Tagespost
Katholische Zeitung für Politik Gesellschaft und Kultur

Feuilleton - Ausgabe Nummer 115 vom 28.9.2010

Tradition ist hier unzulässiger Zwang

Ein Blick auf die Hintergründe des Musikfests 2010 der Berliner Festspiele Von Ingo Langner

Das „musikfest berlin 10“ spannte in diesem Jahr einen weiten Bogen. Man begann mit Bachs „Kunst der Fuge“ und schloss mit drei Werken von Pierre Boulez. Dazwischen gab es in vierundzwanzig Konzerten Berlioz, Berg, Berio, Bartok, Debussy, Prokofjew, Strauss, Strawinsky, Wagner, Webern. Vor allem von Luciano Berio und Boulez gab es reichlich.

Das Programm wurde dargeboten von 37 Solisten, 27 Chören und berühmten Orchestern und Dirigenten; so beispielsweise das Koninklijk Concertgebouworkest Amsterdam mit Mariss Jansons, die Staatskapelle Berlin mit Daniel Barenboim und die Berliner Philharmoniker mit Sir Simon Rattle.

Für Johann Sebastian Bach war Komponieren und Musizieren Gottesdienst. Leibniz hat seine Musik ein „arithmetisches Exerzitium der Seele“ genannt. Goethe wusste beim Hören, dass sich dort „die ewige Harmonie mit sich selbst unterhält“. Bach selbst hat in der „Kunst der Fuge“ seine Theologie der Musik verteidigt.

Was Pierre Boulez verteidigt – und mit ihm die Schule der Neutöner – ist die Allmacht des eigenen Egos. Diese Leute – sie nennen sich selbst „die Moderne“ – sind die Vollzugsbeamten einer Ausschließlichkeitsideologie, die alles zu Material macht, was vor ihnen war und den hybriden Anspruch erhebt, dass nur die eigenen Werke im Hier und Jetzt eine echte Daseinsberechtigung haben.

Boulez interessiert an Bach bloß „eine Technik der Form, die auf äußerste Einheit zielt und ein Mutterverhältnis zwischen Schreibweise und Architektur stiftet“. Was Boulez mit dieser auf intellektualistische Einschüchterung zielende sinnferne Sentenz eigentlich sagen will, ist dies: wir pfeifen auf Bach und die Tradition, die er verkörpert. Denn Tradition ist für uns unzulässiger Zwang. Für Boulez ist Johann Sebastian Bach ein „Kraftmoment“ – mehr nicht.

Was Boulez und seine Geistesverwandten betreiben, ist Dekonstruktion. Man zerlegt das Vorhandene in seine Bestandteile und setzt es „irgendwie“ neu zusammen. Was dabei im glücklichsten Fall entsteht, sind ins Nichts mäandernde Klanggebilde, oft aber bloß Kakophonie.

Damit spiegeln die Neutöner das Jahrhundert, das sie gebar. Nicht von ungefähr ist es das Zwanzigste. Also das Zeitalter des Totalitarismus und zweier Weltkriege. Also jene Epoche, in der die 1789 aus der Französischen Revolution entbundene „Göttin der Vernunft“ die Hirne der Völker und ihrer Vordenker nach zähem Ringen endlich erobert hatte und im „systematischen Aufbau des Kommunismus“ und in der „industriellen Lösung der Judenfrage“ kulminierte und gemeinsam mit abermillionen Menschen in den Orkus stürzte.

Dort liegt diese vermaledeite Göttin nun als Untote und leider immer noch röchelnd im Staub, und dieses Röcheln haben Boulez et tutti quanti aufs Notenpapier gebracht. Lediglich einige wenige, wie beispielsweise Luciano Berio, scheinen geahnt zu haben, dass die instrumentale Verfremdung von industriellem Lärm ins Nirgendwo führt. Doch aus den ideologischen Fangeisen seiner Zunft wirklich befreien konnte sich auch ein Berio nicht. Deshalb gilt auch für ihn: es gibt keine richtige Musik in der falschen.

