Erst nach einem halben Jahrhundert wird der Massensuizid in der vorpommerschen Stadt Demmin allmählich thematisiert
Das Zeugnis der Tragödie liegt im Panzerschrank der Friedhofsverwaltung. Zwischen den gebundenen Sterbebüchern, in denen seit 1847 jeder Verstorbene der kleinen Stadt Demmin notiert wird, fällt die schmächtige schwarze Kladde auf. Jemand hat ein kleines weißes Kreuz und die Jahreszahl 1945 auf das Warenkontorbuch geklebt. Vergilbte Seiten dokumentieren das Unfaßbare mit erschreckender Nüchternheit.

„Junge unbekannt“, „Kind, Demmin“ oder „Mutter mit zwei Kindern“ steht unter der Rubrik „Art des Warenpostens“. Daneben, in der mit „Reichsmark“ überschriebenen Spalte, heißt es „ertrunken“, „vergiftet“, „erhängt“. Oder „vom Großvater erwürgt“, „Pulsadern geöffnet“ und immer wieder, seitenweise mit Gänsefüßchen fortgesetzt, „Selbstmord durch Ertrinken“.

Über 500 Bestattungen von Selbstmördern werden so für den Mai 1945 aufgelistet. Das tatsächliche Ausmaß des beispiellosen Massensuizids unmittelbar nach dem Einmarsch der Roten Armee am 30. April 1945 in das vorpommersche Demmin war aber noch weit schlimmer. „Wir werden von mehr als 1000 Toten auszugehen haben“, schreibt Pfarrer Norbert Buske, der das Inferno als Neunjähriger miterlebte, in seiner Broschüre „Das Kriegsende in Demmin 1945"*.

Die Tragödie wird erst jetzt, 50 Jahre später, öffentlich aufgearbeitet. Unter den Einheitssozialisten der DDR galt das Thema 45 Jahre lang als tabu. Verständlich. Verordnet war die Verehrung der sowjetischen Bruderarmee. Und so begnügte sich das Kreisheimatmuseum bislang damit, zum Kriegsende bei-läufig zu erwähnen: „Der Zweite Weltkrieg forderte von der Demminer Bevölkerung 1945/46 2300 Tote durch Kriegseinwirkungen und Seuchen.“

Erklärungsdruck bestand trotzdem. Schließlich war die damals 16 000 Einwohner große Stadt zwar kampflos eingenommen, doch in den folgenden drei Tagen zu 80 Prozent zerstört worden.

„Verbrecherische Handlungen einiger Werwolfleute und Hitlerjungen“ machte die im August 1989 erschienene „Chronik zur Geschichte der SED-Kreisparteiorganisation“ dafür verantwortlich. Dies habe die Rote Armee, „die nie das Ziel verfolgt hat, schlechthin deutsche Menschen und ihre Heimstätten zu vernichten, (. . .) zu Gegenmaßnahmen veranlaßt, in deren Folge die gesamte Innenstadt in Flammen aufgeht“.

Der Autorin und Historikerin Erla Vensky gelang es schon damals zum Entsetzen der Genossen, die Verzweiflung der Demminer in die geklitterte „Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung“ zu schmuggeln: „Über 700 Einwohner nehmen sich, von Panik ergriffen, das Leben.“

Mit Werwolf-Attacken oder der in der DDR gepflegten Legende von der Vergiftung russischer Offiziere in der örtlichen Apotheke allein sind die Exzesse der Roten Armee in Demmin nicht zu erklären. Ohnehin kann das Wüten und Vergewaltigen der Sieger an der gesamten Ostfront nur im Zusammenhang mit dem deutschen Überfall, dem Naziterror in den okkupierten Gebieten, dem Zurücklassen von verbrannter Erde und den 20 Millionen russischen Kriegstoten gesehen werden.

„Tötet, tötet! Kein Deutscher ist unschuldig“, hatte der Schriftsteller Ilja Ehrenburg in seinem berüchtigten Manifest an die Rote Armee geschrieben und gefordert: „Gewaltsam brecht den Rassenstolz der deutschen Frau. Nehmt sie Euch in gerechter Revanche.“

Warum Demmin? Die einstige Garnisonsstadt, deren Ulanen-Regiment nicht aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt war, sollte ursprünglich verteidigt werden. Frauen, Kinder und alte Männer mußten Ende April im Osten der Stadt insgesamt 5000 Me-ter Panzergräben ausheben. Doch am Sonnabend, dem 28. April, beginnt die kopflose Flucht. Hastig wird das Lazarett evakuiert, die gesamte Polizei flieht auf einem Lkw, die letzten Nazibonzen türmen – laut Chronik der freiwilligen Feuerwehr – mit gekaperten Löschfahrzeugen. Ein endloser Flüchtlingstreck quält sich mit Handkarren und Fuhrwerken durch Demmin.

„Gewaltige Detonationen“ erschüttern die Stadt am Montag, 30. April. Frühmorgens haben sich die letzten Verbände der Heeresgruppe Weichsel und der Waffen-SS abgesetzt. Die Nazis sprengen sämtliche Brücken über die Flüsse Peene und Tollense. Die Flüchtlinge sitzen plötzlich in der Falle.

