Die Welt10.01.2011
Der Aufstand des alten Mannes
Wutbürger aus Passion: Mit 93 Jahren hat Stéphane Hessel, der Sohn
des Schriftstellers Franz Hessel, eine Streitschrift verfasst, die Frankreich
bewegt
Seine Biographie gibt ihm Autorität: Hessel kämpfte in der Résistance
und überlebte das KZ
Stéphane Hessel ist 93 Jahre alt, und am Freitag hat er zum ersten Mal
in seinem Leben "gechattet". Ein französisches Magazin ließ ihn
per Internet mit der wissbegierigen Leserschaft plaudern. Niemand ist derzeit
in Frankreich gefragter als Stéphane Hessel.
Grund dafür ist ein Pamphlet von kaum zwanzig Seiten. Es trägt den
Titel "Indignez-Vous!" ("Empört Euch!"). Im Oktober
brachte ein Kleinverlag aus Montpellier die Schrift in die Buchhandlungen.
Seitdem hat es sich mehr als 800 000 Mal verkauft. Inzwischen steht die Protestnote
für 3 Euro in fast jedem Kiosk an der Kasse.
Mit einem bubenhaften Lächeln öffnet Hessel die Tür seiner büchervollen
Wohnung im 14. Pariser Arrondissement. Vollendet höflich, im dunkelblauen
Dreiteiler, begrüßt er den Besucher auf Deutsch. Hessel wurde 1917
in Berlin geboren. Seine Eltern sind der Autor Franz Hessel und die Journalistin
Helen Grund, aus deren bewegter Ménage à trois mit dem französischen
Schriftsteller Henri-Pierre Roché der Regisseur François Truffaut
die Kinolegende "Jules et Jim" machte.
Hessels Büchlein ist ein Manifest für Zivilcourage von einem Mann,
dem es an Widerstandskraft nie mangelte. Als er acht Jahre alt war, zogen seine
Eltern mit ihm nach Paris. Er wurde Franzose, kämpfte in der Résistance, überlebte
die Konzentrationslager Buchenwald und Dora. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte
er als Diplomat bei den Vereinten Nationen zu den Verfassern der allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte. Diesen grundlegenden Text ruft Hessel nun
ebenso vehement ins Gedächtnis wie das Programm des nationalen Rates der
Résistance (CNR): "Diese Prinzipien und Werte benötigen wir
heute mehr als je zuvor." Damit hat er den Nerv eines Publikums getroffen,
das nach verlässlichen Werten hungert und sich schon länger im Stillen
empört.
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Das Verführerische an Hessels Schrift ist, dass sie es einen Moment lang
wieder leicht erscheinen lässt, sich für die richtige Sache zu engagieren.
Hessel preist das Programm des CNR, das eine weitgehende Verstaatlichung von
Großbetrieben und umfassende soziale Absicherung vorsah: "Wie kann
es sein, dass heute das Geld fehlt, um diese Errungenschaften zu verteidigen
und auszubauen, obwohl unser Reichtum seit dem Ende des Krieges, als Europa
ruiniert war, beträchtlich angestiegen ist?", fragt Hessel spitz
und fordert die nachwachsenden Generationen auf, das Erbe der Résistance
weiter zu tragen. Diese sei aus der Empörung entstanden. Gründe,
sich zu empören, gebe es nach wie vor genug: Die demokratiebedrohende
Herrschaft des Geldes, die Kluft zwischen Arm und Reich, die Lage der Menschenrechte,
der Zustand des Planeten.
Bewusst bezieht sich Hessel auf Sartre, den leicht aus der Mode geratenen Philosophen
des Engagements. An der "École Normale Supérieure" war
Sartre dem zwölf Jahre jüngeren Hessel einige Klassen voraus. Es
wird einem schwindelig, wenn man den Reigen beeindruckender Figuren betrachtet,
denen Hessel im Laufe seines Lebens begegnete. Seine Eltern gehörten zur
surrealistischen Pariser Bohème der Zwanzigerjahre. Prägende Kindheitsmomente
verdankt er Marcel Duchamp. An der ENS studiert er bei Maurice Merleau-Ponty.
Als junger Offizier schließt er sich nach der Niederlage Frankreichs
dem Widerstand an. Er ist 23, als er in London dem General de Gaulle begegnet.
Im Sommer 1944 wird er in Paris von der Gestapo verhaftet, gefoltert und nach
Buchenwald deportiert. Dort verhilft ihm Eugen Kogon, der spätere Autor "SS-Staates",
zur Flucht. Doch Hessel wird gefasst und ins Konzentrationslager Dora gebracht.
Wieder gelingt ihm die Flucht. Zum Kriegsende ist er zurück in Paris.
Entschlossen, sein Leben der Freiheit zu widmen, tritt er in den diplomatischen
Dienst. Er arbeitet als Kabinettschef des stellvertretenden UN-Generalsekretärs
Henri Laugier an der Abfassung der Deklaration der Menschenrechte mit. Es folgt
eine mehr als 40-jährige diplomatische Karriere als unermüdlicher
Verteidiger dieser Charta, die für Hessel auch heute noch "universell" gilt.
Weshalb sein Buch so einen Erfolg hat, kann auch Hessel sich nicht recht erklären.
Bescheiden lobt er seine Verlegerin Sylvie Crossman. Die habe den Text nach
einem Interview mit ihm verfasst, und den "griffigen Titel" erfunden.
Der spreche die Leute an. Es gebe eben Grund genug zur Empörung: "In
fast allen Ländern ist man ein wenig unglücklich über die Regierungen,
nicht nur in Frankreich." Hessel mag nicht bestreiten, dass es seine Biografie
sein könnte, die dem Heftchen Durchschlagskraft verleiht: "Ich habe
das Glück gehabt, ein langes Leben zu haben: Ich bin 1917 mit der Russischen
Revolution geboren. Die Leute, die das lesen, denken wohl: Da ist jemand, der
hat allerlei gelitten und überlebt. Daher versteht er vielleicht, wo wir
jetzt sind, besser als ein Junger, der so etwas nicht miterlebt hat."
Auf geringeres Verständnis stoßen allerdings meist seine Thesen
zu Israel. Zu krass fällt insbesondere für Vertreter der jüdischen
Gemeinde in Frankreich seine Kritik an der israelischen Besatzungspolitik aus,
zu groß scheint sein Verständnis für den palästinensischen
Widerstand. Letzteres geht stellenweise so weit, dass er selbst Terrorakte
- im Geiste Sartres - "verstehen, wenn auch nicht entschuldigen" kann.
Am Ende, insistiert Hessel jedoch, bringe "nur Gewaltlosigkeit" eine
Lösung. Dennoch betrachteten ihn manche als "Feind Israels",
gar als "Antisemiten". Hessel, dessen Vater Jude war, schmerzt der
Vorwurf. Seinem Büchlein hat er ein Aquarell von Paul Klee vorangestellt: "Angelus
Novus", jene Engelsfigur, die der Philosoph Walter Benjamin - ein Freund
von Hessels Vater - seinen "Thesen zur Geschichte" voranstellte.
Kurz bevor Benjamin 1940 auf der Flucht vor den Nazis an der spanischen Grenze
Selbstmord beging, hatte Hessel ihn noch in Marseille getroffen. Benjamin sei
damals bereits verzweifelt gewesen. "Ich war jünger und hatte großes
Glück", sagt Hessel. "Das Glück, nicht zu verzweifeln." Auch
deshalb spüre er als Überlebender bis heute eine große Verantwortlichkeit: "Ich
darf nicht nachlassen", sagt der 93-jährige.