Welt am Sonntag 28.04.13
Arien für Arier
Die Nation berauscht sich am Wagner-Jahr. Und stilisiert einen der einflussreichsten deutschen Antisemiten nebenbei zum Kämpfer für Freiheit und Menschenrechte. Ein Ausnüchterungsversuch. Von Matthias Küntzel

WELT AM SONNTAG
Dieser Artikel erschien in der Zeitung

Dass man sich in Deutschland über Wagner betrügt, befremdet mich nicht", notierte Friedrich Nietzsche vor 125 Jahren. "Die Deutschen haben sich einen Wagner zurechtgemacht, den sie verehren können: … sie sind damit dankbar, dass sie missverstehn". Selten war Nietzsches Beobachtung so zutreffend wie heute, im "Richard- Wagner-Jahr 2013".


Am 22. Mai, dem 200. Geburtstag des Komponisten, möchte man einen der wirkungsmächtigsten Antisemiten des 19. Jahrhunderts mit Sonderbriefmarken, Zehn-Euro-Münzen, Denkmalenthüllungen und Festveranstaltungen ehren. Die meisten Wagner-Verehrer ignorieren seinen Judenhass, weil sie ihr Bild vom Genie nicht beschmutzen und ihr heiliges Wagner Unser nicht infrage stellen wollen. Sie schwören auf "die Droge Wagner" und folgen allzu gern der Empfehlung des Politikwissenschaftlers Udo Bermbach, Wagner "nur als Künstler (zu) nehmen" und "seine Weltanschauung in die Versenkung (zu) bringen".

Wenn die Judenfeindschaft des "Meisters" doch einmal zur Sprache kommt, wird sie als Marotte behandelt, die ein bisschen peinlich und merkwürdig, aber durchaus nicht ernst zu nehmen sei, beruhe sie doch darauf, dass – so "Wagner- Experte" Joachim Köhler – "zwei Konkurrenten erfolgreicher waren als er. Wagner wollte sich an den beiden rächen." In Wirklichkeit – daran lässt die Antisemitismusforschung keinen Zweifel – bildeten die Schriften Richard Wagners das Scharnier, das die christliche Judenfeindschaft der Vergangenheit mit dem rassistischen Antisemitismus der Zukunft verband.

Wagner war eben nicht nur Komponist, sondern auch ein Schriftsteller, der zehn Bände mit Aufsätzen über Kunst, Politik, Religion und Gesellschaft hinterließ. Er verstand sich als Revolutionär, der ein neues musikalisches Universum schuf, um es in den Dienst seiner Erneuerungsidee zu stellen, einer Idee, die für Juden nur eine einzige Perspektive versprach: den Untergang.

Wagners Antisemitismus hob sich von den damals gängigen Vorurteilen deutlich ab, waren doch die Juden zwischen 1850 und 1870 in Deutschland emanzipiert und relativ akzeptiert. Als Wagner 1869 die Neuauflage seiner 1850 anonym publizierten Schrift "Das Judenthum in der Musik" herausbrachte, provozierte dies 170 veröffentlichte Proteste und Angriffe; in mehreren Städten pfiff man Aufführungen der "Meistersinger" wegen ihrer judenfeindlichen Anspielungen aus. Doch Wagner ließ nicht locker.

Er war es, der den bösartigen Begriff von der "Verjudung" erfand – ein Wort mit Folgen, das sich wie ein Giftpfeil in das Bewusstsein seiner Zeitgenossen bohrte und dort ein Bedrohungsgefühl entfaltete, das es vorher so nicht gab. Wagners Judenfeindschaft war revolutionär. Sein revoltierender Geist und sein antisemitisches Ressentiment standen nicht im Widerspruch, wie es Wagner- Apologeten gern behaupten, sondern gehörten zusammen. "Der Jude", schrieb Wagner 1850, "herrscht und wird so lange herrschen, als das Geld die Macht bleibt, vor welcher all unser Tun und Treiben seine Kraft verliert." Folgerichtig sah er im "Untergang" der Juden das Mittel, die "deutsche" Kunst von Geldherrschaft und Egoismus zu befreien.

Seine Judenfeindschaft war brutal: 1869 schlug Wagner einer konsternierten Öffentlichkeit die "gewaltsame Auswerfung des zersetzenden fremden Elements" vor. Er freute sich, als er von den antijüdischen Pogromen in Russland erfuhr, und äußerte "in heftigem Scherz" – so der Tagebucheintrag seiner Frau Cosima – den Wunsch, "es sollten alle Juden bei einer Aufführung des ,Nathan' verbrennen". Und seine Judenfeindschaft war rassistisch: Der geniale Komponist bestand auf naturgegebenen Unterschieden zwischen Nichtjuden und Juden, die er mit "Würmern", "Ratten", "Mäusen", "Warzen" oder "Trichinen" verglich. 1881 schrieb er König Ludwig II., "dass ich die jüdische Race für den geborenen Feind der reinen Menschheit und alles Edlen in ihr halte".

