Samstag, 6.7.2013. Ein heißer Tag. Fahrt mit Susanne nach Güstrow, via Pölchow und Mistorf. Der Bahnhof Mistorf, quasi der Scheitelpunkt an der Strecke Rostock–Güstrow, steht zum Verkauf. Besuch der Ausstellung „Partnerschaften“ (Ursula Strozynski und Rainer Ahrendt, Günter Kaden und Sabine Naumann) in der Wollhalle. Herausragend die „Grafische Fotografie“ von Rainer Ahrendt: die Architekturaufnahmen: Treppen, Schatten, Diagonalen; das Kurhaus in Warnemünde (im Bauhausstil); der Schonstein mit Mauer im Prenzlauer Berg (Berlin, Greifenhagener Straße, 80er Jahre); die Friedhofsmauer in Lissabon; die verwahrlosten Giebel und Dächer in der DDR der 80er Jahre. Bildhauer Günter Kaden macht teils recht hübsche Plastiken, teils etwas sehr kunstgewerblich.
Weiter zur Kreisvolkshochschule, wo wir die „Fotografien“-Ausstellung von Hans Pölkow besuchen. Der Künstler, Jahrgang 1935, erläutert seine Motive aus sechs Jahrzehnten. Er hat sich vor allem der Musik und ihren Protagonisten verschrieben: Gilbert Bécaud, Udo Jürgens; Hans Jürgen Syberberg und Vladimir Malakhov; Tilo Medek und Giuseppe Sinopoli… Andere Aufnahmen zeigen bildende und darstellende Künstler: Wieland Förster und Rolf Kuhrt, Lothar Reher und Gabriele Mucchi, Josef Bierbichler und Fritzi Haberland. Christos „Reichstag“ bezeichnet Pölkow als „eines der größten und transzendentesten Kunstwerke, die ich kennengelernt habe“: Es ist „wie ein riesiges Orgelwerk, es klingt – ein Klangzauber.“ Mit einem „Wols“ (Alfred Otto Wolfgang Schulze) lässt sich seine „Farbfotografie am Wegesrand“ vergleichen. Sein Porträt Walter Kempowskis (2005) schmückt unseren Sammelband bei de Gruyter. Pölkows Vorbild ist Yousuf Karsh: „Der hat es verstanden, jmd. sein Attribut wegzunehmen und ihn dann abzulichten: Armstrong ohne Trompete, Churchill ohne Zigarre…“
Eine weitere „Obsession“ HPs sind gestürzte Bäume. Dann ein Hühnengrab, ein Erntebild. Frühe Fotos (Lichtenhäger Mühlen, 1956) führen in die Zeit, als Agitprop-Kolonnen der FDJ versuchten, die Bauern in die LPGs zu treiben. Ferner (halb) private Fotos: Marie, die Enkelin von Gerhard Marcks (50er Jahre); Pölkows Schwester Erika (1960); erotisch-laszive Aufnahmen; Aktaufnahmen.
Anschl. Fahrt mit Hans Pölkow nach Sarmstorf, wo er mit seiner Schwester (einer Töpferin) einen alten Hof bewohnt; Schwester und Neffe leben jedoch überwiegend in Berlin. Lebt die Schwester überhaupt noch?, fragen wir uns anschließend. Er erzählt von ihr, als sei sie noch da oder nicht mehr da. Oder gab es eine zweite Schwester? Denn er erzählt von ihrem Begräbnis; hundertzwanzig Trauergäste bei der Urnenbestattung (das ganze Dorf war an dem einzigen schönen Frühlingstag im April auf den Beinen), achtzig Gäste anschließend auf dem Hof, der seitlich von einer eindrucksvollen, reetgedeckten Scheune im Fachwerk begrenzt wird: „Meine Schwester war zu egozentrisch, um durchgehend klug zu sein.“
Wir sitzen im Garten und genießen die untergehende Sonne; es gibt Tee aus frisch gepflückter Minze sowie Kekse. Wir kommen auf Hans Jürgen Syberberg zu sprechen. HP bewundert seine Kraft, auch noch im Alter: „Er ist ein Taktiker und ein Stratege. Er hat Ideen, die auch greifen. Und weil er ein Teamplayer ist, haben beide Seiten etwas davon.“
Nossendorf sei eine „Obsession“. Syberbergs Vater hatte sich als Berufssoldat zu zwölf Jahren verpflichtet, hatte sich sein Erbe ausbezahlen lassen (er stammte aus dem Rheinland, wo die Familie eine Getreidemühle besaß) und in Nossendorf ein Gut (ein paar Hektar größer als ein Großbauernhof) erworben. Das ging dann bekanntlich nicht lange gut: Enteignung im Zuge der Bodenreform…
Pölkow glaubt an den Sieben-Jahres-Rhythmus. Er selbst habe seit seinem 70. Geburtstag sehr abgebaut (was wir nicht bestätigen können). Aber Syberberg sei, obwohl er „so gebeugt“ geht, noch stark; und er sei eigentlich immer der Stärkere von ihnen gewesen, auch der mit der größeren Ausdauer. HP erinnert sich an die Tour Ostern 1954 von Petershagen nach Heidelberg, per Anhalter und weitgehend ohne Schlaf: „Syberberg hat durchgehalten, während ich schließlich zusammengebrochen bin. Auf den Stufen des Speyerer Tageblatts war ich wie tot.“ Irgendetwas mit Münchhausen.
HP war bei Heinrich Breloer in Berlin. Dieser hat ihn in der Halle des Deutschen Theaters für sein Dokudrama über Bertolt Brecht befragt: „Seine Fragen waren nur leider verhältnismäßig ungenau, um nicht zu sagen: völlig konfus.“ Breloer habe sich nicht an den Vorgesprächen orientiert: „Ich hoffe, dass ich dennoch meine Antworten einigermaßen stimmig platzieren konnte.“ HP erzählt, wie eingehend Brecht sich bei Syberberg und ihm nach Benno Bessons Inszenierung des „Don Juan“ am Rostocker Volkstheater erkundigt habe (Premiere war am 25. Mai 1952): „Die Art und Weise, wie man seine [Brechts] Inszenierung des ›Urfaust‹ fertigzumachen suchte, hat ihn sehr getroffen, weil er damit eben eine soziale Gestik verbunden hat. Diese brutale Kritik kann nur eine Despotie hervorbringen.“
Rückfahrt mit der S 3 via Laage, da der Bahnhof Güstrow von den Zügen der Strecke Berlin–Rostock noch nicht angefahren werden kann: baubedingte Fahrplanänderungen, die im Fahrplan nicht verzeichnet sind. Trostlose Stationen ziehen im Halbdunkel vorbei: Priemerburg, Plaaz, Subzin-Liessow, Laage, Kronskamp, Scharstorf, Kavelstorf. Hier stirbt das Land. Warum wohnt Pölkow eigentlich nicht in Pölchow? Die etwas andere Schreibweise ist doch kein Argument?