Während Winrich Hopp 2008 noch mit Bruckner, Messiaen und Stockhausen einen programmatischen Schwerpunkt setzte und dabei dem katholischen Prä der drei Komponisten keineswegs aus dem Weg ging und im vorigen Jahr mit den Sinfonien von Schostakowitsch an das Ende des Kalten Krieges erinnerte, so wollte Hopp offenbar in diesem Jahr den Nachweis erbringen, dass musikhistorisch gesehen auf einen Bach ein Boulez quasi zwangsläufig folgen musste. Was zwingend logisch nur dann ist, wenn man einem Weltbild anhängt, das von der Ideologie des Fortschritts ausgeht; also einem Gedankenkonstrukt, das sich selbst gerne „Aufklärung“ nennt.

Die Anhänger der Fortschrittsideologie schauen alles was lebt mit evolutionsverblendeten Augen an. Doch die Kulturgeschichte folgt keinem darwinistischen Programm. Hier gibt es keine Entwicklung vom Niederen zum Höheren. Was in der Weltkultur zählt, sind nicht die Gene, sondern der Geist. Wenn Neutöner behaupten, man könne „nicht mehr wie“ Bach, Beethoven, Mozart oder Mahler komponieren, dann sagt das vor allem eines aus: dass sie es tatsächlich nicht können. Mit den Parolen des Gehtnichtmehr haben schon Robespierre und St. Just die Menschen drangsaliert. Nicht umsonst arbeiten die Apostel des „Fortschritts“ mit den nämlichen jakobinischen Methoden der Unterwerfung.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs „dominierte in Europa und Amerika eine Ästhetik der Dissonanz, der Enge, der Unzugänglichkeit und Komplexität“ schreibt der amerikanische Musik- und Kulturanalyst Alex Ross in seinem Buch „The Rest is Noise“, und der frühere Alban Berg-Schüler Theodor W. Adorno war ihr Prophet. Ross erkennt luzide Adornos Anspruch und Kern und nennt ihn einen „wirkungsvollen Geschmackspolitiker, dem jedes Mittel recht war, Musik zu verunglimpfen, die er als rückwärts gerichtet empfand. Schon allein der Versuch, in der Gegenwart Tonalität zu bewahren, zeige Symptome einer faschistischen Persönlichkeit. Der einzig gangbare Weg war für Adorno derjenige, den Schönberg Anfang des Jahrhunderts aufgezeigt hatte. Musik sollte mit ihren geweihten Fackeln noch grausigere Abgründe erleuchten, in die sich selbst Schönberg bisher nicht vorgewagt hatte. Alle vertrauten Klänge, alle Überreste von Konvention musste ausgetrieben werden.“

Pierre Boulez versah seine Kompositionen mit Anmerkungen wie „gewaltsam und schnell“ oder „sehr brutal und sehr trocken“. „Er war wie ein bei lebendigem Leib gehäuteter Löwe. Er war schrecklich“, erinnert sich Olivier Messiaen an seinen Landsmann. Boulez war deshalb „schrecklich“, weil bei ihm „kein Vertrag, kein Zugeständnis, keine Nachsicht, kein Maß und kein Wert“ galt, wie Thomas Mann es in seiner Erzählung „Beim Propheten“ sagt.

Am 15. März 1945 störte Boulez gemeinsam mit einer Gruppe junger Komponisten – sie alle studierten am Pariser Konservatorium – , die Aufführung eines Igor Strawinsky-Konzerts mit Buhrufen, Zwischenrufen, Pfiffen; nach Berichten von Augenzeugen sogar mit Hammerschlägen. Francis Poulenc nannte damals die Störer eine „fanatische Sekte“. Mit seinen Kompositionen und seinen skandalträchtigen Aktionen ist Boulez zum Inbegriff der Nachkriegsavantgarde geworden. Heute ist davon nichts mehr zu spüren. Boulez gibt sich als Klassiker. Aus dem „gehäuteten Löwen“ ist ein alter Mann geworden, dem das Gegenwartspublikum in aller Unschuld mit stehenden Ovationen huldigt.

