DIE WELT
Montag, 12. August 2002     Berlin, 21:38 Uhr

"Ich habe kein Wort zu korrigieren" 
Marcel Reich-Ranicki über seine Akte und die Zeit im Geheimdienst
DIE WELT: Herr Reich-Ranicki, in polnischen Archiven sind jetzt Dokumente aufgetaucht, die nahe legen, dass Ihre Rolle in Polen weit wichtiger war, als Sie sie in Ihrer Autobiografie dargestellt haben. Was sagen Sie zu diesen Dokumenten?
Marcel Reich-Ranicki: Ich kenne diese über 100 Seiten umfassende Akte nicht. Ich kann mich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass hier jemand eifrig bemüht war, diejenigen Angaben herauszufischen, die vielleicht gegen mich sprechen könnten. Dennoch beweisen die jetzt aufgetauchten und von der WELT zitierten Dokumente keineswegs, dass meine Rolle in Polen in der letzten Kriegszeit und gleich danach (also bis 1949) größer war, als ich sie in meinem 1999 erschienenen Buch "Mein Leben" dargestellt habe. Ich habe in meiner Darstellung kein Wort zu korrigieren.
DIE WELT: In Ihrer Autobiografie schildern Sie sich als lustlosen Agentenführer. Die jetzt vorliegenden Beurteilungen lassen vermuten, dass Sie hervorragend waren.
Reich-Ranicki: Ein Agent ist - laut Duden-Fremdwörterbuch - ein "im staatlichen Geheimauftrag tätiger Spion". Ich hatte während meiner Tätigkeit in London überhaupt keinen Agenten, konnte also kein Agentenführer sein. Wohl aber haben mich über die polnische politische Emigration zehn bis 15 Mitarbeiter informiert. Meist waren es arbeitslose oder pensionierte polnische Journalisten. Diese Informanten wurden in der Warschauer Zentrale wichtigtuerisch "Agenten" genannt.
DIE WELT: In den Akten heißt es, Sie hätten Ihre Arbeit in London "mit Leidenschaft betrieben".
Reich-Ranicki: Das Leben in London war für mich natürlich viel interessanter und auch bequemer als in Warschau. Wenn ich auf diesem Posten bleiben wollte, konnte ich der Warschauer Zentrale doch nicht die Wahrheit sagen, dass ich nämlich meine Arbeit für den Geheimdienst für belanglos und überflüssig halte und dass ich sie daher ungern mache.
DIE WELT: Warum sind Sie Mitarbeiter des polnischen Geheimdienstes (MBP) geworden?
Reich-Ranicki: Wir, meine Frau und ich, hatten uns, kaum befreit (es war 1944, also noch während des Kriegs gegen Hitler) zur polnischen Armee gemeldet und wurden dort der Propaganda-Abteilung zugeteilt, die Flugblätter und ähnliche Materialien in deutscher Sprache bearbeiten sollte. Da aber diese Abteilung schließlich doch nicht gegründet wurde, wir aber schon mobilisiert waren, hat man uns zur militärischen Postzensur kommandiert. Warum gerade zur Zensur? Weil wir Fremdsprachen beherrschten - und das hatte in der damaligen polnischen Armee Seltenheitswert. In der Postzensur unterstanden wir automatisch dem Sicherheitswesen.
DIE WELT: Es heißt in den Dokumenten, Sie hätten über "große gesellschaftliche Kontakte in Parteikreisen" verfügt.
Reich-Ranicki: Leider trifft das nicht zu, wir kannten kein einziges Mitglied des Zentralkomitees, keinen Minister. Es wurde damals von den Halbanalphabeten, die in der Personalabteilung arbeiteten, in den Akten viel Unsinn notiert. Deshalb empfiehlt es sich dringend, derartige Akten nicht immer für bare Münze zu nehmen.
DIE WELT: Wie kamen Sie an den Decknamen "Albin"?
Reich-Ranicki: Wer vom Nachrichtendienst ins Ausland geschickt wurde, musste einen Decknamen haben. Ich habe von dem meinigen nie Gebrauch gemacht.
