Orlando Figes „Die Flüsterer. Leben in Stalins Rußland“
von Ingo Langner für Die Tagespost (22.4.2009)
Im Sommer 1995, mehr als 60 Jahre nach der Verhaftung und Ermordung ihres Vaters im Jahr 1930, reist Antonia Golowina in die sibirische Altai-Region. Dort besucht sie die verlassene „Sondersiedlung“ Shaltyr, in der sie zwischen 1931 und 1934 mit ihrer „Kulakenfamilie“ in der Verbannung gelebt hat. In der Nähe der ruinierten Baracken, die hinter einem immer noch hohen Stacheldrahtzaun langsam vermodern, trifft Antonia Golowina eine Frau ihres Alters. Auch sie hat als Kind in den Dreißigerjahren in Shaltyr in der Verbannung gelebt. „Ich bin eine Kulakentochter“, sagt die Frau und Antonia ist erschüttert. Denn niemals zuvor hat öffentlich diesen Satz gehört.
Aus Scham ist sie lebenslang darum bemüht, ihre Herkunft als „Kulakenkind“ zu verbergen. Als sie das Wort aus dem Mund einer Fremden hört, blickt sie sich erschrocken um. Könnte jemand mitgehört haben? Dann fällt ihr ein: Man schreibt das Jahr 1995. Es gibt keine Sowjetunion mehr, und sie sagt: „Ich bin eine Kulakentochter.“ Es ist das erste Mal in ihrem langen Leben, daß Antonia diese vier Worte laut ausspricht, und offenbar geht in diesem Moment ein Riß durch ihr Bewußtsein. Denn wie durch ein Wunder, ist sie in diesem Kairos stolz auf das, was sie ist. Danach geht Antonia Golowina allein zum nahen Fluß hinunter. Dort wäscht sie sich und spricht ein Gebet für ihre toten Eltern.
Diese erschütternde Episode, die einer Selbsttaufe mit Wiedergeburt gleicht, steht auf der letzten von mehr als neunhundert Seiten des Buches „Die Flüsterer“, in dem uns der 1959 geborene und an der University of London lehrender Historiker Orlando Figes aus dem Leben in Stalins Rußland berichtet. „Die Bedeutung dieses Buches kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden“, schreibt die englische „Times“, und hat vollkommen recht damit. Nachdem der Brite 1996 uns in seinem Meisterwerk „Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924“ erzählt hat, legt er mit „Die Flüsterer“ jetzt noch einmal meisterlich nach.
Während Figes Revolutionsbuch kenntnisreich und luzide den grausamen russischen Weg von der zaristischen in die bolschewistische Tyrannei beschreibt, erfahren wir im zweiten Buch, wie die sowjetischen Kommunisten ganze Völkerschaften jahrzehntelang systematisch in Geiselhaft nehmen und in einem mörderischen materialistischen Experiment versuchen, aus Menschen marxistisch indoktrinierte Arbeitssklaven zu machen. „Die Flüsterer“ heißt das Buch deshalb, weil die Einwohner des Riesenreiches, von Josef Stalin und Konsorten großspurig „Sowjetmenschen“ genannt, eingeschüchtert vom roten Terror, die Wahrheit über ihr Schicksal sich nurmehr flüsternd mitgeteilt haben. Oder – und das ist die dunkle andere Seite der Medaille, weil die vom System Korrumpierten den bolschewistischen Staatssicherheitsdiensten die Namen jener Nächsten zuflüstern, deren Wohnung, Arbeitsplatz oder Frau sie begehren und durch Denunziation aus dem Weg räumen können.
Wer einmal in die Fänge der Tschekisten gerät – und ihre Zahl ist in der Sowjetunion Legion - ist so gut wie verloren. Entweder landet er mit einem Genickschuß in einem von ihm selbst ausgehobenen Graben, oder er haucht nach jahrelanger Fron sein Leben in einem sibirischen Arbeitslager aus. Wo er bei arktischen Temperaturen von oft mehr als dreißig Grad wertvolle Edelmetalle finden muß. Wenn das Schicksal etwas anderes mit ihm vorhat, dann darf er nicht ganz so weit östlich für den Sieg des Sozialismus ein Kanalbett ausheben, oder er schaufelt sein eigenes Grab in der Moskauer Untergrundbahn, wo hinter kostbaren Marmorfassaden die Leichen der hier aufgeopferten roten Sklaven nicht weniger eng liegen, als in Workuta, Kolyma und Magadan. Wer trotz allem die Hölle im Archipel Gulag überlebt, der erholt sich weder körperlich noch seelisch jemals wieder davon und bleibt für den Rest seines Lebens gezeichnet.