Um elf Uhr dringen Truppen des 1. Don-Gardepanzerkorps und der 65. Armee in die Stadt ein. Am Turm der St. Bartholomaei-Kirche und an vielen Häusern wehen weiße Fahnen und Laken. „Der erste Russe wurde um fünf nach elf vor dem roten Krankenhaus erschossen“, erzählt der Demminer Uhrmacher Rolf-Dietrich Schultz. Damals, mit neun Jahren, ist er von einem Keller in der Treptower Straße aus Augenzeuge.

Der Amokschütze ist offenbar Studienrat Gerhard Moldenhauer. Der NSDAP-Mitläufer hatte einer Nachbarin erklärt: „Ich habe eben meine Frau und meine Kinder erschossen, nun will ich noch ein paar Russen umlegen.“

Ein Scharmützel gibt es auch am Luisentor. Das alte Stadttor, zuletzt Treffpunkt der Hitlerjungen, beschießen die Russen mit Panzergranaten. Dann herrscht – zunächst – Ruhe.

Die Exzesse beginnen noch am Abend. Während sich unendliche Militärkolonnen vor den zerstörten Brücken stauen, plündern Rotarmisten die beiden Getreidebrennereien und diverse Spirituosenhandlungen. „Krakelende und plündernde Rotarmisten“ zogen von Haus zu Haus. „Unentwegt Uri, Uri . . . Frau, komm!-Rufe. Nebenan jammerten und schrien Frauen“, erinnert sich die Demminerin Ursula Strohschein.

Am frühen Morgen des 1. Mai beobachtet sie „ein eigenartiges Treiben der Rotarmisten“. Mit großen Besen bestreichen sie „hastig die Häuserwände“ – vermutlich Benzin. Wenig später fressen sich die Flammen durch die Lehmfachwerkhäuser ganzer Straßenzüge. Soldaten mit Kalaschnikows verhindern drei Tage lang, daß gelöscht wird.

„Volltrunkene Sieger nahmen sich alle nur erreichbaren Frauen vor, demütigten sie auf das gräßlichste“, erinnert sich die Demminer Ärztin Lotte-Lore Martens. Später kam „eine Unzahl vergewaltigter Frauen, teilweise noch stark blutend, mit ein, zwei, drei, ja manchmal vier Kindern an der Hand in Trance die Jarmener Chaussee heraufgewankt. Wir sahen sie früher oder später nach rechts den Weg Richtung Tollense nehmen. Sie suchten also den Tod in den Fluten.“

„Die Tollense brachte täglich neue Leichen von Selbstmördern“, schildert Zeitzeugin Irmgard von Maltzahn, „die Luft war voll von Verwesungsgeruch.“ Auf einer Breite von bis zu zwei Metern säumten, so beschreiben Zeitzeugen, Babywäsche, Frauenkleider und Pelze, Ausweise, Pässe und Geldscheine die Ufer. Die Menschen in Demmin, notierte der frühere Lehrer Wilhelm Damman 1955 in seinen Erinnerungen, „verloren die Besinnung“.

Viele der Lebensmüden schaffen es nicht. Mütter, die ihre Kinder ertränkt haben, werden wieder an die Ufer gespült oder von Rotarmisten aus den Fluten gezogen. Bei anderen reicht das Gift, das längst Mangelware ist, nicht mehr für den eigenen Tod (siehe Kasten). Oder sie zerschneiden sich statt der Pulsadern die Sehnen. In der Notpraxis im Konfirmandensaal des Pfarrhauses stehen Frauen und Mädchen mit umwickelten Handgelenken Schlange. Viele von ihnen sind von Russen verbunden und damit gerettet worden.

Noch Wochen später werden Leichen aus den Flüssen Peene, Tollense und Trebel geborgen, „rollen die Leichenkarren den Friedhofsberg hinauf“. Bis zu 18 Opfer verscharrt man je Massengrab. In den Gottesdiensten nimmt die Verlesung der Totenlisten die meiste Zeit ein. Während auf dem St. Bartholomaei-Friedhof eine schlichte Steinsäule ohne jeden Hinweis auf die Ereignisse aufgestellt wird, entsteht auf dem Wilhelmsplatz in der Innenstadt für 90 631,40 Reichsmark das „Ehrenmal der Roten Armee“.

Der 22 Meter hohe Obelisk mit dem Roten Stern ist inzwischen abgerissen. Am 6. Mai dieses Jahres weihte die Hansestadt an derselben Stelle, auf dem heutigen Ernst-Barlach-Platz, ein Mahnmal für die Opfer von Krieg und Vertreibung ein – eine Skulptur in Form einer Knospe, die sich zwischen Natursteinplatten emporreckt.

Demmin feiert das Kriegsende am 8 Mai

aktuelles Bild der Demminer Kreuzigung -nun in der Restaurierung- wie sie nach 1945 im Heimat-Museum abgegeben wurde.(Aufn. NDR für die Sendung demnächst zu diesem Fall)