Um 16:35 unterbricht die Sprecherin das laufende Radionprogramm, d.i. Musik eines Hollywoodfilms (NDR Kultur), um mitzuteilen, dass T.Sarrazin zur Entlassung von seinem Amt als ein Bundesbankvorsitzender vorgeschlagen wird. In der selben Minute folgen die anderen Nachrichten-Medien mit Eilmeldungen.

 

Henryk M. Broder Ê 01.09.2010 Ê 23:27ÊÊ +Feedback
Angie und die Brandstifter
Wir schreiben das Jahr 2010. Vor fast 21 Jahren fiel die Mauer. Seit 20 Jahren ist Deutschland wieder vereint. Es wird zum ersten Mal in seiner Geschichte von einer Frau regiert, dazu einer, die ihre politische Karriere als SekretŠrin fŸr Agitation und Propaganda bei der Freien Deutschen Jugend der DDR begonnen hat. Deutsche Truppen stehen am Hindukusch, patrouillieren am Horn von Afrika, im Sudan, auf dem Balkan und vor der libanesischen KŸste. Deutschland wird von einem schwulen Au§enminister vertreten, der Stellvertreter Christi auf Erden ist ein Deutscher. Im Fussball sind wir Weltmeister der Herzen und im Maschinenbau Exportweltmeister.
Man kšnnte also annehmen, die Deutschen seien einerseits vollkommen normal geworden und zugleich in der Lage, mit au§ergewšhnlichen Situationen souverŠn umzugehen. Es wŠre eine falsche und eine voreilige Annahme. Was wir derzeit in Deutschland erleben, ist der Ausbruch einer kollektiven Hysterie, bei der vor allem die Angehšrigen der informellen und intellektuellen Eliten die Contenance verlieren. Deutschland rastet aus. Anlass ist ein Buch mit dem Titel: ÒDeutschland schafft sich abÓ.
Den Ton und die Richtung gab die Kanzlerin vor, als sie durch ihren Regierungssprecher erklŠren liess, sie fŠnde das Buch Òverletzend und polemischÓ und ÒŸberhaupt nicht hilfreichÓ, um Òbei der Integration voranzukommenÓ. Es war das erste Mal seit Ludwig Erhard, der in den Flegeljahren der Bundesrepublik Intellektuelle als ÒPinscher, Uhus und BanausenÓ bezeichnet hatte, dass ein amtierender Kanzler bzw. eine Kanzlerin sich ein literarisches Urteil erlaubt hatte - nicht als Privatperson bei einem Besuch der Frankfurter Buchmesse, sondern ex cathedra. Und es war das erste Mal, dass ihr niemand widersprach, so als gehšre es zum Amt der Kanzlerin, BŸcher danach zu beurteilen, ob sie bei der Durchsetzung der Regierungspolitik hilfreich wŠren oder nicht. WŠre dies der Ma§stab, mŸsste man mindestens 99% der jŠhrlichen Buchproduktion gleich nach dem Erscheinen einstampfen.
Und als gŠbe es in Deutschland wieder eine Reichschriftumskammer, die fŸr Sprachregelung zustŠndig wŠre, wurde die Floskel Ònicht hilfreichÓ inzwischen einige Tausend Mal wiederholt: von andern Politikern, Kommentatoren und den Linienrichtern der ÒPolitical CorrectnessÓ. Die Interviews, die mit dem Verfasser des Òwenig hilfreichenÓ Buches gemacht werden, gleichen Verhšren, wobei das abschlie§ende Urteil von vornherein feststeht: wenig hilfreich, kontraproduktiv, der Integration abtrŠglich und dem deutschen Ansehen im Ausland nicht bekšmmlich. Allesamt Kriterien, mit denen autoritŠre und totalitŠre Regimes ihre Kritiker stillzulegen versuchen. Der Gedanke, dass eine Demokratie vor allem von ÒfalschenÓ Meinungen lebt, die eine Diskussion befšrdern, ist im Abgrund der kollektiven Empšrung verschwunden.
WŠhrend die Deutschen sich in ihrem SŸndenstolz, fŸr das grš§te Verbrechen des 20. Jahrhunderts, den Holocaust, verantwortlich zu sein, gemŸtlich eingerichtet haben, reagieren sie wie Allergiker auf Katzenhaare, wenn es um Fehlleistungen in der Gegenwart geht. Hier gilt der Grundsatz, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.
Diejenigen, die Ÿber Sarrazin herfallen, tun es nicht, weil er mit seinen Thesen daneben liegt, sondern weil er im Prinzip recht hat. Es sagt kaum etwas, das nicht schon bekannt wŠre, er fasst nur viele Einzeldaten zu einer Lieferung zusammen. Und so genau wollen es die AnwŠlte des Status quo nicht wissen, denn dann mŸssten sie sich fragen, warum sie bis jetzt geschwiegen oder sich hinter Euphemismen wie ÒBŸrger mit MigrationshintergrundÓ oder Òbildungsferne SchichtenÓ versteckt haben. Das kollektive Verlangen, Sarrazin zum Schweigen zu bringen, hat auch eine nach innen gerichtete Funktion: Die eigenen Zweifel sollen unterdrŸckt werden. Sarrazin ist der klassische SŸndenbock. Er wird mit den SŸnden der Gesellschaft beladen und in die WŸste hinaus gejagt. Wir erleben ein archaisches Ritual im High-Tech-Format. Die Selbstgerechten aller Klassen und Fraktionen treten zur virtuellen Steinigung an.
Der stellvertretende Chefredakteur des ZDF sagt: ÒTheo Sarrazin verlŠsst den Konsens der Demokratie.Ó Der zukŸnftige PrŠsident des Zentralrates der Juden in Deutschland erklŠrt: ÒSarrazin legt Feuer an den Frieden im Land.Ó Der Feuilletonchef der FR will den †beltŠter erst verurteilen und dann pychiatrisieren: ÒThilo Sarrazin ist ein Fall. FŸr die Gerichte schon lange und immer wiederÉ Wer sein Buch liest, der denkt an ÔVolksverhetzungÕ, an den Paragraphen 130 des StrafgesetzbuchesÉ Sarrazin ist ein Fall nicht nur fŸr die Justiz.Ó Der linksalternativen taz geht das noch nicht weit genug: ÒWas tun, wenn 65 Jahre nach dem Verbot von ÔMein KampfÕ erstmals wieder ein rassentheoretisches Traktat in Deutschland zum Bestseller avanciert?Ó Und die konservative FAZ spricht das letzte Wort: ÒDem Mann ist nicht zu helfen.Ó
Deutschland einig Vaterland.
C: Weltwoche 35/10

