Anm. d. Red.: Dies ist die leicht gekürzte Fassung eines Textes, der zuerst
in dem Buch Horst Fritz (Hrsg.): Montage in Theater und Film, Tübingen
1993, S. 229-248, erschien. Dank geht an den Autor für das freundlichen
Einverständnis zur Wiederveröffentlichung. Dr. Bernd Kiefer doziert
Filmwissenschaft an der Universität Mainz.Bernd Kiefer
Kulturmontage im Posthistoire
Zur Filmästhetik von Hans Jürgen Syberberg
Liest man die heute schon reichlich nostalgisch angehauchten Rückblicke
auf die Blütezeit des Neuen deutschen Films in den siebziger Jahren, dann
stößt man auf die Namen Fassbinder, Schlöndorff, Wenders und
Herzog, vielleicht noch Kluge und Schroeter. Kaum aber noch fällt der
Name Hans Jürgen Syberberg. Das ist um so erstaunlicher, da Syberberg
damals im Ausland – und wo sonst, wenn nicht im Ausland, galt der Neue
deutsche Film als das, was er in der Bundesrepublik nie war: als kulturelle
Dominante – als der deutsche Filmemacher schlechthin angesehen wurde.
Seine Filme LUDWIG – REQUIEM FÜR EINEN JUNGFRÄULICHEN KÖNIG
(1972) und KARL MAY (1974) wurden in Paris fast euphorisch gefeiert. In Syberbergs
folgendem opus magnum, dem siebenstündigen HITLER, EIN FILM AUS DEUTSCHLAND
(1977), erblickte Susan Sontag in einem weitausholenden Essay gar „das
ehrgeizigste symbolische Kunstwerk unseres Jahrhunderts“, das, so schließt
sie, „zu jener Kategorie nobler Meisterwerke“ gehöre, „die
unbedingte Ge-folgschaft verlangen und sie auch erzwingen können“.
(Neben Susan Sontag äußerten sich auch Michel Foucault, J.-Pierre
Faye, Alberto Moravia und Heiner Müller sehr positiv über den HITLER-Film,
vgl. Eder 1980.)
Solche Gefolgschaft jedoch wurde Syberberg in der Bundesrepublik verweigert.
Der deutschen Filmkritik galt und gilt er als Wirrkopf. Antiaufklärerisches
Pathos, Manierismus, Geschichtsklitterung, Geschwafel oder schlicht Dummheit
warf die Kritik Syberberg dort vor, wo Susan Sontag romantische Ironie, surrealistische
Kombinatorik und ein kompliziertes „Montageprinzip“ erkennt, Ele-mente
der ästhetischen Avantgarde, die aus dem Film ein „Mosaik von Stilzitaten“ machen.
Freilich, auch Sontag entgeht nicht der Mangel an ge-danklicher Reflexion,
die Stillstellung von Reflexion in überladenen Bildern, hatte Syberberg
doch geschrieben, Hitler bekämpfe man nicht „mit Auschwitzstatistiken
und der Soziologie seiner Wirtschaft, sondern mit Richard Wagner und Mozart“,
mit den „Traditionen unserer Mythen“ und den „Kitsch-Welten,
die einmal staatstragend waren“. – „Eine Montage mit den
filmischen Mitteln des Irrationalen“, mit „Bausteine(n) mythischer
Welten“: so hat Syberberg die Ästhetik seiner Filme LUDWIG, KARL
MAY, HITLER und PARSIFAL (1982) umschrieben, jener Tetralogie, die er als „Arbeit
der Trauer“ über den Untergang Deutschlands, schließlich in
PARSIFAL und in DIE NACHT (1985) als Abschied von der untergehenden abendländischen
Kultur versteht. Film als Montage „auf der Basis europäischer Kulturasso-ziationen“,
nachdem nur noch „die Trümmer der Geschichte“ geblieben sind,
und „Irrationalismus in der Montage meiner Filme“, dies sind die
Prinzipien der Syberbergschen Filmästhetik, die „in irritierender
Unruhe“ sich „als ästhetische Nachfolge der 68er Generation
und der Popkultur“ ausgibt und zugleich den Anspruch des filmischen Gesamtkunstwerkes
auf Weltdeutung aufrechterhält.
Konnte Syberberg in der Tat hoffen, mit diesem ästhetischen Willen zum
Mythos, der den Wahnwelten Ludwigs II. und den Phantasmagorien Karl Mays durchaus
angemessen war, auch dann auf Ver-ständnis zu treffen, wenn er Hitler
sich als Sujet wählt? Es stellt sich die Frage nach dem Geschichtsverständnis
Syberbergs, die Frage nach dem Verhältnis seiner Filmästhetik zu
Geschichte und Politik. Syberberg hat sich in seinen Büchern und in Interviews
stets aufsehenerregend zwiespältig politisch geäußert. Insbesondere
seine Haltung zum Nationalsozialismus muß als für ihn beschämend
angesehen werden. In diesem Text geht es jedoch nicht um den politischen Stellenwert
von Syberbergs Äußerungen, sondern um den politischen Impetus seiner Ästhetik,
seines Werkes.
Montage, Irrationalismus, Mythos – schon dies ist eine Verbindung von „irritierender
Unruhe“, ist selbst eine Montage von Heterogenstem. In der klassischen
Montage-Theorie von Eisenstein bis Bloch und Adorno kommt der Montage eine
entmythisierende Funktion zu – sie sprengt als Logik des Produziertseins
des Werkes falsche Totalität, oktroyierten Sinn, um eine andere, verdrängte
Wahrheit einsichtig zu machen. Der Montage-Begriff, wie ihn diese Theorie-Debatte
konzipierte, steht im Schnittpunkt erkenntnistheo-retischer und geschichtsphilosophischer Überlegungen
und verweist auf den Konnex von ästhetischer Avantgarde und avanciertestem
gesellschaftlichen Bewußtsein. Damit aber wird diese Montage-Theorie
selbst historisch anfällig: Sie steht und fällt mit einer Deutung
der Moderne, die darauf setzt, daß Geschichte, Sinn und Subjektivität
nicht nur theoretisch erfaßbare Phäno-mene sind, sondern daß auch
deren Potentialität im Medium des Ästheti-schen sich erkennend aus
dem ideologischen Verblendungszusammenhang befreien läßt.
Montage-Kunst ist so zum ästhetischen Korrelat des ge-schichtsphilosophisch
ins Offene gedachten Projektes der Moderne gewor-den. Schwindet dieses geschichtsphilosophische
Vertrauen zum Bewußtsein, daß nur noch die „Erinnerung an
die Geschichte“ geblieben ist, dann er-fährt Montage eine Umfunktionierung.