Adornos maßgebliche Kampfschrift für den Krieg gegen den Wohllaut trägt den Titel „Philosophie der Neuen Musik“ und ist 1949 erschienen. In ihrer entscheidenden Passage vergleicht er die „Neue Musik“ mit dem Opfertod Christi am Kreuz: „Alle Dunkelheit und Schuld der Welt hat sie auf sich genommen. All ihr Glück hat sie daran, das Unglück zu erkennen; all ihre Schönheit, dem Schein des Schönen sich zu versagen“. Wie nah Anmaßung und Sakrileg doch beieinander hausen.

„Logisches Blendwerk, an dem wir zugrunde gehen“

In Thomas Manns Faustus-Romans verkauft der Tonsetzer Adrian Leverkühn seiner Seele dem Teufel. Dafür bekommt er irdischen Ruhm abzüglich Liebe; denn die ist eine Himmelsmacht. Fast will es scheinen, als hätten nach Leverkühn auch alle realen Neutöner einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Uns jedenfalls weht aus ihren Werken die Eiseskälte eines gottlosen Rationalismus an.

Wie es auch ohne den Diabolus geht, zeigten uns auf dem „musikfest“ die flämischen Sänger von „Graindelavoix“. Ihr Konzert in der ausverkauften Gethsemanekirche bot mit dem „Codex Chantilly“ herrlichen a capella Gesang aus der Zeit um 1400. Die Alte Musik vom päpstlichen Hof in Avignon war, neben der „Kunst der Fuge“, vielleicht sogar wegen ihrer tiefsinnigen Komplexität, herzergreifend. Das lag an der Präsentationskunst, mit der „Graindelavoix“-Leiter Björn Schmelzer seinen Chor führte und an der Fülle des Wohllauts aus einer Epoche, die eben nicht, wie von der Moderne gegen jede Wahrheit behauptet, dunkel war, sondern ganz im Gegenteil von einem Licht durchströmt, dessen wärmender Strahlkraft wir Neuzeitler nur seufzend nachtrauern können.

„Die musikalische Tradition, in der die Musiker (des Codex Chantilly) standen, war größtenteils auf den Kultus, den religiösen Gottesdienst bezogen“, schreibt Björn Schmelzer von „Graindelavoix“, und er betont: „Und wenn (ihre Musik) elitär gewesen sein mag, dann doch nicht mehr oder weniger als alles, was zu dieser Zeit mit Kultur, Kunst, Spiritualität verbunden war“.

Im Gegensatz dazu haben sich Musikideologen wie Pierre Boulez von den geistigen Wurzeln eines jüdisch-christlichen Abendlandes abgekoppelt. Boulez nennt die Tradition „logisches Blendwerk, an dem wir zugrunde gehen“. Ihn fasziniert Mallarmés Satz: „Nicht mit Gedanken macht man Verse, sondern mit Worten“. Wie heißt es bei Franz Kafka so treffend: „Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen“.

 

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Ingo Langner
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Eil+++ Geheimdienst: Deutsche Islamisten in Pakistan getötet

Islamabad - Bei einem US-Drohnenangriff im Grenzgebiet zu Afghanistan sind nach pakistanischen Geheimdienstangaben acht deutsche Islamisten ums Leben gekommen. Ein unbemanntes Flugzeug habe zwei Raketen auf ein Gehöft im Stammesgebiet Nord-Waziristan abgefeuert, das von den Deutschen genutzt worden sei, sagte ein Mitarbeiter des Geheimdienstes in der Region, der anonym bleiben wollte. Insgesamt habe es bei dem Angriff in der Ortschaft Mir Ali neun Tote gegeben.

Mo, 04. Okt. 2010, 19:19 © Rhein-Zeitung & dpa-infocom