DIE WELT: 24.09.10
Rettet ihn vor seinen Fans!

Vor siebzig Jahren nahm sich Walter Benjamin das Leben. Heute wird er verehrt - und verkitscht. Stephan Wackwitz erkundet eine Heiligenlegende

Von Stephan Wackwitz
1972 war ich zwanzig, ein vermutlich nicht ganz unbegabter, sehr beeindruckbarer und vollkommen wirrer Mensch. Mal Maoist, dann wieder Dichter, einen Monat später bildender Künstler. Das haltlose Schwanken des jungen Mannes. Ersatzdienst in Bad Urach, Ferienreisen nach Paris, Herumstudieren in München. Die obligaten Trampfahrten nach Italien. Die Effekte von Nietzsches "Zarathustra" und drei Dosenbier in der Jugendherberge in Mailand. Der alte Mann fasst sich an den Kopf über den Tagebüchern des jungen.


Eines Tages lag auf dem Marmortischchen eines Ulmer Cafés neben einer Tasse Kaffee ein rotweißes Bändchen aus der "Bibliothek Suhrkamp". Walter Benjamins "Einbahnstraße". Mit diesem Buch ging es mir in den nun folgenden Monaten und Jahren so, wie seinem Verfasser in den zwanziger Jahren, der damals schrieb, er könne Aragons "Paysan de Paris" nur seitenweise lesen, weil er davon derartiges Herzklopfen bekäme, dass er dann nächtelang wachliege.

Als ich Benjamins "Einbahnstraße" nach dem ersten Durchblättern wieder auf die Marmorplatte des Ulmer Cafés zurücklegte (ich wartete auf den Vorortzug in meine Heimatstadt Blaubeuren), wusste ich, dass die Langeweile für immer vorbei war. Nicht weil ich von nun an immer dieses Buch lesen würde, von dem mir meine Münchner Professoren nicht zu sagen gewusst hätten, ob es Poesie oder Prosa war, Theorie oder Fiktion, Tagebuch oder Abhandlung. Wie gesagt, ich konnte eh immer nur einen oder zwei Abschnitte davon auf einmal verdauen. Sondern es war etwas für mein Leben Einschneidendes passiert, weil es ab jetzt und für immer in der Welt der Bücher etwas gab, das ich so grenzenlos bewunderte, wie ich als Kind die Spielzeuge mancher Kameraden bewundert hatte oder wie ich jetzt die glamourösen älteren Studentinnen im Germanistischen Seminar in der Schellingstraße bewunderte.

Meine Bewunderung für manche Werke Benjamins, vor allem für die Eleganz seines Denkens und seiner Sprache, hat mich durch mein intellektuelles Lebens begleitet. Und das, obwohl mir meine zeitweilig obsessive Benjaminlektüre vermutlich auch sehr geschadet hat. Denn die Wirrheit seines Denkens hat meine eigenen Verwirrungen jahrelang in exponentiale Höhen getrieben. Benjamin ist ein Schriftsteller, bei dessen Lektüre man lernen muss, Bewunderung und Kritik genau auseinanderzuhalten.

Entsprechend paradox ist seine Wirkungsgeschichte. Benjamins fast durchgehend wissenschaftlich gemeintes Werk erhebt strenge Wahrheitsansprüche sogar dort, wo es als Aphorismus, Feuilleton, Literaturkritik, Essay oder Erinnerungsbuch auftritt. Weltweit bewundert aber wird Benjamin heute seltsamerweise in der Art, wie in Osteuropa die Dichter verehrt werden. Man zitiert ihn in einer Weise, reproduziert sein Bild so oft, veranstaltet so viele prominente Kongresse und so sorgfältige Ausstellungen über sein Werk, als sei er der repräsentative deutsche Poet. Dieser verklärende (und oft genug verkitschende) Umgang mit einem Mann, der sich zeitlebens als Theoretiker verstanden hat, ist für das literarische Leben im Westen ganz untypisch. Zumindest ist es erklärungsbedürftig.