Sie zielt auf die „assoziativ unent-wirrbare(n) Vertiefung eines epischen
Kosmos“ zur Raum-Zeit-Simulta-neität, in der Geschichte zur synchronen
Fläche ästhetisch disponiblen Sin-nes wird. Geschichte als „environment“,
das war aus der „Junk-Art“ eines Edward Kienholz etwa geläufig.
Was Syberberg aber schon in LUDWIG, seiner Vision des bayerischen „Märchenkönigs“,
mit den Rück-Projektionen, mit der Ton-Montage, mit der Bild-Montage von
Nibelungenmythos, Kunstwelten des späten 19. Jahrhunderts, Folklore, Kitsch
und Nazismus zu einer Phantasmagorie deutscher Träume und Alpträume
zu verdichten trachtete, was in KARL MAY, HITLER und PARSIFAL dann zu montierten
Panoramen des Steinbruches der Geschichte wurde, das ist als Montage-Kunst
nicht mehr auf ein rationales Deutungsmuster von Geschichte und von Sinn der
Ge-schichte beziehbar. Syberberg sieht Geschichte als einen katastrophalen
Prozeß, dem nur ein mythisch-ästhetisches Montage-Denken noch letzte
Bilder entreißen kann. „Montage stand an der Wiege des Films, der
Schnitt ist sein Herzschlag und die Wiedergewinnung der Aura des Mythos ein
ho-hes Ziel“. Es ist Syberbergs filmischer „Wille zum Mythos“,
der seine Montage-Ästhetik trotz gelegentlicher Hinweise auf Eisenstein,
Brecht und Benjamin zu deren Theorien in Widerpart setzt. Nur konsequent, daß Syber-berg
sich und seine Ästhetik zur „Anti-Moderne“ rechnet.
*
Um Syberbergs Anti-Modernismus zu erfassen, ist ein Rückblick auf die
Entwicklung der Montage-Theorie nötig. Schon in Grabbes Historiendramen
lassen sich Frühformen der Montage, Antizipationen erkennen, die sich
einem chaotischen Geschichtsbild verdanken, dem Telos und Sinn der Geschichte
sich in der Diskontinuität und Heterogenität immens beschleunigter
Abläufe des Geschehens verflüchtigen. Die-ser Geschwindigkeits-Koeffizient
der historisch-sozialen Prozesse wurde selbst der Historiographie zum Problem.
Daß ganz neue Rhythmen die Geschichte bewegen, daß jedes Geschehen
derart mannigfaltig ist, daß Details kaum zur Einheit sich runden und – narrativ – runden
lassen, dies bekundet schon der große Historiker Jules Michelet. Die
Heterogenitat und Widerstrebigkeit der historischen Kräfte kann nur punktuell
noch erfaßt werden, im kleinsten Ausschnitt, gleichsam im „Sekunden-Stil“.
So spielte Michelet mit dem Gedanken, seine Geschichte der Französischen
Revolution nicht nach Jahren, sondern nach Tagen, fast nach Stunden zu schreiben,
um der Vielfalt der Ereignisse gerecht zu werden. Nur so ließ Sinn, ließ die
historische „Wahrheit“ sich überhaupt noch konstruieren. Für
ein gänzlich anderes Medium der Darstellung von Realität hat Michelet
die Probleme erkannt, auf die die Montage-Theorie und Montage-Kunst dann reagierten:
die Frage, wie immens dynamisierte Abläufe in ihrer Diskontinuität
und Widersprüchlichkeit noch darstellbar sind.
Diese Problematik durchzieht die gesamte Filmtheorie Sergej Eisensteins. Der
Film als das „urbanistische Kunstwerk(e)“ der Moderne ist geprägt
vom ungeheuren Tempo der Zeit und von den Antagonismen der Realität. Wenn
Eisenstein der Montage-Technik von D. W. Griffith vorhält, sie sei „eine
Schule des Tempos und nicht des Rhythmus“, dann beklagt er die mangelnde
intellektuelle Durchdringung der gesellschaftlichen Widersprü-che, die
den Rhythmus der Zeit ausmachen. Indem Eisenstein diesen Mangel der bürgerlichen
Ideologie Griffith‘ anrechnet, expliziert er zugleich die erkenntnistheoretische
und geschichts-philosophische Position, die seiner Montage-Theorie das Fundament
gibt. Rhythmus der Montage meint eine „organische Einheitlichkeit“,
eine Einheitlichkeit im Spiel der Gegensätze, eine Einheitlichkeit der
Erscheinung der Realität, die in ihren Widersprüchen erkannt, gespalten,
neu zusammengesetzt und so neu begriffen wird. Montage im Sinne Eisensteins
gestaltet die historischen und sozialen Widersprüche, die dialektische
Logik von Geschichte und Gesellschaft; sie setzt eine ideologische Konzeption
in schnelle Bilder um und vertraut auf einen kon-struierbaren Sinn von Geschichte:
Montage entmythisiert, indem durch dialektische Logik die Tiefenstruktur der
Wirklichkeit erkennbar wird.
Die gesamte „klassische“ Montage-Diskussion der zwanziger und dreißiger
Jahre kreist um dieses Vertrauen in die Zielgerichtetheit der Geschichte, in
erkennbaren, darstellbaren und ästhetisch vermittelbaren Sinn. Von Ei-senstein
und Brecht gleichermaßen inspiriert, hat Ernst Bloch Montage als Konstruktion
und Erkenntnisvermittlung begriffen. Als „konstitutive Montage“ ist
sie ästhetische Produktivkraft und Politikum zugleich, denn sie baut aus
den Bruchstücken der Wirklichkeit neue Zusammenhänge auf; sie funktioniert
das Material, mit dem sie schaltet, derart um, daß die Wirklichkeit, ästhetisch
gegen den Strich gebürstet, die in ihr liegenden Möglichkeiten aufscheinen
läßt. Nichts anderes als die „revolutionäre Geburt der
künftigen Gesellschaft und Welt in der jetzigen“ soll Montage befördern. Überdeut-lich
ist das geschichtsphilosophische Pathos, das Montage hier zur ästhe-tisch-politischen
Produktivkraft der Moderne designiert.
Der dieser Kon-zeption immanente Rationalismus spricht sich in Walter Benjamins
Bestim-mung der Montage aus. Montage sprengt „mit dem Dynamit der Zehntelse-kunden“ die
Realität dergestalt auf, daß – wie in einem naturwissenschaft-lichen
Experiment – „neue Strukturbildungen der Materie zum Vorschein
kommen“, die auf ihr revolutionäres Potential zu befragen sind.
