04. April 2011, 18:26 Uhr

Kriegsverbrechen in Gaza
Israel rätselt über Goldstone-Wende

Von Ulrike Putz, Beirut

Was hat Richter Goldstone dazu bewogen, seinen umstrittenen Uno-Bericht zum Gaza-Krieg zu relativieren? In Israel wird nun über politische Gründe spekuliert. Aber auch private Motive könnten eine Rolle spielen: Er sei beschimpft und bedroht worden, heißt es.

Richard Goldstone hat für ein ungewöhnliches Schauspiel in Nahost gesorgt: Über den Positionswandel des Richters zum Gaza-Krieg waren sich Israel und die palästinensische Hamas zumindest in ihrer Verwunderung einig wie sonst selten zuvor.

Israelische Zeitungen spekulierten eifrig über die Hintergründe der Volte. Hamas-Sprecher Sami Abu Suhri nannte Goldstones Kehrtwende "sehr merkwürdig". "Es ist verwunderlich, dass Goldstone plötzlich von dem Inhalt seines Berichts abrückt und sagt, er akzeptiere die israelische Sichtweise", sagte Abu Suhri.

Goldstone hatte sich vergangenen Freitag in einem Artikel für die "Washington Post" von seinem eigenen Uno-Bericht über den Gaza-Krieg distanziert. Es sei inzwischen deutlich geworden, dass Israel während des Kriegs zum Jahreswechsel 2008/2009 nicht absichtlich auf palästinensische Zivilisten gezielt habe. "Wenn ich gewusst hätte, was ich heute weiß, wäre der Goldstone-Bericht ein anderes Dokument", schrieb der Jurist.

Während des Kriegs wurden mehr als 1400 Palästinenser getötet und Tausende weitere verletzt. Israel rechtfertigt die dreiwöchige Offensive "Gegossenes Blei" bis heute als notwendige Selbstverteidigung gegen die andauernden Raketenangriffe militanter Palästinenser aus dem Gaza-Streifen. Nach der Veröffentlichung des Goldstone-Reports hatte die israelische Armee einige ihrer Offiziere gewarnt, dass sie bei Reisen ins Ausland unter Umständen mit Festnahmen zu rechnen hätten. Diese Reisewarnung wurde nun gelockert.

"Durch die Hölle gegangen"

Die israelische Presse suchte am Montag nach einer Erklärung. Die Zeitung "Yedioth Ahronoth" berichtete unter Berufung auf Vertraute des Juristen, Goldstone und seine Frau seien "durch die Hölle gegangen", seit der Südafrikaner 2009 seinen Bericht für die Uno über den Krieg angefertigt hatte. Er habe einen nahezu einhelligen Boykott der jüdischen Gemeinde erlebt und sehr darunter gelitten.

Das Paar habe gleich mehrfach seine Telefonnummern und E-Mail-Adressen ändern müssen, zitiert die Zeitung Alon Liel, einen israelischen Freund der beiden. Im vergangenen Jahr habe sich Goldstone sogar gezwungen gesehen, seine Teilnahme an der Bar Mitzwa seines Enkelsohnes in Israel aus Sicherheitsbedenken abzusagen. "Er war ein gebrochener Mann", so Liel über seinen Freund. Diese persönlichen Erfahrungen hätten sicher dazu beigetragen, seine Israel-kritische Position zum Gaza-Krieg zu korrigieren, heißt es im "Yedioth Ahronoth" weiter.

Die Zeitung "Maariv" mutmaßte, Goldstones Kehrtwende sei von politischen Manövern ausgelöst worden. Vor zehn Tagen habe der Uno-Menschenrechtsrat in Genf den Entwurf einer Resolution formuliert. Demnach soll das Internationale Kriegsverbrechertribunal in Den Haag den Goldstone-Report als juristische Grundlage für die Strafverfolgung israelischer Soldaten und Politiker nutzen. Goldstone, so schreibt die Zeitung weiter, sei schon seit langem der Ansicht, der Menschenrechtsrat nutze seinen Uno-Report für politische Zwecke. Wegen der neuen Aktivitäten des Rats habe er sich entschlossen, sein Schweigen zu brechen, so "Maariv".

Die israelische Regierung prüft nun, ob Goldstones Sinneswandel von praktischem Nutzen ist. Eine von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ins Leben gerufene Sonderkommission soll klären, inwieweit der Artikel in der "Washington Post" Israel eine rechtliche Möglichkeit gibt, die Uno-Resolution zu stoppen und Israelis vor Strafverfolgung im Ausland zu schützen. Netanjahu forderte, der umstrittene Uno-Bericht müsse "in den Mülleimer der Geschichte" geworfen werden. Er rief die Uno dazu auf, den Report umgehend zu annullieren.

Der israelische Außenminister Avigdor Lieberman urteilte bereits am Sonntag, die Palästinenser müssten nun ihre Pläne aufgeben, israelische Repräsentanten vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu zerren. "Dieses Kapitel ist abgeschlossen", sagte er dem israelischen Rundfunk.

Palästinenser zürnen Goldstone

Ein ranghoher Berater des Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas beharrte am Sonntag darauf, Israel habe während des Gaza-Kriegs Kriegsverbrechen begangen. "Richter Goldstone hat kein Recht, solche Äußerungen zu machen", sagte Jassir Abed Rabbo dem palästinensischen Rundfunk. "Das Blut der Opfer kann nicht weggewischt werden", sagte er.

Goldstone berief sich in seinem "Washington Post"-Artikel auf die Erkenntnisse einer Expertenkommission der Uno, die die Ereignisse des Gaza-Kriegs jüngst erneut untersucht hatte. Das von der pensionierten US-Richterin Mary McGowan Davis geleitete Gremium habe Israel attestiert, Vorwürfe über Vergehen seiner Soldaten ernsthaft untersucht zu haben.

Diese israelischen Untersuchungen hätten zwar Übergriffe einzelner Soldaten bestätigt, so Goldstone. Aber Zivilisten seien "nicht absichtlich zum Ziel geworden". Er bedaure, dass Israel vor zwei Jahren, bei der Erstellung seines eigenen Berichts, nicht mit dem Uno-Komitee zusammengearbeitet habe. Damals hatte Israels Image international schweren Schaden genommen.

Die über den Gaza-Streifen herrschende Hamas wiederum habe nichts getan, um Angriffe militanter Palästinenser auf Israel mit Raketen und Mörsergranaten zu untersuchen, bemängelte Goldstone nun.

Goldstones Beitrag hatte am Wochenende in Israel für größtmögliches Aufsehen und für tiefe Genugtuung gesorgt. Dabei übersahen viele Kommentatoren, dass Goldstone die Befunde seiner Uno-Kommission allenfalls in Teilen einschränkt und nicht - wie von der israelischen Presse dargestellt - "reumütig zurücknimmt".

Mit Material von dpa

URL:
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,754958,00.html
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