8. Mrz. 2014, 16:53
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Meinung 07.03.14Fall Lewitscharoff
Wer ist noch empörter?
Die aktuelle Debatte um Sibylle Lewitscharoff zeigt: Die Gesellschaft wird freier, aber die Intoleranz in Medien und sozialen Netzwerken gegen jede Form von Irrsinn und Idiosynkrasie wächst. Von Ulf Poschardt

Foto: picture alliance / dpa
Sibylle Lewitscharoff
Auch der Irre hat das Recht, zu sprechen. Wo, wenn nicht in der Kunst dürfen, sollen und können Dinge formuliert werden, die den gängigen Denk- und Haltungsroutinen des Gesellschaftsmainstreams zuwiderlaufen. Unsere sehr freie, weitgehend liberale und durchweg pluralistische Gesellschaft zeigt im Augenblick Ermüdungserscheinungen bei Toleranz von Meinungen, die Zumutungen sind.

Jüngstes Beispiel sind die auch in ihrer argumentativen Verdrehtheit ultraschrägen Bemerkungen einer hochdekorierten Schriftstellerin. Literatur und ihre Produzenten müssen ihre Idiosynkrasien, ja auch ihre Wahnvorstellungen, Ängste und Schreckensvisionen artikulieren können dürfen, ohne damit rechnen zu müssen, mit Empörungstreibjagden entwertet, gedemütigt und mundtot gemacht zu werden. Selbstverständlich gibt es gute Gründe, auch einen populistischen Schreihals wie Thilo Sarrazin (Link: http://www.thilosarrazin.com/) bei einer Veranstaltung zu ärgern, aber die jakobinische Galligkeit jüngst gegen Sibylle Lewitscharoff (Link: http://www.suhrkamp.de/autoren/sibylle_lewitscharoff_7665.html) , der dahinter schimmernde Intoleranzismus, hat eine klerikale Facette erhalten, die zunehmend enthemmt eine Diktatur des Mainstreams für sich entwirft. Tabus, Sprechverbote, Denksperrgebiete entstehen und werden abgezäunt.

Die Bataillone der Selbstgerechten haben die sozialen Netzwerke als ihre ersten Aufmarschplätze für sich annektiert, die Hohepriester der Diskursverwaltung setzen sich dann auf die Empörungswelle und surfen sie in ihrem Medium bis zum gutmenschlichen Strand, wo sie sich dann wieder alle in den Armen liegen und gemeinsam beschwören, wie wahr, gut und schön sie sind.

Unter Dunkeldeutschverdacht

Georg Diez fabuliert in seiner exemplarisch hochmoralischen Kolumne (Link: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/lewitscharoff-kolumne-zur-skandal-rede-der-buechner-preistraegerin-a-957342.html) von einer "gefährlichen Diskursverschiebung" in Richtung Antimoderne und Antiaufklärung, die linke Wochenzeitung "Der Freitag" stellt alle jene Denker und Publizisten unter Dunkeldeutschverdacht, die den Schmalspursozialismus eines Teils der Meinungseliten nicht teilen. Überall herrschen rhetorische Standgerichte, Instantverurteilungen, sprachliche Brutalität ohne ironisches Flackern.

Das neue, hinter diesen Standgerichten aufgebaute Gesellschaftsideal ist eines der Reinheit und Ungebrochenheit. Das Antimoderne und Antiaufklärerische wäre dann vernichtet oder diskursiv eliminiert, und es würde nur noch anständiges Zeug geschrieben, gedacht, formuliert. Als hätte es Michel Foucaults (Link: http://www.michel-foucault.com/) "Wahnsinn und Gesellschaft" nie gegeben, wird das "andere" ausgesondert. Bescheuerte Positionen, und davon gibt es in dieser Welt und manchmal auch in unserer "Welt" ein paar, werden als das "andere der moralischen Vernunft" ausgegrenzt und zum Schweigen gebracht. Dies geschieht gerade mit maximaler Repressionsneigung.

Die meisten Moralprediger und Hohepriester dieser Ausgrenzungssäuberungen sind zage Philister, deren innere Unsicherheit vor allem durch starke Feindbilder stabilisiert werden muss. Dies gilt natürlich auch für die Kreuzzügler gegen den "Tugendterror", die ebenfalls ihre Identität ex negativo festlegen.

Als Maxim Biller (Link: http://www.kiwi-verlag.de/autor/maxim-biller/229/) in der ihm eigenen charmanten Art außer seiner eigenen Sprechposition kaum migrantische Dissidenzen von Rang in der zeitgenössischen Literatur antreffen wollte, machte er natürlich einen Punkt, weil er das multikulturelle Selbstverständnis des Literaturbetriebs in höchste Nervosität versetzte. Er tat dies wie immer auf seine, deutscheste der deutschen Art penibel und rechthaberisch.

Weitreichende Ödnis der Gegenwartsliteratur

Interessanter jedoch als die Herkunftsfrage erscheint die Haltungsfrage der Gegenwartsliteratur, deren Opportunismus sich längst nicht mehr durch Integration und Assimilation erklären lässt. Die weitreichende Ödnis der Gegenwartsliteratur (im Vergleich zu Fernsehserien, Kinofilmen, Frank Ocean) hat mit dem vorauseilenden Gehorsam der Dichter gegenüber dem Tugendrat zu tun. Der Umgang mit Unangepassten zeigt, so im Fall Christian Kracht (Link: http://www.christiankracht.com/) , wie engherzig und kleinkariert die Literaturreflexion geworden ist.

Es ist gerade eine unschöne Melodie in den öffentlichen Debatten entstanden, geht es nun um Homosexualität, Putin oder eine Redenminiatur in irgendeinem Dresdner Theaterhinterzimmer. Die Schriftstellerin hat sich schon untertänigst für ihren Schmarrn (wie kann man das liebste Hobby aller Intellektuellen, die Onanie, angreifen) entschuldigt, und in den Bücherstuben und bei den Intendanten des neudeutschen Pietismus, ob sie nun mit rotem Irokesen oder nur in der szenevierteligen Verklemmtheitsuniform der Boheme daherkommen, wird aufgeatmet. Der Untergang des Humanismus ist wieder heroisch verhindert worden.

Als Kind von 68er-Eltern hatte man das Glück, mit jeder Art ideologischen Irrsinn aufzuwachsen, unhaltbaren Idealen, absurden Gesellschaftsvorstellungen, hysterischen Werten, peinlichen Helden (Che, Mao). Auch wenn man dem Irrsinn den Rücken kehrt, war diese Aufladung mit Irrsinn doch Inspiration und Kraft. Sollten wir wirklich so unsicher sein über die Substanz unseres zivilisatorischen Humus, dass wir ihn in jedem Augenblick vor der Totalvernichtung in Schutz nehmen müssen?