Montage „verwissenschaftlicht“ und politisiert die Kunst — bis
hin zur Pariser Gruppe „Cinéthique“ bleibt dies der „harte
Kern“ der klassischen Montage-Diskussion als Paradigma einer avantgardistischen
und zugleich politischen ästhetischen Praxis. Freilich, dem späten
Benjamin war das Zutrauen in die konstruktive und geschichtstreibende Kraft
der Montage schon geschwunden. In der Passagen-Arbeit, seinem großen
Versuch zur Rekognoszierung der Moderne, montiert Benjamin den „Abfall
der Geschichte“. Die Hoffnung, daß Montagebilder eine andere Konfiguration
von Realitätspartikeln offenbaren, die unmittelbar politische Erkenntnis
motiviert, war dahin. Michelets Problem, wie die in sich zerrissene Moderne
historiographisch-narrativ Gestalt annehmen kann, wurde zum Problem der Montage
als Sinn-Konstruktion. Was geschieht mit der Montage, und was geschieht durch
Montage noch, wenn die Einsicht, die in ihrem Ursprung steht, die Einsicht,
daß einem beschleunigten und jede Einheitlichkeit entbehrenden historisch-sozialen
Prozeß nur mit schnellen, diskontinuierlichen Bildern beizukommen ist,
wenn man Sinn, Telos und Wahrheit heraustreiben will, ungewiß wird? Was
ge-schieht mit Montage, wenn die Gewißheit schwindet, daß überhaupt
ein Sinn ist, der konstruiert werden kann?
Daß dies keine rhetorischen Fragen sind, kann man den Überlegungen
zur Montage-Theorie entnehmen, die der stets hellsichtige Siegfried Kracauer
schon zwischen 1928 und 1938 an-stellte. In seiner Kritik von Walter Ruttmanns
Montage-Film BERLIN - SYM-PHONIE EINER GROßSTADT (1927) beklagt Kracauer – wie
Eisenstein bei Grif-fith –, daß die Montage von Details der Realität
nicht einen sinnvollen Zusammenhang der Realität aufdecke, sondern alle
Partikel unverbunden ne-beneinander stehen lasse. Ist diese Kritik noch motiviert
vom großen Vorbild der sowjetischen Montage-Filme, so gerät dieses
Denkmal zehn Jahre später erheblich ins Schwanken. Anläßlich
eines Wiedersehens der frühen Filme Pudowkins bemerkt Kracauer, daß Montage
hier nicht einen vorfindbaren Sinn erkennend aus der Verzerrung befreit, sondern
subjektiv setzt. Pudowkins Montage „veranschaulicht“ nur, „was
er für den Sinn des Geschehens hält“. Selbst Eisenstein ist
der Kritik nun nicht mehr enthoben, entdeckt Kracauer doch jetzt in der Methode
der Montage die Präponderanz einer Geschichts- und Erkenntnistheorie,
die immer schon weiß, welcher Sinn dem Geschehen zu entnehmen ist. Was
Kracauer in Frage stellt, ist das ideologische Fundament der Montage-Konzeptionen,
das einer historischen Situation entspringt, „die von revolutionären
Energien bebt“, das aber zum Dogma wird, wenn der Realität alle
vitalen Energien abhanden kommen. wenn die Realität nicht mehr auf einen
Nenner gebracht werden kann. Dann läuft Montage leer und wird zu tableaux
vivants.
Kracauers Interpretation der Montage ist signifikant, fragt sie doch nach der
Erkenntnisleistung von Montage-Kunst unter Bedingungen, unter denen die Realität,
die Montage noch ästhetisch bewältigte, ihren Aggregatzustand völlig
veränderte. Wird Sinn disponibel, tendiert Montage zur Anschauung ohne
Begriff. Im Wandel der Montage-Theorie von der Sinngebung des ohnehin Sinnvollen über
die Sinngebung des Sinnlosen bis zu Adornos Auffassung, Funktion der Montage
sei es, „den Sinn (zu) negieren“, spiegelt sich die Krise der progres-sistischen
Geschichtsphilosophie und der ihr sekundierenden optimistischen Erkenntnistheorie
der Moderne. Seit Anfang der siebziger Jahre schießen Montage-Definitionen
ins Kraut unentwirrbaren Dickichts; die Montage-Theorie selbst ist jedoch ins
Stadium der Historisierung eingetreten. Als Peter Bürger 1974 in seiner
Theorie der Avantgarde Montage noch einmal zum Grundprinzip der avantgardistischen
Kunst ausrief, hielt er ihr zugleich den Nekrolog, denn er konstatiert das
Scheitern der Avantgarde. Mit einer einschneidenden Veränderung der historischen
Konstellation, für die sich die Begriffe Postmoderne und Posthistoire
eingebürgert haben, geht ein Wandel des Geschichtsbewußtseins und
des ästhetischen Bewußtseins einher, dem alle Sinn-Konstruktionen
suspekt sind, die auf theoretischen Totalitätskonzepten beruhen. So war
es nur konsequent, daß Andreas Kilb, ausgehend von Bürgers Montage-Begriff
und Benjamins Allegorie-Theorie, die Vorbild Bürgers war, die allegorische
Phantasie zum Kennzeichen einer Ästhetik der Postmoderne machte. Hat Geschichte
sich zur blinden Mitte des bewußtlo-sen Augenblicks, des reinen Moments
zusammengezogen, ist also alle Dy-namik in ihr zum Stillstand gekommen, wird
Montage im klassischen Sinne kraftlos. Sie weicht einem allegorischen Bewußtsein,
das die Trümmer der Geschichte zu einer räumlichen Figur zusammensetzt.
In dieser Simultanität kann, von allen Sinnpostulaten befreit, jeder Partikel
zu jedem anderen in eine assoziative Beziehung treten. Geschichte steht still;
ihre Bestände treten ein in das unbegrenzte Spiel ästhetischer Konstellationen.
*
Von dieser Überführung des modernen Montage-Konzeptes in das post-moderne
allegorische Bewußtsein füllt Licht auf Syberbergs anti-moderne
Montage-Ästhetik. Sie setzt auf irrationale Potentiale des Traums, nicht
auf rationale Durchdringung der Tiefenstrukturen des Realen. Sie verzichtet
auf die Gestaltung einer organischen Einheitlichkeit der Widersprüche,
auf dialektische Logik des Heterogenen, und favorisiert die Intensität
der Assozia-tion. Nicht um rationale Erkenntnisvermittlung geht es Syberberg,
sondern um irritierende Unruhe. Vor allem aber gibt er der Auffassung den Abschied,
Geschichte besitze eine sinnstiftende, einheitliche Struktur.