Vom Schriftsteller Arthur de Gobineau, der 1881 in Bayreuth weilte, übernahm Wagner zusätzlich das Phantasma von der arischen Rasse. Im selben Jahr notierte Wagner die Erkenntnis, "dass das menschliche Geschlecht aus unausgleichbar ungleichen Rassen besteht und dass die edelste derselben die unedleren wohl beherrschen, durch Vermischung sie aber sich nicht gleich, sondern sich selbst nur unedler machen konnte". Er griff damit den Nürnberger Gesetzen "zur Reinhaltung des deutschen Blutes" vor, die Adolf Hitler 1935 in der Stadt der "Meistersinger" verabschieden ließ.

Richard Wagner gelang es wie kaum einem zweiten, diesen Rassismus und die fundamentale Entgegensetzung von "deutsch" und "jüdisch" im Bildungsbürgertum zu verankern. Er galt auch deshalb als einer der Gründungsväter der antisemitischen Parteien, die 1879 im Deutschen Reich an Boden gewannen, und rühmte sich dieser Rolle noch zu Lebzeiten mit Stolz.

Es war dieser Antisemitismus, der Siegfried Wagner und Houston Stewart Chamberlain, den Sohn und den Schwiegersohn des Komponisten, 1923 dazu brachte, in Hitler den Retter Deutschlands zu sehen. Im Hass auf alles Jüdische sah sich die Wagner-Familie veranlasst, die Bayreuther Festspiele bis 1944 als Hitler-Festspiele zu zelebrieren, und im Gegenzug verwandelte der "Führer" Deutschland in eine Wagner-Oper – von der wundersamen Ankunft des "Lohengrin" über den entschlossenen Griff zum Siegfried-Schwert bis zur "Feuerkur" der Götterdämmerung.

Gewiss, Richard Wagner hinterließ unterschiedliche Spuren. Seine Musik war revolutionär und hat Komponisten wie Mahler, Schönberg oder Schostakowitsch inspiriert. Was aber sagt es über uns selbst, wenn wir jene eine Spur, die Richard Wagner und den Holocaust verbindet, mit Sondermünzen und Sonderbriefmarken überkleistern?

Wie sich die Deutschen ihren Wagner zurechtmachen, zeigt beispielhaft die Sendereihe über Wagners "Ring des Nibelungen", deren letzter Teil am Samstag im öffentlichen Fernsehen auf 3sat lief. "Wagner ist konstruktiv", erläutert hier der Pianist Stefan Mickisch und verweist als Beleg auf den Dur-Akkord am Ende der "Walküre". "Wagner gibt Lösungen, gibt Antworten. Er will eine Verbesserung haben. … Wagner gibt uns Hoffnung." Der Politikwissenschaftler Udo Bermbach präsentiert den Antisemiten als "radikalen Aufklärer" und Vorkämpfer für "Selbstbestimmung, Freiheit, Emanzipation". Er erklärt den erzreaktionären Chauvinisten gar zu "einem der ersten Feministen". Der Schriftsteller Friedrich Dieckmann schließlich stilisiert Wagners "Walkürenritt" – ein martialisches Musikstück, mit dem die Nazis in den NS-Wochenschauen ihre Luftangriffe zu untermalen pflegten – zur "Antikriegs-Musik": "Dahinter steckt ein Friedenskonzept."

Der wagnersche Antisemitismus springt aber gerade bei diesem Nibelungen- Zyklus ins Auge und ins Ohr. "Der Gold raffende, unsichtbar-anonyme, ausbeutende Alberich, der achselzuckende, geschwätzige, von Selbstlob und Tücke überfließende Mime – all die Zurückgewiesenen in Wagners Werk sind Judenkarikaturen", sagt Theodor W. Adorno. Gleichzeitig, so schreibt Paul Lawrence Rose in seinem Buch "Richard Wagner und der Antisemitismus", gemahnen die habgierigen Nibelungenbrüder "allein schon durch die Art ihres Gesangs an das…, was Wagner im ,Judenthum in der Musik' ,die semitische Aussprechweise' genannt und als ,zischenden, schrillenden, summsenden und murksenden Lautausdruck' beschrieben hat". Die 3sat-Sendereihe hat jedweden Hinweis auf die antijüdische Dimension des "Rings" verbannt. Das ist wissenschaftlich und moralisch fragwürdig.

Hermetisch koppelt sich der nationale Diskurs von der internationalen Diskussion ab, die weitaus genauer und differenzierter geführt wird. International renommierte Wagner-Forscher wie Marc A. Weiner, Paul Lawrence Rose, Barry Millington und Saul Friedländer, aber auch deutsche Wagner-Kritiker wie Hartmut Zelinsky, Ulrich Drüner, Annette Hein, Gottfried Wagner und Jens Malte Fischer kommen in den Medien und auf den wissenschaftlichen Konferenzen dieses Wagner-Jahres kaum vor. Gottfried Wagner, Urenkel von Richard und Sohn des früheren Festspielleiters Wolfgang Wagner, hat in seinem neuen Buch "Richard Wagner – Ein Minenfeld" glücklicherweise einen Kontrapunkt gesetzt und den ebenso geist- wie gedankenlosen Kult des "Richard-Wagner-Jahres 2013" seziert: "Statt die Realität zur Kenntnis zu nehmen, verschanzt man sich hinter Wagners Musik und verleugnet ihren ideologischen, menschenverachtenden Kontext."

