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Unser Körper zwischen Lust und Scham
Die nackte Wahrheit
Gastkommentar von Konrad Paul Liessmann 2.8.2016, 05:30 Uhr
Auch wenn er in der Werbung und im Film, am Strand und im Internet allgegenwärtig ist, bleibt der unbekleidete menschliche Körper eine Provokation. Warum ist das so – und muss das so sein?

 

 

 

(Illustration: Peter Gut)

Im Paradies, wir erinnern uns, waren die Menschen nackt, und sie schämten sich nicht. Erst nach dem Sündenfall, erst nachdem sie sich, verführt von der Schlange, dazu hatten hinreissen lassen, vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu essen, sahen sie, dass sie nackt waren, und sie bedeckten ihre Blösse. An dieser Geste aber erkannte Gott, dass seine Geschöpfe sein Gebot übertreten hatten. Nur jemand, der das Gute von dem Bösen zu unterscheiden weiss, schämt sich seiner Nacktheit. Aber warum eigentlich? Ist das Böse nackt oder das Nackte böse?

Die biblische Geschichte, auch wenn sie uns im Wortlaut nicht mehr präsent sein mag, prägt unser Verhältnis zur Nacktheit noch immer. Gilt den einen die zur Schau gestellte Nacktheit noch immer als Ausdruck jener Sündhaftigkeit, die uns das Paradies kostete, sehen die anderen in einem natürlichen und unverkrampften Verhältnis zur Nacktheit die Wiedergewinnung eines paradiesischen Zustandes, wenn nicht im Garten Eden, dann wenigstens im Englischen Garten.

Bis zum Überdruss?

Jenseits solcher Zuschreibungen bleibt Nacktheit, also der entblösste oder teilentblösste Körper, einer der stärksten Reize in einer reizüberfluteten Welt, und nicht einmal die inflationäre Präsentation nackter Haut in der Werbung und im Film, an den Stränden und im Internet, im Theater und im Kunstbetrieb vermochte daran etwas zu ändern. Worin besteht eigentlich die ungebrochene Faszination der Nacktheit in einer liberalen Gesellschaft, die schon längst und bis zum Überdruss alles gezeigt hat, was es zu zeigen gibt?

Nacktheit, und darauf verweist die biblische Geschichte, rührt an ein zentrales Motiv menschlichen Selbstverständnisses: an das Verhältnis zur Natur. Der nackte Körper ist der natürliche Körper, was an diesem zu sehen ist, ist der Mensch im Zustand seiner Tierheit. Es waren nicht die schlechtesten Exegeten, die wie etwa G. W. F. Hegel in der Vertreibung aus dem Paradies den Austritt des Menschen aus einer natürlichen Unmittelbarkeit und seinen Eintritt in das Reich der Kultur, der Vernunft, der Technik und der Zivilisation gesehen haben. Menschsein heisst, seine Natur zu umhüllen, seine Blössen zu bedecken, seine unbehaarte Haut zu schützen, seiner Tierheit Einhalt zu gebieten.

Es kann aber mit Mode auch eine Sinnlichkeit vorgetäuscht werden, die in Wahrheit nicht hält, was die Kleidung verspricht.

Deshalb ist der Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Körperscham von den Autoren der Genesis richtig gesehen worden: Nur ein Wesen, das in seinem Bewusstsein über die natürlichen Bedingungen seines Daseins schon hinaus ist, kann, ja muss sich dieser Natur schämen. Der nackte Körper wird so bis auf weiteres die Unzugänglichkeit einer Natur repräsentieren, der man ausgeliefert ist, aber nicht mehr ausgeliefert sein will – wenigstens nicht immer.

Nacktheit wird – und das begründet ihr Faszinosum – in jene Bereiche verbannt, in denen der Animalität noch Raum gegeben werden kann: im Privaten und im Intimen. Nacktheit ist deshalb in hohem Masse mit dem Erotischen und Sexuellen assoziiert, zu sehen, dass man nackt ist, bedeutet zu erkennen, dass man von einer Physis, einem Trieb, einem Begehren dominiert wird, das sich aller rationalen Kontrolle, aller zivilisatorischen Mässigung entzieht. Sich seiner Geschlechtswerkzeuge zu schämen, bedeutet nicht, wie weniger intelligente Leser der Genesis glaubten, im Sex die Inkarnation der Sünde zu sehen, sondern das Eingeständnis, im eigenen Körper, allen Anstrengungen zum Trotz, letztlich etwas Unverfügbares vorzufinden. In der Regel ist es besser, dieses vor fremden Blicken zu verbergen.

Faszinosum und Skandal

 

Nacktheit ist nicht gleich Nacktheit. Der entkleidete Oberkörper eines Landarbeiters sendet eine andere Botschaft aus als der entblösste Busen einer jungen Frau an einem Badestrand. Das Faszinosum und der Skandal von Nacktheit sind an ihre Bedeutung für intime Körperfunktionen gekoppelt. Funktionale Nacktheit am richtigen Ort ist unproblematisch, nackte Beine oder Oberarme stören höchstens, wenn dadurch eine Etikette verletzt wird.

Der Mann in Shorts ist in der Oper fehl am Platz, im Grünen kann man darüber hinwegsehen. Es ist die angedeutete oder demonstrierte Entblössung vor allem jener Körperteile, die das Begehren und den Sex symbolisieren, die in der Öffentlichkeit das zweideutige Interesse an der Nacktheit generieren. Und dies nicht nur, weil der öffentliche Raum nicht der richtige Ort für intime Signale ist, sondern vor allem, weil das Erotische selbst der vollkommenen Entblössung gegenüber höchst ambivalent ist.