Sarrazin, die Muslime und das Grimmsche Wörterbuch
Ein alarmistisches Buch des Berliner Ex-Finanzsenators Thilo Sarrazin über die negativen Folgen muslimischer Einwanderung lässt in Deutschland die Debatte hochgehen. Dass es überhaupt so viel Beachtung findet, liegt daran, dass die deutsche politische Klasse das Thema allzu lange schönfärberisch verdrängt hat. Von Richard Wagner
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Migration ist schlicht ein Unwort. Es gibt für seine Existenz keinen triftigen Grund. Das Grimmsche Wörterbuch hat für das damit Gemeinte für immer den Namen Einwanderung zu vermerken. Einwanderung ist nicht nur die ausreichende Bezeichnung für den Vorgang, es ist auch die zutreffende. Der Begriff Migration wurde in den Verlegenheitsbüros der politischen Klasse geschaffen, um die Wirklichkeit, die zu benennen war, zu verharmlosen. Ein Einwanderer kommt ins Land, um zu bleiben, ein Migrant hingegen, folgt man dem Latein, kommt und geht. Der Begriff Migration dient der Beschwichtigung. Seine Verankerung in der deutschen Öffentlichkeit besagt nebenbei aber auch, dass man sich des Problems bewusst ist – und es nicht wahrhaben will. Wer sich damit ernsthaft beschäftigt, ohne die offizielle Sprachregelung zu respektieren, bekommt bald Schwierigkeiten. Der Bann, mit dem man in den Anfängen belegt wurde, nannte sich «Ausländerfeindlichkeit». Inzwischen hat man in der einschlägigen Wortwahl aufgerüstet. «Islamophobie» heisst es nun. Es sind Formeln der Einschüchterung.

Blockade statt Debatte
Man kommt in Deutschland kaum noch dazu, über das eigentliche Problem zu reden, weil man bereits an der Blockade durch die immer zahlreicher werdenden Administratoren der Debatte scheitert. Dass alle Warnungen vor den Integrationsproblemen mit dem Gegengewicht eines Karnevals der Kulturen ausgehebelt wurden, hatte zur Folge, dass die offizielle Verlautbarung immer öfter den Modus der Unterstellung pflegte und die Kritik die Form der Provokation annahm.

Die Voraussetzungen für den Auftritt eines Thilo Sarrazin hat die deutsche politische Klasse selbst geschaffen: durch ihre Untätigkeit und durch ihren Hang zur Schönfärberei. Der Ex-Finanzsenator der Stadt Berlin ist seit vielen Jahren für seine prägnante Wortwahl bekannt. Seine von Journalisten verächtlich als Sprüche bezeichneten Zitate findet man in gesammelter Form an gleich mehreren Stellen im Internet vor. Dem intellektuellen «Gutmenschen» wurde er als Störenfried spätestens im letzten Jahr durch ein Interview, ausgerechnet in der kosmopolitischen Vorzeige-Zeitschrift «Lettre international», bekannt.