Es ist überraschend und nicht ohne Pikanterie, daß 1972, in dem
Jahr, in dem Sy-berbergs LUDWIG entstand, Jürgen Habermas, freilich ohne
auf Syberberg einzugehen, den historischen Ort dieses Films und der Syberbergschen
Montage-Ästhetik recht präzise bestimmte: „an der Schwelle
des posthi-stoire, wo die symbolischen Strukturen verbraucht und durchgescheuert,
ihrer imperativen Funktionen entkleidet sind“. Das war eine etwas abge-klärte
Definition des Posthistoire; bei Syberberg ist immerhin von dem Scheitern aller
historischen Utopien die Rede, von einer „Apokalypse“ und von der „Ahnung
vor der Zukunft des Endes aller Geschichte“. Dies Vergehen der Geschichte
wird von Syberberg zunächst als Entlastung emp-funden, als Befreiung von
unseren „mißbrauchten Utopien und Ideen“. Deren Kalvarienberg
zeigt Syberberg im PARSIFAL, seiner Adaption der Wagner-Oper. Dort steht Klingsor
auf einem Fels, zu seinen Füßen die (abgeschlagenen?) Köpfe
von Aischylos, Marx, Nietzsche, Wagner und Ludwig II., in Rückprojektion
montiert mit der „Liberté“ von Delacroix und dem Christus-Kopf
von Leonardo: das Abendland als Trümmerfeld. Ein solcher Blick auf die
Geschichte, ein solches posthistorisches Geschichts-verständnis bedingt
eine andere Ästhetik als die geschichtsphilosophisch-optimistische des
forcierten Modernismus; ja – erst das Überschreiten der Schwelle
zum Posthistoire setzt als letztes verbleibendes Gedächtnis das der Kunst,
des Filmes und der Kulturmontage in ein neues Recht. Film sammelt die Spuren
einer verschwindenden Welt. Was Syberberg montiert, das sind die frei gewordenen
Möglichkeiten in einer Trümmer-Welt, das sind die as-soziativ aufgerissenen
Räume zwischen den partikularen Bruchstücken von Geschichte und Kultur.
Keine bewegte Welt mehr zeigt Syberbergs Monta-ge, kein dynamisches in die
Zukunftstürzen, sondern Geschichte wird hier zum Zeit-Traum. Arbeit an
und in der Geschichte weicht der ästhetischen Traum-Arbeit mit den Resten
des Wachbewußtseins, das einmal Geschichte war.
Arnold Gehlen schreibt 1961 in dem Vortrag Die gese1lschaftliche Situa-tion
in unserer Zeit: „Je weiter die Zeit fortschreitet, um so deutlicher
wird daher die echte Überlieferung der europäischen Geschichte in
der Vergangenheit verschwinden, d. h. sie wird wie die griechische zum Bildungsgut
umgeformt und moralisch wie praktisch unverbindlich werden [...] Schließlich
taucht sogar der Gedanke als möglich auf, daß wir die Schwelle zum
post-histoire, zu einem nachgeschichtlichen Zustand bereits überschritten
haben könnten.“ Gehlen macht hier die in sich beschleunigte Zeit,
die beschleunigte Ge-schichte der neuzeitlichen Moderne, für das Verschwinden
der Geschichte überhaupt verantwortlich. Die rasende Geschichte wird autodestruktiv,
verzehrt sich selbst. Gehlen hat für diesen Zustand den Begriff der „kulturellen
Kristallisation“ geprägt: „Ich exponiere mich also mit der
Voraussage, daß die Ideengeschichte abgeschlossen ist und daß wir
im Posthistoire angekommen sind, so daß der Rat, den Gottfried Benn dem
einzelnen gab, nämlich 'Rechne mit deinen Beständen‘, nunmehr
der Menschheit als ganzer zu erteilen ist.“
Alle geschichtlichen Möglichkeiten und auch alle Alternativen sind durchgespielt
und realisiert worden; alles war schon da und ist nun ausgeschöpft – kristallisiert.
Nichts ist mehr zu erwarten. Vor allem die großen „Schlüsselattitüden“ haben
abgedankt, die aus Vielfalt Einheit, aus Interruptionen Kontinuität stiften
wollten. Was im Zustand der Kristallisation von Geschichte und Kultur noch
bleibt, das ist „das aufgestöberte Durcheinander von allen Ideen
und Motiven aus allen Zeiten und Windrichtungen“. Nach dem Ende der „Schlüsselattitüden“ kommt
es nun der Kunst zu, einen Kern-bestand, wie Gehlen formuliert, „mit
reizvoller Unverantwortlichkeit“ zu „umspielen“. Wir sind
hier nahe bei dem, was Syberberg die assoziative Montage nennt, die die historisch-kulturellen
Bruchstücke aus dem chronologischen Nacheinander herauslöst, um sie
in der filmischen Tiefe des leeren Raumes dann simultan montieren, umspielen
zu können.
Im aufgestöberten Durcheinander von allen Ideen und Motiven wird Ge-schichte
letztlich zum Mythos. Das ist die Pointe neuerer Posthistoire-Dia-gnose, die
Lutz Niethammer schon der Eindeutschung von „la posthistoire“ in „das
Posthistoire“ abliest. Offenbar soll, so Niethammer, „wo sie war,
'es‘ werden“, das Mythische, das kollektive Unbewußte, das
Träumen und Phantasieren, das sich der Vernunft in der Geschichte lange
unterwerfen mußte, nun aber, unter den Trümmern, wieder zum Vorschein
kommt. Syberbergs posthistorischer Wille zum Mythos zielt auf dieses Unbewußte,
auf das Irrationale des unreglementierten Wunsches, der Geschichte zu entragen.
Deshalb sind seine Helden Ludwig II., nicht Bismarck, Karl May, nicht Fontane;
und deshalb auch „Hitler“ nicht als Geschichte eines Menschen,
sondern als „Menschheitsgeschichte“, „die Katastrophe als
Film. Weltunter-gang, Sintflut, Kosmos im Verenden“. Syberbergs filmischer
Wille zum Mythos ist der Wille, der Geschichte jede Dynamik auszutreiben, sie
zum Stillstand zu bringen in Tableaux, in denen die Zeit zum Raum wird. Daher
rührt sein anti-moderner Affekt gegen die Montage-Konzeption Eisensteins, überhaupt
gegen die Auffassung, „Kino sei Bewegung“, gegen Montage als Beschleunigungsbild.