Was Orlando Figes Buch so besonders macht, ist die spezielle Form der Wahrheitsfindung. Figes hat sich nämlich nicht mit der gewiß ehrenwerten Arbeit in den Archiven begnügt. Er hat die Menschen, deren Schicksal er wie in einem breitgefächerten Familien- und Zeitroman ausbreitet, alle selbst aufgesucht und geduldig zum Sprechen animiert. Im Anhang findet sich ein Interviewverzeichnis, das rund 450 Namen auflistet, und auf den ersten Seiten sind neun Familienstammbäume, jenen ähnlich, die wir von Tolstoi, Dostojewski oder Wassili Grossmann kennen.
Soviel Akribie und Genauigkeit ist bitter nötig. Denn es reicht leider nicht, nur die äußeren Umstände der Untaten des sowjetischen Kommunismus zu kennen. Allein die genauen Familiendetails lassen uns tief in das Herz der bolschewistischen Finsternis blicken. Erst wer gemeinsam mit Orlando Figes im Geiste durch das Meer von Tränen und Blut gewatet ist, das der Brite schonungslos vor uns ausbreitet, der kann verstehen, wie das Leben in Stalins Reich jenseits der Propaganda, die noch heute in unseren Ohren nachdröhnt, wirklich war.
Die Kulakentochter Antonia Golowina ist acht Jahre alt, als sie zusammen mit ihrer Mutter und zwei jüngeren Brüdern nach Sibirien verbannt wird. Ihr Vater ist als „Kulak“, also als „reicher, ausbeuterischer Bauer“, verhaftet und zu drei Jahren Arbeitslager verurteilt worden. Diesen Schicksalsschlag begreift erst richtig, wer sich klarmacht, daß es in Rußland überhaupt keine reichen, geschweige denn ausbeutende Bauern geben hat. Die Golowins haben außer Pferd und Pflug nur noch eine Lederwerkstatt. Die Partei Lenins und Stalins hat die „Kulakenklasse“ schlichtweg erfunden, um erstens die „wissenschaftliche“ marxistische Gesellschaftslehre in der Sowjetunion beim „Aufbau des Sozialismus“ anwenden zu können und zweitens durch die bewußte Ausmordung von Hunderttausenden die Bauern in die Kollektivierung der Landwirtschaft zu zwingen, weil drittens, angeblich nur so genug Brot für alle zu erzeugen ist. Die jahrelangen Hungersnöte auf dem Lande, bei denen millionen Menschen sterben und Tausende selbst vor Kannibalismus nicht zurückgeschreckt sind, zeigen den wirtschaftlichen Unsinn der Kollektivierung und das Ausmaß dieses aus doktrinärer Verblendung gespeisten Fehlurteils in erschreckender Deutlichkeit an.
1934 kehrt Antonia Golowina mit ihrer Familie aus der Verbannung zurück und beschließt ein „wertvolles“ Mitglied in der Sowjetgesellschaft zu werden. Die Achtzehnjährige hat den Mut, ihre Biographie als „Klassenfeindin“ zu fälschen und kann nun, so „gereinigt“, Medizin studieren. Sie wird sogar Mitglied der Kommunistischen Partei und bleibt es bis zu deren Selbstauflösung 1991. Niemals enthüllt sie ihre „schändliche“ Herkunft. Sogar vor ihrem ersten und dann zweiten Ehemann verbirgt sie ihre wahre Identität.