Die ganz nackte Wahrheit steht immer auch für eine Erkenntnis, die man sich unter Umständen lieber erspart hätte.

Das Erotische lebt von einer Gestik des Entblössens, die weiss, dass das Wechselspiel von Enthüllen und Verhüllen nicht nur in einem faktischen Sinn das Begehren strukturiert, sondern dem Eros auch seine philosophische Dignität gibt. Denn immerhin dachte sich das Abendland die Wahrheit als ein Weib, das seiner Enthüllung harrt, ohne sich den lüsternen Blicken des Erkenntnissuchenden je vollständig preiszugeben. Die ganz nackte Wahrheit steht deshalb auch immer für eine Erkenntnis, die man sich unter Umständen lieber erspart hätte. Die Wahrheit, so notierte es sich einmal Friedrich Nietzsche, ist hässlich; aber wir haben die Kunst, damit wir an dieser Wahrheit nicht zugrunde gehen. Und genau aus diesem Grund verhüllen wir auch – mehr oder weniger ambitioniert – unsere Körper.

 

 

Im Spiel von Sein und Schein nimmt deshalb die Ästhetik des Verhüllens eine zentrale Rolle ein. Wohl kann manche Mode – man denke an das Décolleté oder die Schamkapseln der Renaissance – die sexuellen Signale des Körpers unterstreichen, gleichzeitig kann damit aber auch eine Sinnlichkeit vorgetäuscht werden, die in Wahrheit nicht hält, was die Kleidung verspricht.

Vor solchen Enttäuschungen bewahrt eine Verhüllung des Körpers, die überhaupt keine Rückschlüsse auf Konturen, Geschlechtsmerkmale oder gar nackte Haut mehr zulässt. Nicht nur Prüderie und ein überhöhtes Schamgefühl, auch die Bewahrung des Körpers als eines Geheimnisses, dessen Entbergung fast niemandem zusteht, mag so manche Religionen zu strikten Verhüllungsordnungen geführt haben – und das gilt für die Kutte des Mönchs ebenso wie für die Burka der muslimischen Frau.

Zufällig oder gezielt

Das Erotische selbst ist in hohem Masse ein Spiel mit dem Verbergen und Entbergen von Wahrheiten, und das zufällig oder gezielt dem Blick preisgegebene kleine Stück nackter Haut, das mehr ahnen als sehen liess, galt lange als das sinnfälligste Moment in der Dynamik erotischer Begegnungen. Nirgendwo wird die Krise des Eros deshalb deutlicher als in der Dominanz von purer und unverblümt zur Schau gestellter Nacktheit.

Kulturen der Nacktheit sind Kulturen ohne Erotik. Wer vor einer ersten Begegnung schon eine Nacktfoto des Begehrten auf seinem Smartphone vorfindet, dem bleibt in der Tat nurmehr wenig zu tun. In der engen Koppelung unverblümt demonstrierter Nacktheit mit dem sexuellen Begehren verschwinden alle Zwischentöne, die das Erotische einmal gekennzeichnet, aber auch gefährlich, weil mehrdeutig gemacht haben. Die Nacktheit suggeriert jene Eindeutigkeit, nach der sich unsere Gegenwart, die es verlernt hat, mit Mehrdeutigkeiten umzugehen, verzehrt.

Nirgendwo wird die Krise des Eros deshalb deutlicher als in der Dominanz von purer und unverblümt zur Schau gestellter Nacktheit.

Aber auch die nur scheinbar aufgeklärte Geste, die Nacktheit zu einem unproblematischen Zustand der Natürlichkeit erklärt und offen propagiert, streicht den Körper als mögliches Objekt des Begehrens durch. Die Freikörperkulturen des frühen 20. Jahrhunderts und die davon abgeleitete durchaus prüde FKK-Ästhetik zeugen davon. Wohl lässt man alle Hüllen fallen, aber gleichzeitig wird mehr als deutlich, dass der nackte, vom Tageslicht ausgeleuchtete Körper kein erotischer Stimulus mehr sein kann und sein darf.

Für diese Situationen entsexualisierter Nacktheit – ein anders Beispiel wären die unbekleideten, schwitzenden Leiber in einer Sauna – gilt deshalb auch ein strenges Regime des gezähmten Blicks. An einem Strand bestünde zwischen dem mit einem Burkini ganz verhüllten und dem ganz entkleideten Körper– so paradox es klingen mag – kein Unterschied: Beide sind dem erotischen Blick entzogen.

Öffentliche Versammlungen von Nacktheit offenbaren darüber hinaus ein unangenehmes Geheimnis: Der durchschnittliche nackte menschliche Körper ist nämlich eher unansehnlich. Ihn vor den Blicken der anderen zu verbergen, kann auch als Gebot der Höflichkeit und Rücksichtnahme gewertet werden. Vielleicht sahen Adam und Eva nach dem Biss in den Apfel vom Baum der Erkenntnis nicht nur, dass sie nackt waren; vielleicht sahen sie auch, dass sie eigentlich hässlich waren. Die Provokation des unbekleideten menschlichen Körpers besteht darin, dass wir diesen nur dort wirklich sehen und geniessen können, wo er durch seine Schönheit über die Wahrheit seiner Nacktheit hinwegzutrösten vermag. Solches Glück wird uns aber wohl nur selten zuteil.

Konrad Paul Liessmann ist Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Zuletzt erschien im Zsolnay-Verlag 2015 der Band «Geisterstunde – Die Praxis der Unbildung».