In jeder Beschleunigung erkennt Syberberg den ästhetischen Reflex der
alles auslöschenden Zeit der Moderne, den Reflex einer gestückelten
Zeit, die ihrerseits zergliedert und auslöscht. Für Syber-berg hat
das (Montage)-Kino selbst zum Verschwinden der Geschichte bei-getragen. Es
hat tabula rasa gemacht, als es meinte, Geschichte in einer ob-jektiven Form — als
Zeit-Bild gleichsam — darstellen zu können. Nun haben wir nur noch „die
Trümmer der Geschichte (...) und müssen nun die Mythen darunter suchen“.
Syberberg spricht neuerdings von einem „Lebensmodell Kunst“, das
als „Erkenntnis-Erinnerung“ fungieren soll, als letztes Gedächtnis
im Posthi-stoire. „Erkenntnis-Erinnerung“ hat nichts gemein mit
einem Vertrauen zu rationaler Erkenntnis oder untrüglicher Mnemotechnik.
Es geht Syberberg viel eher um das Ambivalente, das Ambiguente, um das Vage
eines aufblit-zenden Momentes, in dem durch Montage heterogene Materialien
zusam-menstoßen. Nicht Erinnerung an oder Erkenntnis von etwas soll befördert
werden. Beides hätte possessiven Charakter, wäre Besitz von „Wahrheit“.
Syberberg hingegen spricht von einer „musikähnlichen Wahrheit aus
Bildern und Tönen“ für „lange Meditationen intensiveren
Lebens“. Eine musikähnliche Wahrheit ist kaum fixierbar; sie ist
allenfalls ein Gewebe aus Ferne und Nähe – immer flüchtig.
Gleichwohl – der erklärte Anti-Modernist Syberberg zielt auf das „Gesamtkunstwerk
mit seinem Absolutheitsanspruch der Totalität“; er will einerseits
eine ästhetische Relativität irritierender Unruhe durch Montage – andererseits
will er die Totalität einer heilenden, einer erlösenden ästhetischen
Erfahrung. Das ist nur vordergründig ein künstlerischer Widerspruch.
Wesentlich ist es ein politischer
Fixpunkt des Syberbergschen Geschichtsverständnisses und seiner Ästhe-tik,
ja Fluchtpunkt im Sinne des Punktes, dem er durch seine Kunst zu ent-kommen
trachtet, ist die Französische Revolution, der Göttersturz der alten
Welt, nach dem eine Entsakralisierung und Profanierung des Lebens einge-treten
sei. In der vollends profan gewordenen Moderne entschwanden Mythos und Natur
als Mittelpunkte der Kunst; schließlich bleiben auch von der beschleunigten
Geschichte nur Fragmente. Wie nur ein Romantiker beklagt Syberberg den Verlust
der Mitte der Kunst, und wie die deutschen Frühro-mantiker will er ihr
mit einer neuen, einer künstlichen Mythologie eine neue Mitte schaffen,
die sie zur Totalität entfalten kann. Syberberg schließt an das
Projekt einer ästhetischen Revolution der Moderne aus dem Geiste des Mythos
an. Allein, die deutsche Suche nach dem verlorenen Paradies (Ludwig II. und
Karl May) langt immer in künstlichen Paradiesen an, in In-dividual-Mythologien
an der Grenze zum Wahn. Diesen Prozeß des Um-schlagens von Sinn-Suche
in Selbstzerstörung verfolgt Syberberg in LUDWIG und in KARL MAY. In HITLER
weitet sich das Seelenpanorama eines Mannes auf ein Volk, auf Europa, schließlich
auf den ganzen Globus aus. PARSIFAL konstatiert das Ende aller Sinn-Suche und
Erlösungshoffnung, die sich im Rahmen der Geschichte bewegt. Jetzt, nach
dem Ende der Geschichte, bleibt allein die Immanenz der Kunst, des Films, der
durch „Montagebilder der untergegangenen Welt“ zum „Ersatz
für verlorene Realitäten der Vergangenheit“ wird. Kunst ersetzt
die Geschichte als verlorenen Bezug des Menschen. Sie wird selbst zum „Lebensmodell“.
Indem Syberberg aber seiner Kunst den Anspruch auf Totalität zuschreibt,
erbt er – ohne es zu regi-strieren – die Problematik aller geschichtsphilosophischen
Totalisierungs-ideen: die Frage, wie der Wille zur Totalität es mit dem
widerständigen Be-sonderen hält.
„
Eine Phantasie meiner Art“, schreibt Syberberg in seinem Buch zum PARSIFAL-Film, „ist
nicht erfinderischer Natur (...) Das Eigene liegt in der Kombinationsfähigkeit
von Vorgefundenem zu etwas Drittem, Optisch-Akustischem, vielleicht zu Riechendem,
Tastendem, Schmeckendem.“ Bedeutsam ist hier zunächst die Absage
an das Prinzip der ästhetischen Mo-derne schlechthin: an die Innovation,
an das Schöpferische und originär Neue. Hinzukommt der Akzent des
eminent Sensuellen, der Synästhesie, die der Symbolismus zum ästhetischen
Prinzip erhob. Alle Sinne sollen zusam-mentreten, gleichsam „ineinander-montiert“ werden.
Erst in der so sich er-gebenden Totalität einer Interaktion der Sinne
schärft sich die Wahrnehmung des Film-Zuschauers für die assoziativen „correspondances“ (Baudelaire)
des kombinierten Materials, der Bruchstücke: „Riesige Bruchsteinlager
der alten Kulturen für Zitate, die sich zu neuen Kulturen schichten. Alles,
was wir zeigen, hören lassen, ist schon einmal benutzt, berührt worden,
und nur die Umordnung der Systeme und Bruchsteine ergibt, wenn es gelingt,
das Neue.“
Hier erscheint das Neue als Ziel ästhetischer Produktion wieder ins Recht
gesetzt, jetzt als Resultat einer umordnenden Kombinatorik — der Montage.
Syberberg spricht von Montage-Effekten als von „Bildvermengungen als
Entsprechungen hin und her“. Diese Entsprechungen erfolgen jedoch nicht
auf der Ebene der Organisation des filmischen Materials, sondern als Mon-tage
im Raum vor der Kamera und als Montage auf der Tonspur. Syberberg ist kein „Schneidetisch-Ingenieur“ (Manfred
Schneider) wie Eisenstein, Welles oder Kluge. Er ist allerdings auch kein Dadaist,
der es dem Zufall überläßt, wie der Gott der Kombinatorik das
Material aus dem Steinbruch der Geschichte fallenläßt. Zwar spricht
Syberberg vom Irrationalismus als dem Prinzip seiner Montage, doch steht dessen
Dominanz das Prinzip „geprüfter Zufälle“ entgegen. Ein
geprüfter Zufall ist als Prinzip des Kombinierens von heterogenem Material
alles andere als irrational. Der Ratio, sagen wir besser – der rationalen
Erkenntnis des Zuschauers kann sich jedoch die Bedeutung, der Sinn der Entsprechungen
entziehen. (Das war schon das Problem der Eisensteinschen Montage-Ästhetik.) – Syberberg
setzt darauf, daß der Augenblick der (synästhetischen) Wahrnehmung
von „Vermengungen“ im Montage-Bild identisch ist mit dem des Erkennens
von Entsprechungen des Montierten.
