„EIGENTÜMLICH FREI“ – Dezember 2010 – 13. Jg. – Nr. 108 (S. 43-45)
Hans Jürgen Syberberg zum 75. Geburtstag
Das Leben als Traum
Nossendorf als Zellkern
von Ingo Langner
Im Sommer 1990 wird Hans Jürgen Syberberg von bundesdeutschen Neojakobinern mit einem eliminatorischen Bann belegt. Nachdem ihn Werner Fuld in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (vom 24.8.) mit einer anmaßenden Geste für satisfaktionsunfähig erklärt: „Wo über Kultur gesprochen wird, hat Syberberg nichts mehr zu suchen“ und Frank Schirrmacher auf derselben Zeitungsseite seinen Segen dazu gibt, nennt ihn Hellmuth Karasek im „Spiegel“ (Nr.36/90) einen: „Mann mit einer grausigeren Macke als diejenigen Kranken, die sich für Napoleon oder Beethoven halten. Ein Hitler für eine geschlossene Anstalt“.
So rigoros sind die selbsternannten Kulturscharfrichter noch nicht einmal mit Ernst Jünger verfahren. Wobei der Vorwurf dort wie hier der nämliche ist. Denn was sie Syberberg ankreiden, ist - wie könnte es anders sein - „Antisemitismus“ und „Nazitum“. Exakt nach dieser Diffamierungsmethode wollte man auch Thilo Sarrazin mundtot machen. Was bei Sarrazin zum Glück mißlingt, ist im Fall Syberberg höchst erfolgreich. Während sein Ruhm im Ausland ungebrochen bleibt, wird er in seiner Heimat zwanzig Jahre lang totgeschwiegen.
Was aber ist im Sommer 1990 geschehen? Warum wird just zu diesem Zeitpunkt ein Mann zum Paria erklärt, dessen Film „Ludwig“ die französische Kritik zum Meisterwerk erhebt, dessen „Parsifal“ bei den Filmfestspielen in Cannes das Publikum hinreißt und dessen siebenstündiger „Hitler ein Film aus Deutschland“ Susan Sonntag zum Jahrhundertereignis kürt und den Francis Ford Coppola höchstpersönlich in New York präsentiert?
Die Antwort darauf findet sich im Buch „Vom Unglück und Glück der Kunst in Deutschland nach dem letzten Kriege“ (publiziert bei „Matthes & Seitz). Dort fordert Syberberg nach dem Totalzusammenbruch der kommunistischen Ideologie dazu auf, nun auch die zeitgenössische Kunst auf Herz und Nieren zu prüfen. Deswegen heult die deutsche Kulturlinke auf und verteidigt verbissen ihre Deutungshoheit über all das, was sie so „Aufklärung“ nennt. Der Berliner Mauerfall hat die Politischkorrekten geschockt. Sie fürchten, die Tage der Umwertung aller Werte könnten gezählt sein. In dieser für sie verzweifelten Lage, kommt ihnen Syberbergs Polemik gerade recht. Sein Nachdenken darüber, welchen Anteil marxismusverliebte Intellektuelle wie beispielsweise Theodor W. Adorno am Absolutheitsanspruch einer Ästhetik des Dissonanz, der Enge und der Unzugänglichkeit haben, wird antisemitisch gedeutet – naturgemäß.
Syberbergs ausführliche öffentliche Antwort, in der er zurückfragt, ob „denn nun die Erkenntnis, die hier angegriffen wird, nämlich die unheilvolle Allianz linker Positionen, sagen wir von Marxisten und Juden schon gleich antisemitisch ist?“ und seine Erinnerung daran, daß „der deutsche Intellektuelle nach dem Kriege nicht links und nicht rechts, nur unglücklich“ war, darf zwar am 6. September 1990 in der FAZ erscheinen, doch sieht „die Zeitung keinen Anlaß, ihre scharfe Kritik zurückzunehmen“, wie „die Redaktion“ abschließend feststellt.
Manche sehen das anders. Was sie in ihren Briefen an die FAZ auch deutlich machen. „Eine Vorliebe des Filmregisseurs für temperamentvolle, farbig-impulsive Wortkaskaden sollte den Kritiker nicht dazu verleiten, mit Killerwörtern dagegen zu schlagen. Syberberg kann sich nicht damit abfinden mit einer Ästhetik, in der es kein tragisches Lebensgefühl mehr gibt und die Phantasie zu kurz kommt. Sein Schmerz über den Waldbrand der Abstraktion (so Kierkegaards Worte) und den Verlust der Einfalt ist ein durchaus echter und bitterer Schmerz.“, schreibt ein Leser und trifft damit den Nagel auf den Kopf.