Was Sarrazin in seinem Buch («Deutschland schafft sich ab») sagt, ist nicht brandneu, er sagt es bloss ungewohnt krawallartig, und vor allem dieses Krawallartige macht ihn erfolgreich und gleichzeitig gefürchtet. Seit dem Vorabdruck im «Spiegel» ist eine wahre Kampagne gegen den SPD-Politiker losgetreten worden. Anfangs galt er noch als Provokateur, dann avancierte er zum Rassisten, und mittlerweile hat er sich auch schon zum Antisemiten qualifiziert. Eine Eigenschaft, die man in Deutschland schnell erwerben kann, egal, womit oder wogegen man sich profiliert.

Der Mann, der so laut spricht, dass die Politiker zusammenzucken, die Sozialarbeiter um ihre Jobs bangen und die selbsternannten Antifaschisten plötzlich, wie in einem Albtraum, an die Stelle der Republik das Reich treten sehen, hat tatsächlich auch eine Anhängerschaft. Und zwar eine, die es durchaus ernst meint. Es sind vor allem jene, welche die Problematik der islamischen Einwanderung in ihrem Alltags- und Berufsleben erfahren. Sie fühlen sich allein gelassen von den Institutionen. Sie empfinden sogar, dass ihre Meinungsfreiheit inzwischen durch die öffentlich verordnete Harmonie gefährdet sei.

Zerfall der bürgerlichen Ordnung
Sarrazin ist weder Theoretiker noch Reporter. Er untermauert seine Thesen mit viel Statistik und letzten Endes mit einer genetischen Begründung. Mit dieser macht er sich am meisten angreifbar. In Deutschland gilt die Genetik bis heute als ein Instrument des Bösen. Was Sarrazin aber zur Sprache bringt, ist seit Jahren schon ein grosses Thema für die deutsche Wirklichkeit. Es geht um die rapide Herausbildung einer neuen Unterschicht, und das vor allem in der zweiten und dritten Generation von türkischen und arabischen Einwanderern, um die Entstehung von Parallelgesellschaften mit rechtsfreien Räumen und hoher Jugendkriminalitätsrate, kurzum, es handelt sich um den sichtbaren Zerfall der bürgerlichen Ordnung.

Um das, was mit Begriffen wie «Multikultur» und «Integration» zugekleistert oder mit Schlagworten wie «Bildungsferne» verniedlicht wird. Jenseits von Sarrazins Szenario des Untergangs gibt es eine erschreckende Realität seiner Thematik. Diese Realität beschäftigt immer mehr Menschen in Deutschland. Sie lässt sich nicht mehr abtun, weder durch Abwiegelung noch durch Warnungen vor Populismus und Rechtstrend. Dass Sarrazins Buch am Montag von der prominenten Sozialwissenschafterin türkischer Herkunft, Necla Kelek, die als unbeugsame Islamkritikerin bekannt ist, vorgestellt wurde, ist genauso symbolhaft, wie die Forderung der Türkischen Gemeinde in Deutschland nach der Entfernung Sarrazins aus seinem Amt im Vorstand der Bundesbank bezeichnend ist.

Die Kontroverse verläuft nicht, nach dem üblichen Schema, zwischen rechts und links oder konservativ und liberal. Sie verläuft zwischen denen, welche die realen Gefährdungen erkannt haben, die es in Deutschland gibt und die erwiesenermassen mit der muslimischen Einwanderung und den damit verbundenen demografischen Verschiebungen zusammenhängen, und jenen, die weiterhin auf der Wolke schweben und die die von ihnen zumindest in ihren Köpfen eingerichtete schöne neue Welt nicht preisgeben wollen. Sie würden um der hehren multikulturalistischen Theorie willen alles in Kauf nehmen, selbst den Verzicht auf das Grimmsche Wörterbuch, auf die Meinungsfreiheit und letzten Endes auch auf den Rechtsstaat. Ihnen ist nicht zu helfen. Zu helfen aber ist Deutschland, wenn seine Bürger bereit sind, ihre in Jahrhunderten erworbenen Freiheiten zu verteidigen.

Richard Wagner wurde 1952 im rumänischen Banat geboren. Er lebt als Schriftsteller und Publizist in Berlin. 2008 erschien bei Aufbau der Band «Es reicht. Gegen den Ausverkauf unserer Werte».