten geführt.
Nach den Angaben auf dem Laufzettel der Akte haben auch nach Reich-Ranickis
Ausreise nach Deutschland 1958 Mitarbeiter der Staatssicherheit immer wieder
die Akte angefordert. Zu der 1977 beantragten Vernichtung der Akte kam es
jedoch aus unbekannten Gründen nicht.
Die MBP-Akte schildert auch detailliert, wie Reich-Ranicki Ende 1949 für
einige Zeit in Ungnade fiel; als Verdachtsmomente genannt (oder vorgeschoben)
werden in der Akte immer wieder seine "unklare Rolle im Ghetto"
- er war bis 1943 Mitarbeiter der Ghetto-Verwaltung gewesen - und die Erteilung
eines polnischen Visums an seinen angeblich "trotzkistischen" Schwager
in London. Im Januar 1950 wurde Reich-Ranicki aus Partei und Ministerium ausgeschlossen.
Daraufhin erbat und forderte er, wie aus seiner inzwischen im Warschauer "Archiv
für neue Akten" ebenfalls zugänglichen Parteiakte hervorgeht,
mehrfach seine Wiederaufnahme. Laut Akte wurde er 1957 abermals in die Partei
aufgenommen; den Brief habe er nie erhalten, sagt Reich-Ranicki.
Aus der Personalakte
Auf dem "Fragebogen für Mitarbeiter des Ressorts für Öffentliche
Sicherheit" macht Marcel Reich-Ranicki unter anderem folgende Angaben
zur Person: "Beruf: Büroangestellter; Besitzstand: keiner; Volkszugehörigkeit:
polnisch; Konfession: mosaisch; Staatsbürgerschaft: polnisch; Ausbildung:
Abitur, Gymnasium in Berlin; Fremdsprachenkenntnisse: Deutsch, Englisch, Französisch;
Familienstand: verheiratet; Name und Vorname der Frau: Teofila Langnas".
Auf die Frage nach dem Wohnort der Eltern, die dem Holocaust zum Opfer gefallen
waren, antwortet er: "leben nicht mehr". Weitere Artikel zum Thema
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erschienen am: 12. 08. 2002
Channel: Feuilleton
Bereich: Feuilleton
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