Eine erste Erklärung liegt im Lebenslauf des Philosophen, der 1892 als Sohn eines jüdischen Kunsthändlers in Berlin geboren wurde und 1940, auf der Flucht vor den Nazis, in den Pyrenäen Selbstmord beging. Motive der Heiligenlegende mischen sich darin mit denen der klassischen Künstlerlegende: rührendes lebenspraktisches Ungeschick; eine früh sich zeigende Ausnahmestellung; die Verkennung des Genies durch die Zeitgenos-sen, während weitsichtige Einzelne (Hofmannsthal!) prophetisch auf ihn hinweisen; der Verrat der Frauen und Freunde; die Verfolgung durch böse Herrscher; der Opfertod im Dienst des Werks (jenes sagenumwobenen Manuskripts, das er in einer Aktentasche über die Pyrenäen geschleppt haben soll); und schließlich die posthume Apotheose. Sogar das Wunder fehlt in dieser Legende nicht: Adorno hat vermutet, Benjamins Selbstmord in Port Bou habe die spanischen Zollbehörden so erschüttert, dass sie den Rest der Emigrantengruppe dann doch einreisen und in die amerikanische Freiheit entkommen ließen.

Die paradoxe Verschränkung poetischer Weihe mit wissenschaftlichem Anspruch ist aber vor allem vorbereitet in Benjamins Werk selbst. Er verfolgte das Projekt einer Art konkretistischen Theoretisierens. Er glaubte, durch die möglichst genau Beschreibung einer Theatergattung, eines Romans, einer Architekturform würden diese Gegenstände dazu veranlasst, in einer "profanen Erleuchtung" lebendig zu werden und ihre eigene Theorie hervorzubringen. Benjamin, könnte man sagen, hat einen romantischen Dichtertraum ("Und die Welt hebt an zu singen/Triffst du nur das Zauberwort") als Forschungsprogramm missverstanden. Nur dass bei ihm, anders als bei Eichendorff, kein Lied schläft "in allen Dingen, die da träumen fort und fort" - sondern der historische Materialismus. Darin liegt das Scheitern seines monumental fragmentarischen Lebenswerks als Wissenschaft begründet und dessen bis heute andauernder Erfolg als romantische Literatur.

Benjamins germanistische, geschichtsphilosophische, theologische, architektursoziologische Forschungen waren schon zum Zeitpunkt seiner Wiederentdeckung in den sechziger Jahren überholt. Einzig seine Dissertation über den frühromantischen Dichtungsbegriff ist heute noch von wissenschaftlicher Bedeutung. Aber schon seine zeitgenössischen Fachkollegen konnten mit diesen Büchern wissenschaftlich nichts anfangen. Benjamins Buch über das Barocktrauerspiel fiel nicht nur bei der Frankfurter Habilitationskommission durch, deren unprominenten, zünftig-akademischen Mitgliedern man Borniertheit unterstellen darf. Sondern auch die wegweisend originelle Forschergruppe um Aby Warburg (Saxl und Panofsky zum Beispiel) senkten den Daumen. Und Adornos vernichtend kritische Auseinandersetzung mit Benjamins Baudelaire-Studien ist bekannt.

Wie also ist die durchschlagende Wirkung dieses seltsamen und nach allen traditionellen Kriterien misslungenen Werks seit den Sechzigern zu erklären? Man hat inhaltliche Gründe angeführt. So ist offensichtlich, dass Benjamins Kombination des "wissenschaftlichen Sozialismus" mit kabbalistischen und messianischen Motiven (am prominentesten in den "Thesen zur Geschichtsphilosophie") den Illusionen der Studenten entgegenkam, ihrer Hoffnung auf eine Revolution gegen alle Wahrscheinlichkeit und Denkbarkeit. Auch waren und sind die medienwissenschaftlichen Motive des Aufsatzes über "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" sicher brauchbar gewesen für Generationen, in denen fast jede und jeder "irgendwas mit Medien" als Berufswunsch angibt.

Die einleuchtendste (und deprimierendste) Erklärung für den Siegeszug der poetischen Theorie Walter Benjamins jedoch ergibt sich aus der Beobachtung, dass seine Wiederentdeckung zusammenfiel mit dem Aufstieg einer akademischen Strömung, der es nicht mehr auf die Erfüllung tradierter wissenschaftlicher Standards ankam, sondern auf die Herstellung einer diffusen und wissenschaftlich nicht mehr zu kontrollierenden Bedeutsamkeit. Das Spätwerk Jacques Derridas, die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe und die Bücher Giorgio Agambens könnten als Klassiker dieser akademischen Strömung verstanden werden, die Rezeption Jorge Luis Borges' in den Achtzigern und Heiner Müllers in den Neunzigern als ihr bildungsbürgerliches Pendant.