DIE WELT: Waren Sie in Kattowitz, um dort das Bezirksamt des MBP aufzubauen?
Reich-Ranicki: Nein, keineswegs. Ich hatte in Kattowitz lediglich die militärische Postzensur zu organisieren, was ich rasch gemacht habe - innerhalb von einigen Tagen, höchstens einer Woche. Die Angabe, ich sei in Kattowitz mehrere Wochen gewesen, ist falsch. Warum? Vielleicht hat sich eine Sekretärin verschrieben.
DIE WELT: Weshalb haben Sie im MBP so schnell Karriere machen können?
Reich-Ranicki: Was Sie "Karriere" nennen, beschränkt sich auf den Umstand, dass der (übrigens erst im Entstehen begriffene) Auslands-Nachrichtendienst mir den Posten in London anbot. Warum wohl? Weil ich Englisch, Französisch und Deutsch konnte, weil ich über eine gewisse Allgemeinbildung verfügte, weil ich schon im Ausland (zehn Jahre in Berlin) gelebt hatte. Bevor ich nach London ging, musste ich einige Monate im Außenministerium praktizieren und mich im Nachrichtendienst mit der Situation der Polen in Großbritannien und Deutschland beschäftigen. Es stimmt, dass ich für die Übergangszeit, in der es vor allem darum ging, mich für die Londoner Tätigkeit vorzubereiten, den Posten eines stellvertretenden Abteilungsleiters erhielt, nur gab es diese Abteilung praktisch überhaupt noch nicht. Es war alles improvisiert und ziemlich chaotisch.
DIE WELT: Sie wurden in einem Handbuch des MBP zu den wichtigsten 1100 Mitarbeitern des Ministeriums gezählt.
Reich-Ranicki: 1100? Da bin ich aber enttäuscht. Jedenfalls können Sie der überraschend großen Ziffer entnehmen, dass ich eben keineswegs eine sonderlich wichtige Figur war.
DIE WELT: Welche Verbindungen hatten Sie, als Sie in London als Konsul arbeiteten, zu den nach Großbritannien exilierten Polen? Wollte der MBP die Exilanten ausforschen und zur Rückkehr nach Polen bewegen?
Reich-Ranicki: Überhaupt keine. Ich habe mich niemals mit der Rückführung von Polen in ihre Heimat beschäftigt, und es war niemals meine Aufgabe, irgendjemanden zur Rückkehr nach Polen zu überreden.
DIE WELT: Unter Ihrer Leitung wurde eine Kartei mit Informationen über 2000 Exilpolen geführt. Was für eine Kartei war das? Welchem Zweck diente sie?
Reich-Ranicki: In dieser Kartei wurden die in polnischen Zeitungen in England erwähnten Namen erfasst. Es war eine so harmlose wie überflüssige Kartei, die nie benutzt wurde.
DIE WELT: Haben Sie nach Ihrer 1949 bzw. 1950 erfolgten Entlassung aus dem polnischen Außenministerium und dem Sicherheitsministerium irgendwelche Kontakte mit diesen Ministerien oder irgendwelchen Geheimdiensten in Polen gehabt?
Reich-Ranicki: Niemals, nicht die geringsten. Dieser Abschnitt meines Lebens war damals, also vor bald 53 Jahren, endgültig abgeschlossen. Es folgte für mich eine schwere Zeit: Erst war ich zwei Wochen im Gefängnis, in einer Einzelzelle. Später war ich als Literaturkritiker tätig, aber viele Leute hatten Angst vor Kontakten zu mir, denn ich war, da aus der Partei ausgeschlossen, ein verfemter Mensch - und dann wurde noch gegen mich ein Publikationsverbot erlassen. Als ich 1958 Polen in Richtung Bundesrepublik verlassen konnte, war ich glücklich. Das alles habe ich in meinem Buch "Mein Leben" ausführlich beschrieben.