Syberbergs Buch, das nach des Autors eigenen Worten „am Anfang eine Analyse der Kunst der vergangenen 45 Jahre versucht, mit Thesen vom Kleinen, Schmutzigen und Kranken als Regeln der Nachkriegsästhetik, (und es) gründet letztlich auf einer künstlerischen Hoffnung, trotz der Spaltung und Zertrümmerung nicht nur des Atoms und des Landes und des Kontinents, sondern auch der Seelen. Es meint jene künstlerische Hoffnung, die Glücksmomente möglich macht von Umarmung und Symbiose, jenseits aller Erziehungsabsichten und Unterwerfungsriten des alltäglichen Feuilletons.“ Wir sehen, Syberbergs geistige Koordinaten befinden sich weit jenseits des Mainstreams. Metaphorisch gesehen sind sie bei Länge: 12.95/E 12° 57' 0'' und Breite: 53.9667/N 53° 58' 0'' sogar auf der Landkarte verzeichnet. Exakt dort nämlich liegt das vorpommersche Nossendorf.
Von Marcel Proust wissen wir, daß die Kindheitsorte niemals vergehen. Wie Proust, hat sich auch Syberberg auf die Suche nach der verlorenen Zeit begeben. In seinem Oeuvre ist Nossendorf Alpha und Omega. Auf dem väterlichen Gut wird das Kind zum Knaben, und als den braunen Barbaren die roten nachfolgen und seine Familie vertreiben, wird der Nossendorfer Gutshof zum imaginären Nukleus, in dem Fritz Kortner, Arthur Schnitzler, Romy Schneider und James Joyce ebenso ihren Platz haben, wie Karl May, Adolf Hitler, Richard Wagner mit seinem ganzen Haus Wahnfried und der bayerische Märchenkönig Ludwig noch obendrein. Syberberg verliert im scheinbar Unvereinbaren nicht die Orientierung, weil er in die Schule von Friedrich Hölderlin und Heinrich von Kleist gegangen ist. Beide Dichter sind ihm Mitte und Maß. Oder um es mit Susan Sonntag zu sagen: „In noch stärkerem Maße als Eisenstein macht Syberberg mit der Verheißung ernst, daß der Film die Synthese aus bildenden Künsten, Musik, Literatur und Theater sei“.
Syberbergs Lebenswerk umfaßt einundzwanzig Filme, sechs Theaterproduktionen und unterschiedliche Installationen, die auf der Kasseler Dokumenta, im Pariser Centre Pompidou und in der Kunsthalle Wien zu sehen waren. Die bislang letzte Installation hat Syberberg „Das Nossendorf-Projekt“ genannt. Sie wird derzeit (noch bis zum 8. Dezember) im Berliner Museum für Film und Fernsehen präsentiert und zeigt, eingerahmt von autobiographischen Lebenssplittern, ein einstündiges Amalgam aus den cineastischen Wundern „Die Nacht“ und „Ein Traum, was sonst?“. Was jenen Betrachter, der ein hohes Maß an Spürsinn, Konzentration und Geistesgegenwart mitbringt, mit dem beschenkt, was wir Erkenntnisglück nennen.
Wie Hölderlin weiß Syberberg: „Wie du anfingst, wirst du bleiben“. Denn „so viel auch wirket die Not und die Zucht, das meiste nämlich vermag die Geburt, und der Lichtstrahl, der dem Neugebornen begegnet“. Wie Kleists „Michael Kohlhaas“ verzehrt sich Syberberg mehr als die Hälfte des Lebens danach, das Eigene in jenem Zustand zurückzuerhalten, in dem man es ihm geraubt hatte. Kohlhaas erhält seine einst edlen Rosse als todgeweihte Schindmähren zurück. Hans Jürgen Syberbergs Sehnsuchtsort ist im November 1989 im nämlichen schrecklichen Zustand.
Wie sehr Haus und Hof ruiniert und wie erstaunlich dem wahren Hausherrn nach dem Rückkauf die geistige Wiedergeburt des Gutes gelingt, zeigen Videoprojektionen, die man „Eine Traumnacht, was sonst?“ nennen könnte. Dieses mondzugewandte Reich gehört Edith Clever allein. Mehr als zehn Jahre war sie Syberbergs Muse. Ihre „nächtliche“ Sinnlichkeit sprengt Raum und Zeit, ihre Präsenz im Endzeitinferno des deutschen „Traums“ ist ein Mirakel. Wer wie die Clever Goethes Gang zu den Müttern in „Faust II.“ zum theatralischen Urerlebnis schlechthin zu gestalten vermag, dem ist es auch möglich, uns mehr als wahrscheinlich erscheinen zu lassen, daß in einer pommerschen Nußschale Menetekel und Weltgericht ebenso ihren Platz haben, wie in den schier endlosen deutschen Trümmerlandschaften vom Mai 1945.