Mit dieser Davon-wollen-wir-jetztendlich- nichts-mehr-wissen-Haltung knüpfen die Wagner-Verehrer an die jahrzehntealte Praxis der Verdrängung in Bayreuth an. Hier hatte man schon 1946 die Chance verpasst, mit der Nazi-Vergangenheit des Hauses Wahnfried aufzuräumen. Damals wollten die US-amerikanischen Besatzungskräfte die einzige Hitler-Gegnerin der Wagnerfamilie – Wagner-Enkelin Friedelind – zur Leiterin der Festspiele machen. Statt Friedelind nahmen die langjährigen Hitler-Protegés Wieland und Wolfgang das Heft in die Hand, um Wagners Weltanschauung und die seiner Nachkommen "in die Versenkung (zu) bringen". So baten sie 1951 bei der Neueröffnung der Festspiele per Aushang, von "Debatten politischer Art auf dem Festspielhügel freundlichst absehen zu wollen".

Eine zweite Chance, über die Gottfried Wagners neues Buch berichtet, wurde 1975 vertan. Damals provozierte Richards Schwiegertochter Winifred Wagner einen Skandal, als sie in einem Interview Adolf Hitler anpries und ihre jahrzehntelange Freundschaft mit ihm verteidigte. Dies löste auch innerhalb der Wagner-Familie Auseinandersetzungen aus. Doch war man sich "in einem Punkt einig: dass die belastenden Dokumente aus der Nazizeit dem Image der Familie schadeten. Noch im selben Sommer schaffte die Wagner-Urenkelin Amélie Lafferentz-Hohmann … den Großteil der brisanten Dokumente aus dem Haus und brachte sie", um sie dem Zugriff der Öffentlichkeit zu entziehen, "in ihre Wohnung nach München."

2008 bot der Rücktritt des Festspielleiters Wolfgang Wagner wieder die Chance einer Erneuerung. Mit der Bewerbung von Nike Wagner und Gerard Mortier lag diese Option auf dem Tisch. Doch erneut wurde mit Ernennung der Töchter Wolfgang Wagners zu dessen Nachfolgerinnen die konservative Lösung gewählt. Dass der Öffentlichkeit zentrale Quellen zum Thema "Bayreuth und Nationalsozialismus" bis heute vorenthalten werden – darunter möglicherweise ein Briefwechsel, den Hitler mit Winifred, Wieland und Wolfgang geführt haben soll –, ist skandalös.

Dabei steht der musikhistorische Rang der wagnerschen Bühnenwerke ohnehin außer Frage! Auch wenn man Antisemitismus in seinen Werken erkennt, lassen diese sich genießen – reflektiert genießen. Zurzeit aber wird die Frage, wie die Judenfeindschaft des Komponisten die Musik und die Figuren seiner Opern prägt, nicht einmal gestellt. Im Wagner-Jahr 2013 ist die intellektuelle Rezeption seiner Werke durch das Konzept Droge ersetzt. Wagner selbst hat dies so gewollt. Er wollte mit seiner Musik, wie er schrieb, "alles hinweg(schwemmen), was zum Wahn der Persönlichkeit gehört, und nur den wunderbar erhabenen Seufzer des Ohnmachtsbekenntnisses" übrig lassen.

Friedrich Nietzsche aber gab sich damit nur vorübergehend zufrieden. "Solange man noch kindlich ist und Wagnerianer dazu, hält man Wagner … für einen Großgrundbesitzer im Reich des Klangs. … Doch schon im Sommer 1876 … nahm ich bei mir von Wagner Abschied. … Seitdem Wagner in Deutschland war, kondeszendierte er Schritt für Schritt zu allem, was ich verachte – selbst zum Antisemitismus. Es war in der Tat damals höchste Zeit, Abschied zu nehmen."

Matthias Küntzel ist Politikwissenschaftler und Musikliebhaber. Er hat mehrere Bücher über Antisemitismus veröffentlicht. 2011 zeichnete ihn die Anti-Defamation League mit dem Ehrlich-Schwerin-Menschenrechtspreis aus.

die besonderen Hinweise auf Gottfried Wagner und H. Zelinsky als Quellen und im Gebrauch der Zitate kann uns misstrauisch machen, auch im Gebrauch der Zitate.

Hier ist die Gegenwelt der Musik am Werke.

Das Warum bestehen, das Eine und das Andere ertragen, den Mythos RW aushalten heisst uns selbst. Von Brecht bis Picasso... heisst erhalten. nicht vernichten, verbrennen, Auslöschungstendenz ennachgebend.