Das Gespräch führte Uwe Wittstock.Was bisher bekannt warDass Marcel Reich-Ranicki Mitglied der Kommunistischen Partei war, für das polnische Ministerium für Öffentliche Sicherheit gearbeitet hat und als Konsul nach London entsandt wurde, ist nicht neu. Das hatte der Kritiker bereits 1994 öffentlich bestätigt. Damals hatte der WDR-Journalist Tilman Jens auf Neuseeland einen ehemaligen polnischen Agenten und Londoner Mitarbeiter Reich-Ranickis ausfindig gemacht, der 1949 zum britischen Geheimdienst übergelaufen und dann in Polen in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war. Der Überläufer hat seine Erlebnisse und auch Reich-Ranicki in einem Buch beschrieben (Krzysztof Starzynski: Doppelagent. Brandenburgisches Verlagshaus, Berlin 1997). Wenig später zitierten Edith Heller im Berliner "Tagesspiegel" und Janusz Tycner in der "Zeit" aus Akten des polnischen Außenministeriums und der ehemaligen KP, die die ersten Berichte bestätigten und weitere Details ergaben. Deutschland erlebte eine heftige Debatte, auch wenn offen blieb, ob Reich-Ranicki überhaupt jemandem konkret geschadet hatte.
In der Folge erklärte sich Reich-Ranicki in "Spiegel"-Interviews, beharrte jedoch darauf: "Ich bereue nichts." Über seinen Einsatz in Oberschlesien sagte er nichts. Der Schriftsteller Andrzej Szczypiorski schrieb in der "Woche", das MBP sei eine "kriminelle Organisation" gewesen. Dazu Reich-Ranicki im "Spiegel": "Diese Bezeichnung trifft alles in allem zu."
In "Mein Leben", seiner 1999 erschienenen Autobiografie, beschreibt Reich-Ranicki seine Arbeit für die Staatssicherheit als harmlos und belanglos, sein Wissen darüber habe er nur aus Romanen bezogen, er habe weder jemandem geschadet noch irgendjemandem genutzt. gna.Weitere Artikel zum Thema
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  Im Mai 1945 waren die Kämpfe noch nicht vorbei
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Der Fall RR.

Die Bilder dazu zeigt man lieber nicht, aus Rücksicht mit dem Angeklagten. Wie sie aus dem 3 Sat Programm kommentierten (T.Jens, dessen Frau eine Jüdin aus polnischer Familie, weiss, wovon gesprochen wird.)

Interessanter noch sind die Berichte aus dem Getto zur Zeit der Gestapo. Als RR zwischen den Fronten arbeitete, heisst es da. Und was heute zu berichten wäre, wenn er sagt, er wolle, dass der eine gelesen würde und der andere nicht, Kritik als konspirative Tat. Der Täter oder wie ein Kritiker zum Mörder wird, in ganz anderen Interessen, Aufträgen, und wessen. Mord an was. Die FAZ jedenfalls berichtet nichts.



DIE WELT
Montag, 12. August 2002     Berlin, 21:47 Uhr
   


DIE WELT
Montag, 12. August 2002     Berlin, 21:50 Uhr
     

Nur eine Facette 
Kommentar

Von Johann Michael Möller
In einer der ergreifendsten Passagen seiner Lebenserinnerungen beschreibt Marcel Reich-Ranicki den Augenblick, als ihn die Nachricht von der deutschen Kapitulation in Warschau erreicht. Keine Freude, kein Glück, sondern Trauer, Wut und Zorn. Er blickt in den unbarmherzig blauen Himmel und sieht eine dunkle, schwere Wolke aufziehen. Er spürt: "Diese Wolke über uns, sie würde sich nie verziehen, sie würde bleiben, unser Leben lang."
Vielleicht wird Reich-Ranicki recht behalten. Ein Leben, eine Biografie in jenen totalitären Tagen wird nie mit ihnen nur durch zufällige Umstände verbunden bleiben, wird immer unentrinnbar affiziert sein, belastet, geformt, bedrückt und zerstört. Das ist die bittere Wahrheit hinter jenem so oft und so leichtfertig verwandten Satz, es gebe kein wahres Leben im falschen. Er meint nie nur die tatsächliche Verstrickung in die Geschichte, für die sich die Historiker interessieren müssen. Er meint auch die einfache Harmlosigkeit des Lebens, die sich in der Rückschau in große Schwere, ja bedrückende Last verwandeln kann.