Heute haben Bürokratisierung, Didaktisierung und Trivialisierung der Geisteswissenschaften im Gefolge der Bologna-Reformen den Hipness-Faktor akademischer Lebenswelten und Karrieren reduziert. Das "Benjaminisieren", wie man das Verfahren bezeichnen könnte, poetische Wirkungen mit wissenschaftsförmigen Mitteln hervorzubringen, ist von den Universitäten in die Kunstwelt hinübergewechselt. Katalogtexte, kunstkritische "Essays", kuratorische Konzepte zitieren Benjamins Texte inflationär und besetzen ein geistiges Niemandsland zwischen Wissenschaft und Poesie.

Man kann es ja an sich selber beobachten: der Unwille, einen Texte weiterzulesen, wenn über dem ersten Absatz ein Prunkzitat aus Benjamins Trauerspielbuch steht und Reizwörter wie "Aura", "Flaneur" und "Choc" großzügig über den danach folgenden Gedankenmatsch verteilt sind. Man will dann ja nie mehr irgendetwas mit derlei zu tun haben. Die Vermischung poetisierender Verfahren mit wissenschaftlichem Wahrheitsanspruch hat entschieden etwas Unreinliches, manchmal auch geradezu Unappetitliches.

Treten wir stattdessen literaturhistorisch einen oder zwei Schritte zurück. Wilhelm von Humboldt war einer der größten Naturwissenschaftler seiner Zeit. Aber wir lesen seine südamerikanischen Reiseberichte nicht mehr aus naturwissenschaftlichem Interesse, sondern weil er außerdem einer der größten Prosaschriftsteller seiner Zeit gewesen ist. Es ist das Schicksal wissenschaftlicher Prosa, dass ihr Wissenschaftsanspruch veraltet. Der künstlerische Anspruch aber, den Wissenschaftler wie Wilhelm von Humboldt oder Sigmund Freud ganz abgesehen von ihren Entdeckungen beanspruchen konnten und immer noch können, hat an diesem Alterungsprozess keinen Anteil. Dantes "Divina Commedia" war einmal auch als wissenschaftliche Weltbeschreibung gemeint. Überholtes Wissen wird zu unüberholbarer Poesie. Das kommt aber nicht nur veralteter Wissenschaftsprosa zugute, sondern auch von vornherein falscher. Auch dafür gibt es ein prominentes Beispiel aus dem achtzehnten Jahrhundert, nämlich Goethes "Farbenlehre", die schon zur Entstehungszeit grottenfalsch war, was aber ihrem künstlerischen und literarischen Rang bis heute nichts nimmt.

Benjamins Werk ist die "Farbenlehre" des zwanzigsten Jahrhunderts. Wenn man sich (wofür wissenschaftlich fast alles spricht) entschließt, seine Bücher als Germanistik, Architektursoziologie, Medienthorie, Geschichtsphilosophie nicht mehr allzu ernstzunehmen, dann erst kann man seiner Genialität als Schriftsteller gerecht werden. Dann erweist sich der literarische Essay - der paradoxe Fall einer illegitimen Gattung, für die es trotzdem Regeln gibt - als das Zentrum seines Werks. Das "Passagenwerk" wird erkennbar als Vorläufer von Kempowskis "Echolot" und anderer Formen der Dokumentarliteratur und künstlerischen Recherche, seine Literaturkritiken als das raffiniert über Bande gespielte Projekt einer intellektuellen Autobiographie. Und seine Berichte über innere und äußere Reisen können wir sowieso immer schon ohne Reue genießen, als hochinteressante subjektive Dokumente.

Vor allem wird Benjamin bei diesem Verfahren - das gerade seinen Fans dringend ans Herz gelegt sei - erkennbar als der wichtigste, späteste und glanzvollste Vertreter der deutsch-jüdischen Sprachkultur der zwanziger Jahre, eines Milieus stilistischer Hochbegabung, von dessen Vernichtung durch die Nazis sich die deutsche Literatur bis heute nicht erholt hat.

Man muss Walter Benjamin studieren und verehren als den dritten und vielleicht originellsten Kopf in einer Dreifaltigkeit literarischer Größen der zwanziger Jahre, die alle erst sehr spät ins Bewusstsein der Gebildeten getreten sind: Man muss ihn neben Kafka und Robert Walser stellen. Und damit aufhören, aus seinen verzwickt geistvollen, aber fast durchgehend falschen Theorien den verschwiemelten Theoriequark anzurühren, als dessen Zutatenlieferant er immer noch herhalten muss. Vielleicht ist das eine Strafe für seine eigene Wissenschaftshybris - aber er hat sie längst abgegolten.

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