Auf die Herstellung dieser Identität zielt die „Erkenntnis-Erinnerung“,
die assoziativ ausgelöst wird, von ordnender und analysierender Ratio
nicht geregelt ist. Ihr Fundament soll das kollektive Unbewußte sein,
in dem sich Individualgeschichte und Kulturgeschichte in einem internalisierten „Bildkosmos“ decken.
Durch Montage-Effekte soll dieser innere Kosmos im Zuschauer aktiviert werden,
gleichsam wie in der „talking cure“ der Psychoanalyse, hier aber
weniger durch Sprache, sondern durch Bilder und Töne. Syberberg versteht
Montage so als eine das Verges-sene und Verdrängte im Bild-und-Ton-Gedächtnis
der Menschheit revozie-rende Arbeit, als Kulturmontage: „die Montage
verschiedenster menschlicher Anstrengungen“, Bilder, Welt-Bilder zu entwerfen,
die längst verschollen sind. Betont Syberberg hier die überindividuelle
Komponente der „Erkenntnis-Erinnerung“, so hebt er an anderer Stelle
gerade die subjektive Freiheit hervor. Der Zuschauer soll frei sein, selbst
zu kombinieren, da erst in ihm der Hintergrund der montierten Assoziationsketten
deutlich wird – als „Erfindungen fürs innere Auge“ versteht
er hier seine Filme. In Syberbergs Ästhetik läßt sich ein merkwürdiger
Widerspruch namhaft machen: der zwi-schen überindividueller Determination
der „Erkenntnis-Erinnerung“ und subjektiver Freiheit, zwischen
vorgegebener Totalität und der assoziativen Logik des Besonderen.
Die Syberbergsche Montage-Ästhetik richtet sich in toto gegen den episch-narrativen
Film, der sich als Spiegel des Lebens oder als historische Rekonstruktion ausgibt.
Montage ist zunächst Montage vor der Kamera. Syberberg baut im Studio
Panoramen mit Versatzstücken aus Geschichte, Malerei, Architektur, Filmgeschichte,
Alltagsleben auf. In diese Assemblagen stellt er Leinwände, auf die Bildmaterial,
Bildzitate aus allen Be-reichen der Geschichte und der Kunst projiziert und überblendet
werden. Die zweite Dimension der Montage ist die des gesprochenen Textmaterials.
Nicht nur können sich in Syberbergs Filmen Personen aus den unterschiedlichsten
Epochen der Geschichte begegnen, auch imaginäre Figuren treten auf. Die
Simultanität von Zeiten und die Gleichrangigkeit von „Realität“ und
Fiktion wird auch in den Texten manifest in einer Vielzahl collagierter, montierter
und kaum entschlüsselbarer Zitate. Sprache wird als „Sprachpartitur“ eingesetzt,
als intertextuelles Gewebe mit musikalischer Rhythmik. Die dritte Dimension
ist die Montage auf der Tonspur selbst. Hier montiert Syberberg Musik von Mozart,
Beethoven, Wagner und Mahler mit Schlagern und Volksmusik, dokumentarische
Textzitate, Zitate aus der Weltliteratur, häufig auch collagiert, und
Texte aus eigener Feder. – Der Zuschauer hat also drei Ebenen vor sich:
das, was er sieht, nämlich die im Raum montierten Kultur-Versatzstücke;
das, was die agierenden Schauspie-ler (und Puppen) sagen, zitieren, und schließlich
das, was er hört an Musik und weiteren Texten.
Alle Ebenen sind gleichwertig, gleich vielschichtig, von Leitmotiven durchzogen
(etwa dem Nibelungen-Mythos), zu Obertönen verdichtet (der Wagnerschen
Musik). Sie überlagern sich, können aber auch aufgebrochen, konterkariert
werden durch Verschiebungen innerhalb des Bildes und auf der Tonspur. Kennzeichnend
für Syberbergs häufig statische Einstellungen, die diese Panoramen
erfassen, ist die exzeptionelle Länge (sie können bis zu zehn Minuten
dauern) und die rituelle, stilisierte Langsamkeit der Bewegungen vor der Kamera.
Diese Weltrevuen mit ihren Assoziations-ketten, die sich aus Raum- und Klang-System
aufbauen, mit ihrer Beziehungs- und Verdichtungs-Technik, mit den Perspektivwechseln
und den Zitaten selbst in Objekten, mit ihrer Vermischung von Kunst und Kitsch,
von Weihe-Festspiel, Zirkus und Tingeltangel – sind sie politische Kunstwerke?