Es gehört zu den erstaunlichsten Momenten dieser totalitären Epoche, dass sie sich nicht nur in der tagtäglichen Repression, sondern fast unentrinnbarer noch in ihrer nachträglichen Ausdeutung manifestiert, in jener klirrend kalten, menschenfremden Sicht auf das Leben. Doch die Geschichte ist kein englischer Zierrasen, und aus gutem Grund hat sich die bürgerliche Gesellschaft einst unter die Prärogative des Rechts und nicht der Moral gestellt.
Marcel Reich-Ranicki hat nach einer furchtbaren Lebenserfahrung unter grauenhaften Umständen nach dem Glück gesucht. Er hat sich dabei für kurze Zeit sogar mit den Stalinisten eingelassen. Wie tief, das werden die Historiker, vor allem die polnischen zu prüfen haben.
Seine Gegner mögen bei ihm ein Motiv des Rächens oder auch nur der verständlichen Opportunität vermuten. Schwerer wiegt jedoch, wie dieser Mann, der im Namen der deutschen Kultur fast zu Tode getrieben wurde, die Wunden dieser Kultur wieder zu heilen half, sie in einer großen Geste der Versöhnung denen zurück gab, die sich ihrer auf barbarische Weise entäußert hatten. Dabei ist ein Lebenswerk entstanden, das sich in immer mächtigeren Anstrengungen von den Anfangs- und Beweggründen seiner Entstehung zu befreien wusste. Man mag über manche seiner literarischen Urteile streiten; auch darüber, wie er sie mitunter gefällt hat. Aber dass am Ende dieses Lebens ein Werk und eine Biografie steht, die geistig frei geworden ist, die den totalitären Teufelskreis des Jahrhunderts durchbrochen hat, das gehört zu den wirklich großen, zu den bleibenden Leistungen Marcel Reich-Ranickis. Die Stadt Frankfurt am Main dankt ihm das jetzt mit dem Goethe-Preis.
Denn egal, was die Historiker noch herausfinden werden. Es kann höchstens eine Facette dieser Biografie sein und wird nie mehr ihr Ganzes. Und die schwarze Wolke? Auch sie war wohl niemals der ganze Himmel.Weitere Artikel zum Thema

 
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"Kennt die Psyche des Agenten" 
Die polnische Geheimdienst-Karriere Marcel Reich-Ranickis im Spiegel seiner Personalakte
Marcel Reich-Ranicki: "Es wurde damals von den Halbanalphabeten, die in der Personalabteilung arbeiteten, in den Akten viel Unsinn notiert"    Foto: AP
Von Gerhard Gnauck
Von 1944 bis 1950 hat Marcel Reich-Ranicki für das Ministerium für öffentliche Sicherheit gearbeitet. Das berichtet der Literaturkritiker in seiner Autobiografie. Als erste Zeitung erhielt die WELT Einsicht in seine Personalakte
Warschau - Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki war nach dem Zweiten Weltkrieg im kommunistischen Regime in Polen eine wichtigere Figur als bislang bekannt. Das geht aus der Personalakte des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit (MBP) hervor, dessen Mitarbeiter Reich-Ranicki Ende 1944 mit 24 Jahren wurde und mit kurzer Unterbrechung bis zum 28. Januar 1950 war. Sie liegt unter der Nummer IPN 0193/896 im polnischen "Institut des Nationalen Gedenkens (IPN)" in Warschau, der polnischen Entsprechung der Gauck-Behörde. Die WELT erhielt als erste Zeitung Einsicht in das bisher verschlossene Dossier, das jetzt im "Lesesaal für offene Akten" des Instituts an der Warschauer Towarowa-Straße "zu wissenschaftlichen und publizistischen Zwecken" eingesehen werden kann.