Erst 1987 erfährt sie, daß Ehegatte Nummer Eins, Georgi Snamenski, der Sohn eines zaristischen Marineoffiziers gewesen ist. Auch Georgi hat sein Kindheit in Arbeitslagern und „Sondersiedlungen“ verbracht. Ebenso wie Boris Joganson, ihr zweiter Angetrauter. „Das allerdings“, so Orlando Figes, „entdeckte Antonia erst in den frühen neunziger Jahren, als die Ehepartner – ermutigt durch die von Michael Gorbatschow eingeleitete Glasnost-Politik und durch die offene Medienkritik an den stalinistischen Repressionen – miteinander über ihre verborgen gehaltene Vergangenheit“ sprechen. Vierzig Jahre lang haben die Eheleute nicht den Mut, einander die Wahrheit über ihre Herkunft zu erzählen, und selbst nach dieser ersten Öffnung, „reden sie über solche Dinge nicht mit ihrer Tochter Olga, einer Lehrerin, da sie eine mögliche Rückkehr der kommunistischen Verhältnisse befürchten.“ Erst Mitte der Neunziger Jahre überwinden Antonia und Boris ihre Furcht und bringen „den Mut auf, ihre Tochter in ihre ‚Kulakenherkunft’ zu enthüllen.“ Wie die Golowins haben Millionen Sowjetbürger geflüstert und gleich ganz geschwiegen. Viele von ihnen leben heute noch, und Orlando Figes gibt ihnen in seinem Buch erstmals eine Stimme.
Gleichwohl: vor all dem roten Schrecken hat der Himmel die Welt gewarnt. Denn als den drei portugiesischen Kindern Lucio dos Santos Jacinto Marto und Francisco Marto im Juli 1917 die Gottesmutter von Fatima das zweite Geheimnis enthüllte, war das ihre Botschaft: „Ihr habt die Hölle gesehen, wohin die Seelen der armen Sünder kommen. Um sie zu retten, will Gott in der Welt die Andacht zu meinem Unbefleckten Herzen begründen. Wenn man tut, was ich euch sage, werden viele Seelen gerettet werden, und es wird Friede sein. Der Krieg wird ein Ende nehmen. Wenn man aber nicht aufhört, Gott zu beleidigen, wird unter dem Pontifikat von Papst Pius XI. ein anderer, schlimmerer beginnen. Wenn ihr eine Nacht von einem unbekannten Licht erhellt seht, dann wißt, daß dies das große Zeichen ist, das Gott euch gibt, daß Er die Welt für ihre Missetaten durch Krieg, Hungersnot, Verfolgungen der Kirche und des Heiligen Vaters bestrafen wird. Um das zu verhüten, werde ich kommen, um die Weihe Rußlands an mein unbeflecktes Herz und die Sühnekommunion an den ersten Samstagen des Monats zu verlangen. Wenn man auf meine Wünsche hört, wird Rußland sich bekehren und es wird Friede sein. Wenn nicht, wird es seine Irrlehren über die Welt verbreiten, wird Kriege und Kirchenverfolgungen heraufbeschwören. Die Guten werden gemartert werden, der Heilige Vater wird viel zu leiden haben, verschiedene Nationen werden vernichtet werden, am Ende aber wird mein Unbeflecktes Herz triumphieren. Der Heilige Vater wird mir Rußland weihen, das sich bekehren wird, und der Welt wird eine Zeit des Friedens geschenkt werden.“
der Gedanke der Kinderstube gefällt mir. "Zu meiner Zeit" gab es ja noch den Satz: "der hat keine ..." oder "der hatte eine gute ..."
Was die Russen angeht: zur List Gottes gehörte es, daß die Bolschewiki , meist waren es Ehepaare die gemeinsam Berufsrevolutionäre waren, Kinder hatten, aber keine Zeit für sie, sich nach 1917 ff Kindermädchen vom Land holten. Das waren in der Regel gläubige Frauen, die den "roten Kindern" heimlich aus der Bibel vorlasen oder ihnen sogar eine Art Religionsunterricht gaben. Nachzulesen bei Orlando Figes "Die Flüsterer" (siehe Anhang)
il
Sacharov sprach von Verbrechen in Afghanistan
und einem Vernichtungskrieg, den sein Land begonnen. Und als Sünde!
Wer gibt uns das Recht von unseren Taten dort anders zu sprechen, von mangelnder Kinderstube, wenn einer die Normen sprengend protestiert, mit den Namen den Toten. wer auch immer und wo denn sonst als dort, wo das beschlossen wird. Ja. So trifft sichs, wenn man sich in die Hölle begibt.Dasss die uns gerufen, sagten die Russen auch.