Was er als Kind gelernt, hat auch der Gereifte nicht vergessen: um die Gesellschaft der Menschen auch im Kleinsten nicht in den Orkus rauschen zu lassen, muß die Kirche im Dorf bleiben. Der immer anders verkleidete „allböse Feind“ weiß das. Darum will er Kreuz und Altar vernichten – jederzeit. Mit Hilfe von Gönnern und guten Freunden ist es Syberberg in den letzten Jahren gelungen, seine alte Nossendorfer Taufkirche wieder in einen ansehnlichen Stand zu bringen. Jetzt fehlt noch die Restitution des Turmes, den die SED-Kommunisten in einer Nacht und Nebel-Aktion geschliffen haben.
Hans Jürgen Syberbergs Gesamtwerk ist hellsichtig und tiefgründig zugleich. Es durchleuchtet das mörderische 20. Jahrhundert wie nur wenige sonst. Das ist so, weil Syberbergs Maßstab das Gute, Wahre und Schöne ist, für den es bekanntlich keinen Ersatz gibt. Was Syberberg fehlt, ist schnell aufgezählt. Er hat, als es noch genau darauf ankam, weder Karl Marx gelobt noch Siegmund Freud ein Denkmal gesetzt und seinen zeitgeistsüchtigen Landsleuten einmal zuviel die kalte Schulter gezeigt. Wer nicht linientreu ist oder wenigstens windschnittig, der wird unter den Verkäufern transzendenzfeindlicher Seifenblasen, die allwöchentlich irgendwo zwischen Kulturleitartikel und Late-Night-Show zerplatzen, nur wenige Mitstreiter finden.
Hätte sich Syberberg auch nur einen einziges Mal vor dem intellektuellen Mainstream in den Staub geworfen, sein Werk wäre „Kult“. Wir jedenfalls stellen es auf eine Stufe mit Andrei Tarkowski - über den Ingmar Bergmann gesagt haben soll: „Tarkowski ist für mich der bedeutendste, weil er eine Sprache gefunden hat, die dem Wesen des Films entspricht: Das Leben als Traum.“ In Nossendorf lebt Hans Jürgen Syberberg heute diesen Lebenstraum. Wer will, kann ihn dort jederzeit virtuell besuchen. Im Internet gibt sein Tagebuch über den Fortgang der Dinge Auskunft. Syberberg ist in Erfüllung gegangen, was Heinrich von Kleists Prinz von Homburg hymnisch beschwört: „Ich will auf meine Güter gehen am Rhein, da will ich bauen, will ich niederreißen, daß mir der Schweiß herabtrieft, säen, erndten, als wär’s für Weib und Kind, allein genießen, und in den Kreis herum das Leben jagen, und wenn ich erndtete, von Neuem säen, bis es am Abend niedersinkt und stirbt.“
Nach zwanzig Jahren des Wegsehen und Weghören scheint man sich in Deutschland jetzt endlich dann doch daran zu erinnern, daß Hans Jürgen Syberberg immer noch unter den Lebenden weilt. Kennzeichnend dafür sind nicht nur die bereits erwähnte aktuelle Berliner Installation und eine Filmretrospektive im Zeughauskino des Deutschen Historischen Museums, wo in den Adventwochen Syberbergs „Deutsche Trilogie“ (das sind „Ludwig“, Karl May“, „Hitler“), sein „Parsifal“ und die Langfassungen von „Traum“ und „Nacht“ gezeigt werden. Auf eigene Weise bedeutsam ist auch, daß ihm vom Bundesland Mecklenburg-Vorpommern kürzlich in Schwerin – in dessen Staatlichem Museum Syberberg bereits im November 2008 ein Kunstprojekt zeigen konnte - der „Friedrich-Lisch-Denkmalpreis 2010“ verliehen worden ist. In der Begründung heißt es: „Der Friedrich-Lisch-Denkmalpreis wird insbesondere für vorbildliche Leistungen zur Rettung und zur Erhaltung von Bau- und Kunstdenkmalen, der überzeugenden Verbreitung des Denkmalpflegegedankens in der Öffentlichkeit und dem behutsamen Umgang am Projekt Gutshaus Nossendorf vergeben“. Der Preis ist mit 4.500 Euro dotiert. Wie Syberberg selbst mitteilt, wird er das Preisgeld zum Wiederaufbau des Nossendorfer Kirchturms verwenden.
Wie wir aus dem Alten Testament vom Prediger Kohelet wissen, hat „ein Jegliches seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde“. Nach Kohelets lange Liste, die sterben und pflanzen, töten und heilen, abbrechen und bauen, weinen und lachen, klagen und tanzen, suchen und verlieren, zerreißen und zunähen, schweigen und reden ebenso enthält wie den berühmten Satz „Lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit“ könnte für Hans Jürgen Syberberg zwei Jahrzehnte nach dem Frankfurter „Urteil“ jetzt endlich die Zeit der Würdigung eines Kunstlebenswerkes angebrochen sein, das in Deutschland seinesgleichen nicht hat. Am 8. Dezember 2010 vollendet Syberberg sein fünfundsiebzigstes Lebensjahr.