Demnach muss Reich-Ranicki die geheimpolizeiliche Arbeit für das neue Regime geradezu mit Leidenschaft betrieben haben und ein hervorragender Agentenführer gewesen sein. In mehreren "Charakteristika" loben verschiedene Vorgesetzte über mehrere Jahre hinweg Intelligenz und Eifer: Er sei "gut in der operativen Arbeit, vernarrt in den Geheimdienst", er "kennt die Psyche des Agenten", auch sei er der Volksrepublik "ergeben, politisch zuverlässig, bewährt". Seine Karriere gebe "Anlass zu großen Hoffnungen". Bescheinigt werden ihm auch "große gesellschaftliche Kontakte in Parteikreisen".
Allerdings werden in manchen Bewertungen die Eigenschaften Arroganz und Opportunismus sowie "intelligenzlerhafte Manieren" getadelt. In der Mehrheit sind die Bewertungen eindeutig positiv. Den gelegentlich fast euphorischen Ton bezeichnen polnische Historiker als ungewöhnlich: Gerade in der Staatssicherheit hätten Vorgesetzte stets äußerst zurückhaltend formuliert, um sich gegen künftige Konkurrenten, aber auch gegen mögliche "Fehlentwicklungen" des Beurteilten abzusichern.
Die jetzt freigegebene Akte umfasst 109 Blatt, zum Teil beidseitig beschrieben, darunter Reich-Ranickis Aufnahmegesuch vom 25. 10. 1944, Verpflichtungs- und Schweigeerklärungen, handschriftlich verfasste Lebensläufe, detaillierte Personalfragebögen, Anträge der Vorgesetzten auf Beförderung, drei Fotos und einige private Briefe. Im Dienst des Ministeriums brachte es Reich-Ranicki schnell zum Rang eines Hauptmanns. Er erhielt drei Auszeichnungen, eine davon, das Silberne Verdienstkreuz, mit der summarischen Begründung "für herausragende Verdienste, Tapferkeit im Kampf mit Diversionsbanden und musterhaften Dienst", wie es in der Begründung heißt. Ein internes MBP-Personalhandbuch, das nach der Wende in Polen nachgedruckt wurde, nennt ihn unter den wichtigsten 1100 Mitarbeitern.
Das Dossier ist eine Personalakte, die die Tätigkeit und Eignung des Mitarbeiters Reich-Ranicki bilanziert. Einzelne "operative Vorgänge" enthält sie daher ebenso wenig wie den Decknamen "Albin", unter dem er nach eigenen Angaben geführt wurde, den er aber, wie Reich-Ranicki sagt, nie benutzt hat. Über die frühe Zeit, in der er in der "Kriegszensur" (Postzensur) tätig war, die dem MBP unterstand, erfahren wir wenig, ebenso über seinen Einsatz im oberschlesischen Kattowitz. Laut MBP-Handbuch war er dort vom 5. 2. bis 25. 3. 1945 Leiter einer "Operationsgruppe", die die Strukturen des Bezirksamts der Staatssicherheit aufbauen sollte.
Danach war er, wiederum bei der Zensur, in Warschau tätig. Nach Auskunft eines handschriftlich verfassten Lebenslaufs leitete Reich-Ranicki dort zeitweise kommissarisch die Abteilung für die Zensur der gesamten Auslandspost. Offenbar aufgrund eines Zerwürfnisses mit der Chefin der Zensurbehörde, Wierblowska, bat er schriftlich um Versetzung und wurde im Auftrag des Amtes, das die Rückführung von geraubten Industrie- und Kulturgütern aus Deutschland nach Polen betrieb, an die polnische Militärmission in Berlin entsandt (Januar bis April 1946).
Nach seiner Rückkehr machte Reich-Ranicki weiter im MBP Karriere. In der Abteilung Nachrichtendienst wurde er binnen weniger Monate dreimal befördert und war schließlich Leiter des Großbritannien-Referats und zugleich kommissarisch stellvertretender Chef der II. ("operativen") Abteilung, die neben Großbritannien für Deutschland, Nordamerika und die Hälfte der übrigen Welt zuständig war.