Ein Bild, eine Einstellung aus Syberbergs HITLER-Film. Im Off die Stimme des
Schauspielers Harry Baer: „Als die gute alte Demokratie des 20. Jahrhunderts
in die Jahre kam, schickte sie Boten in alle Richtungen, die den Grund des
Elends in der Welt erforschen sollten. Als die Boten zurückkamen, mußten
sie erfah-ren aus Ost und West, Nord und Süd, von allen Computern, den
Un-bestechlichen, wie man sagt, daß sie selbst, die Demokratie, die gute
alte, die Ursache allen Elends war, des 20. Jahrhunderts.“ Dazu sieht
man in einer Einstellung folgendes: „Das Kind steht auf und geht in die
Welt, im Arm einen Plüschhund mit dem Gesicht Hitlers, am gehängten
Hitler vorbei, durch weitere Grot-ten begegnet sie, groß auf sie zugehend,
der Projektion Lola Montez‘ aus dem Ludwig-Film. Es durchschreitet drei
Engel aus dem Bild der Tageszeiten von Runge, durchwandert den Zirkel Gottes
von William Blake [...] geht an den Nornen Wieland Wagners vorbei, geht durch
eine Caspar-David-Friedrich-Landschaft mit Dürers schwarzem Stein aus
dem Bild Melancholia und sieht ein neugeborenes Kind auf der Wiese aus Runges
Morgen. Dazu nach dem Ende der Götterdämmerung weiter Parsifal-Vorspiel.“
Die Frage nach dem politischen Charakter dieser Sequenz bleibt an der Oberfläche,
richtet sie sich nur an den manifesten Gehalt. Kombiniert man jedoch einmal
frei (Syberberg ermuntert ja dazu), dann wird ein Detail des Textes bedeutsam,
vielleicht ist es ein Verschreiben, ein Fehler der Gram-matik, vielleicht auch
nur ein Druckfehler – die Verwechslung/Vertauschung von „das Kind“ mit „sie“ im
Text des Drehbuches. Sie wirft ein erstes Licht auf den politischen Charakter
von Syberbergs Filmästhetik. Das Kind, das hier geht (es ist ein Mädchen),
durchzieht den Film als „es“, Symbol der Unschuld, der unbefleckten
Phantasie. In dieser Szene des Films jedoch wird – forciert durch den
im Off gesprochenen Text über die Demokratie als Ursache allen Elends
des 20. Jahrhunderts – aus dem „es“, das die ge-schichtlichen
Räume und Kunstwelten durchwandert, unversehens „sie“ – die
Demokratie, den Plüschhund Hitler im Arm, den sie kurz darauf wie ei-nen
Säugling in die Wiege bettet. Aus dem mythisch-unschuldigen „ES“ wird
erst „SIE“, die Demokratie, die alles Heilige entweiht, alle Unschuld
korrumpiert, dann wird „ER“, der Führer, Hitler. Den Transformationspro-zeß verstärkt
die Musik-Montage, die von Götterdämmerung zum Parsifal--Vorspiel
schaltet, von der musikalischen Phantasmagorie des Untergangs zur mystisch-religiösen
Erlösungssehnsucht, in der das „Nichts wohnt“ (Adorno). Syberbergs ästhetische
Konstruktion des historischen „Ereignisses“ Hitler zieht alle assoziative
Kraft aus Kunstwelten, aus dem Imaginären, ausgespannt zwischen den beiden
Polen eines katastrophischen, eines eschatologischen Geschichtsbildes: dem
Paradies und dem Inferno. Zwischen diesen Polen löst alle Realität
sich auf zum Zeichen von Unter-gang und Übergang, zum Zeichen einer mythischen
Passage, in deren Ver-lauf alles auf „IHN“, den Führer, hindeutet,
hinarbeitet. Das ist keine ästhe-tische „Erkenntnis-Ennnerung“ mythischer
Residuale der Moderne, das ist die ästhetische Überführung von
stillgestellter, kristallisierter Geschichte in mythisches Schicksal. Syberbergs
Montage-Ästhetik will einerseits das Film-Kunstwerk als optisch-akustisches
Gefüge frei flottierender Fragmente, das im Zuschauer sich neu zusammensetzt;
er will andererseits Film als ein „Lebensmodell“, das das kollektive
Unbewußte derart reaktiviert, daß „Erkenntnis-Erinnerung“ das
wahrnehmende Subjekt in mythisch gedeuteter Kollektivität aufgehen läßt.
Zwischen der Tendenz zur ästhetischen Entfes-selung von Bedeutungsvielfalt
und der zur Unterwerfung dieser Vielfalt in einem „Lebensmodell wird
der politische Impetus von Syberbergs Ästhetik deutlich.
Die Entfesselung der Bedeutungsvielfalt von heterogenem Material ist die Chance
der assoziativen Montage nicht nur zur „Revolution in der Darstellbarkeit“ von
Welt, sondern auch dazu, im Rezipienten „neue Systeme des Denkens und
Fühlens“ entstehen zu lassen. So wird – produktionsästhetisch – gebundene
Bedeutung entfesselt; so wird – rezeptionsästhetisch – die
Phantasie des Zuschauers, seine ästhetische Wahrnehmung sensibilisiert,
also aus den Konventionen normierten Wahrnehmens befreit. Diese Dimen-sion
der Montage-Ästhetik verbindet Syberberg mit der radikalen Moderne und
Avantgarde, insbesondere mit dem Surrealismus, mit dem Syberberg auch die Fixierung
auf die Traum-Logik und das Unbewußte teilt. Durch Montage-Effekte kann
das optisch und akustisch „Unbewußte“ zum Er-scheinen gebracht,
sichtbar und hörbar gemacht werden im Assoziationsgefüge. So gesehen,
ist auch die Ablösung des linear-kausalen, des chronologi-schen Geschichtsbildes
durch posthistorische Simultaneität, durch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen
und die Parallelität von Realität und Fiktion eine Chance: die nämlich,
Dinge, Figuren, selbst Ereignisse neu zu kombinieren, assoziativ in neue Konstellationen
und Konfigurationen zu stellen, nachdem deren historisch eindeutiger Sinn sich
verflüchtigte.
*
Die Entfesselung historisch gebundenen Sinnes zur Polysemie und Polyvalenz,
die Syberbergs Montage-Ästhetik befördern will, ist die Möglich-keit
der (post)-avantgardistischen Kunst, das Material der Moderne mit „reizvoller
Unverantwortlichkeit zu umspielen“ (Gehlen). So spricht Syber-berg von
der „Wiedereinführung und Rehabilitierung der Allegorie“,
die Sinn zu Sinn-Partikeln dekonstruiert und so einen schier unendlichen Bedeutungs-Surplus
entstehen läßt. Alle Eindeutigkeit zergeht im „Wahnwitz des
Augenblicks“ ästhetischer Wahrnehmung, in dem die Bild- und Ton-Montagen
im Kopf des Zuschauers zu neuen Gefügen zusammentreten. Sol-che Plötzlichkeit
suspendiert die Kontinuität der Zeit- und Raum- Erfahrung. Von „Urblitze(n)
der Erfahrung“ ist bei Syberberg die Rede, die nach dem Abräumen
historischer Schichten der Erfahrung als plötzliche Einsichten in die
Gespaltenheit des Sinnes und der Sinnlichkeit fungieren könnten. Dies – wir
bleiben im Konjunktiv – wäre die Chance einer Ästhetik des
Posthistoire als allegorische Phantasie, die Syberberg umreißt als „monologische
Struktur in der dialektischen Form des maskierten Ich, Aneinanderreihung von
Texten statt Charakterfiguren, Musik, Gegenstände von allegorischer Bedeutung,
archaisch wirkende Bilder im Sinne seelischer Vorgänge, sich überlagernd,
gegeneinander geführt, Fragmentarisches, Skizzenhaftes.“
Die Tendenz einer solchen Ästhetik, die Zeiten zu Bildern und Tönen
schichtet, montiert, läßt lineares Denken zugunsten von zyklischem
Denken hinter sich. Alles kehrt ihr als Bildpotential wieder, alles ist ihr
verfügbar. Wo die postmoderne Ästhetik sich jedoch in allen Spielarten
der Retotalisierung des Fragmentarischen und Skizzenhaften verweigert, den
Verlust des Sinnzusammenhanges als fait accompli bejaht, da spricht Syberberg
seiner Ästhetik des Posthistoire eine Totalitätsabsicht zu, hinter
der die Gewißheit steht, „daß wir Gefangene sind übergeordneter
Gesetze“, die zu befolgen sind als die Gesetze eines zum „Erhabene(n)“ remythisierten
Schicksals, das nie sich wandelt. Syberbergs radikale Anti-Moderne kehrt sich
ebenso ge-gen die Postmodeme des „anything-goes“, der auch der
Mythos zum Spielmaterial wird.