Anfang 1948 wurde er unter dem polnisch klingenden Namen Ranicki in doppelter Mission nach London geschickt, wo er bis November 1949 blieb. Er war ausgeliehen an das polnische Außenministerium und in London offiziell Vize-Konsul, dann Konsul und zeitweise Leiter des Generalkonsulats, inoffiziell Agentenführer. London war damals aus Warschauer Sicht der brisanteste diplomatische Posten: Die Emigrantenszene um die nichtkommunistische polnische Exilregierung sollte bespitzelt und infiltriert werden, zugleich sollten möglichst viele Emigranten zur Rückkehr nach Polen bewegt werden.
Das Generalkonsulat hat laut eigenen Berichten, die heute im Archiv des Außenministeriums in Warschau liegen, im zweiten Quartal 1949 gerade einmal 75 Pässe ausgestellt. Die Zahl erteilter Visa wird für ein früheres Quartal (1947) mit 90 angegeben. Doch die Emigranten, um die es ging, hatten ohnehin polnische Pässe: Mit ihrer Rückführung war der Konsul, wie er in einem Bericht an Warschau schrieb, "in Zusammenarbeit mit dem Militärattaché und den Behörden im Heimatland" im Detail befasst.
Auch die nichtkonsularischen Aufgaben haben in den Akten Spuren hinterlassen: In einem seiner Briefe an die Zentrale berichtet Konsul Ranicki am 12. August 1948 von "Elementen" unter den Emigranten, die einer "verbrecherischen politischen Tätigkeit" nachgingen. Einer der dem Konsul persönlich zugewiesenen Aufgabenbereiche waren nach einem anderen Dokument ausdrücklich die Angelegenheiten der Exilpolen. Unter seiner Leitung wurde eine Kartei mit Informationen über mehr als 2000 Emigranten geführt.
Nach den Angaben auf dem Laufzettel der Akte haben auch nach Reich-Ranickis Ausreise nach Deutschland 1958 Mitarbeiter der Staatssicherheit immer wieder die Akte angefordert. Zu der 1977 beantragten Vernichtung der Akte kam es jedoch aus unbekannten Gründen nicht.
Die MBP-Akte schildert auch detailliert, wie Reich-Ranicki Ende 1949 für einige Zeit in Ungnade fiel; als Verdachtsmomente genannt (oder vorgeschoben) werden in der Akte immer wieder seine "unklare Rolle im Ghetto" - er war bis 1943 Mitarbeiter der Ghetto-Verwaltung gewesen - und die Erteilung eines polnischen Visums an seinen angeblich "trotzkistischen" Schwager in London. Im Januar 1950 wurde Reich-Ranicki aus Partei und Ministerium ausgeschlossen. Daraufhin erbat und forderte er, wie aus seiner inzwischen im Warschauer "Archiv für neue Akten" ebenfalls zugänglichen Parteiakte hervorgeht, mehrfach seine Wiederaufnahme. Laut Akte wurde er 1957 abermals in die Partei aufgenommen; den Brief habe er nie erhalten, sagt Reich-Ranicki.
Aus der Personalakte
Auf dem "Fragebogen für Mitarbeiter des Ressorts für Öffentliche Sicherheit" macht Marcel Reich-Ranicki unter anderem folgende Angaben zur Person: "Beruf: Büroangestellter; Besitzstand: keiner; Volkszugehörigkeit: polnisch; Konfession: mosaisch; Staatsbürgerschaft: polnisch; Ausbildung: Abitur, Gymnasium in Berlin; Fremdsprachenkenntnisse: Deutsch, Englisch, Französisch; Familienstand: verheiratet; Name und Vorname der Frau: Teofila Langnas". Auf die Frage nach dem Wohnort der Eltern, die dem Holocaust zum Opfer gefallen waren, antwortet er: "leben nicht mehr". Weitere Artikel zum Thema
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erschienen am: 12. 08. 2002
Channel: Feuilleton
Bereich: Feuilleton
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Reich-Ranickis Geheimdienst-Karriere:
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