Die Montage im Posthistoire unterstellt sich übergeschichtli-chen Gesetzen,
um eine neue Ganzheit und Einheit zu stiften, deren Vorbil-der sie doch der
Geschichte entnimmt: das Gesamtkunstwerk Richard Wagners und dessen Mytho-Politik
und – aus der Haltung moralischer Indifferenz heraus – die vom „Mythos“ Hitler
bewirkte „Identität von einem Mann und einem Volkswillen und Charakter“.
Syberbergs „neue Metaphysik als Mythos per Film“ nimmt die ästhetischen
Potentiale der Montage-Technik in den Dienst einer Kunst-Politik, die „Urblitze
der Erfahrung“ nur entzün-det, um aufblitzende Erfahrung jeder Subjektivität
zu entziehen und einem Unterbewußtsein zuzuschlagen, in dem Individuum
und Kollektiv identisch sein sollen. So soll – gleichsam dionysisch – das
Individuationsprinzip äs-thetisch gesprengt, die Differenzierungsstrategie
der neuzeitlichen Moderne ausgehebelt werden, auf daß ein Identifikationsmuster
entsteht, das lebens-praktisch wirksam wird. Syberbergs Ästhetik legt
es auf mythisch-kollek-tive, entdifferenzierte Identität an, nicht auf
die ästhetisch-blitzhafte Einsicht in jene Vielfalt und in jene Frakturen,
aus denen die Moderne und das mo-derne Subjekt bestehen.
Das „Lebensmodell Kunst“, aufgeladen mit My-thoskonzepten und metaphysischen
Absolutheitsansprüchen aus dem kultu-rellen Reservoir des Abendlands,
soll die Wunden heilen, die Geschichte schlug. Letztlich beharrt Syberberg
darauf, daß auch Montage zurückzutre-ten hätte, lassen sich
doch nie die Spuren des Subjektiven an und in ihr ganz tilgen: „und statt
Montage diese Welterlösung als Selbsterlösungswerk im Spiel der Mittel,
die unsere Zeit uns gab – und das ist hier der Film“. Hatte die
klassische Montage-Konzeption die Herstellung von Denkbildern im Sinn, die
einer vertieften Apperzeption und Erkenntnis von Realität dienen, so ebnet
Syberbergs Ästhetik die Differenz von Subjektivem und Objekti-vem überhaupt
ein, die Montage dialektisch vermittelt. Film soll im Spiel der Mittel eine
neue „paradiesische“ Undifferenziertheit aufscheinen lassen, die
noch in ihrer profanen Form als ästhetischer Zustand „Erlösung“ vom
Leid moderner Subjektivität wäre.
Syberbergs Ästhetik tendiert zu einer Ästhetik der Überwältigung
der Subjekte, denen „Erlösung“ von der Moderne verordnet wird.
Daß der heilsgeschichtliche Topos des Paradieses sich einzig der Erfahrung
eines unaufhebbaren Bruches von mythisch gedeuteter Vor-zeit und profaner Geschichte
verdankt, diese Einsicht verweist Syberberg ins Reich der Fiktionen der Moderne.
Jeder historische Bruch mit Mythos und mythisch gedeuteter Kollektivität
gilt Syberberg als tragisch, aber als zu schließende Wunde durch Kunst.
Sie soll das Ja aus der Tragik der Geschichte sprechen. Der erste Preis, der
für dieses Ja zu entrichten ist, ist die Preisgabe des Subjektes, des
schlechthin Besonderen und Einzelnen.
In Kunst, wie Syberberg sie will, wird nicht auf das Subjekt gezielt, sondern
auf den „Tempel, das Schloß, das Andachtsbild, de(n) heilige(n)
Text, die Musik als Klang der Sphärenwelten“, auf die Manifestation
einer von Ge-schichte (scheinbar) nicht betroffenen Autorität. So kehrt
eine Ästhetik, die zunächst auf Trümmer der Geschichte setzt,
zu einer Kunstauffassung zu-rück, in der sich die Einheit eines souveränen
Willens zur Schöpfung mit der Macht, ihn durchzusetzen manifestiert. Die
absolute Kunst als „Selbsterlösungswerk“ wird absolutistisch.
Das ist der historisch-politische Kern von Syberbergs Anti-Moderne, denn diese
Kunst bezieht ihre Energie aus einem Willen zur ästhetischen Schöpfung,
dem – wie beim Bau von Tempeln und Schlössern – auch Menschen,
auch Subjekte nur Material sind, das sich wie Dinge kombinieren, „montieren“,
schließlich konsumieren läßt.
Syberbergs Montage-Ästhetik auf der Basis europäischer Kulturassoziatio-nen
und der Bild- und Tonvermischungen ist inspiriert von der Avantgarde und deren
Angriff auf allen autoritär gesetzten Sinn. Sie wird jedoch selbst autoritär,
ja totalitär, durch ihren affirmativen Gestus, durch das unbedingte Ja
zur Preisgabe des Subjekts, zu seiner Unterwerfung. Was im Montage-Kunstwerk
an Bruchstücken der Kultur und Geschichte zur Einheit eines Lebensmodells
zusammentritt, das soll – so will es Syberberg – nur Vor-schein
sein, Vorschein des „zum Kunstwerk gewordene(n) Leben(s) des zum Staat
geronnenen Volkes“. Dieser posthistorische Ästhetizismus, der sich
aller Einsichten in die gefährlichen Konsequenzen eines zum Staat und
im Staat „geronnenen“ Lebens entschlagen zu können meint und
sich eine „dorische Welt“ (Gottfried Benn) herbeihalluziniert,
funktioniert ästhetische Avantgarde in politische Anti-Moderne um und
bleibt darin, gerade darin — erschreckend modern.
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