Projekt Nossendorf
Hans Jürgen Syberberg zurück in Berlin
von Ingo Langner für Die Tagespost (15.11.2010)

Am Morgen nach dem Fest versammelt Hans Jürgen Syberberg noch einmal alle Getreuen zum gemeinsamen Frühstück in Clärchens Ballhaus; ein traditionsreiches und immer noch quicklebendiges Etablissement in der galeriengespickten Auguststraße, also im Herzen der wiedererwachten Mitte Berlins. Sie sind aus München, Amsterdam und Helsinki, ja sogar aus dem fernöstlichen Tokio an die Spree gekommen, um mitzuerleben, wie Syberbergs Kunst nach zwanzigjähriger Abstinenz ins deutsche Kulturleben zurückkehrt - aus dem er zwei Jahrzehnte zuvor verbannt worden ist.

„Wo über Kultur gesprochen wird, hat Syberberg nichts mehr zu suchen“ steht am 24. August 1990 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und „Der Spiegel“ erklärt ihn (in Nr. 36/90) zu einem „Mann mit einer grausigeren Macke als diejenigen Kranken, die sich für Napoleon oder Beethoven halten. Ein Hitler für eine geschlossene Anstalt.“

So anmaßend und zeitblind reagiert man in der Manier von Scharfrichtern, als Hans Jürgen Syberberg in seinem Buch „Vom Unglück und Glück der Kunst in Deutschland nach dem letzten Kriege“ den Absolutheitsanspruch einer Ästhetik der Dissonanz, Enge und Unzugänglichkeit vehement infrage stellt. Der denunziatorische Urteilsspruch, mit dem der politisch korrekte Mainstream die eigene Deutungshoheit über die deutsche Kultur verteidigt, lautet auf „antisemitischer Reaktionär“ – der Fälle Jenninger oder Sarrazin lassen grüßen.

Tempi passati, und vermutlich ist es kein Zufall, daß beim Ballhausfrühstück einer der Syberberg Freunde Bob Dylans Song „The Times They Are A-Changin“ auflegt. In der Tat: die Zeiten scheinen sich wirklich geändert zu haben. Was auch in den kenntnisreich-emotionalen Reden zum Ausdruck kommt, die Rainer Rother, der Direktor der Deutschen Kinemathek, Nele Hertling, die Vizepräsidentin der Akademie der Künste und Christoph Stölzl, der Präsident der Weimarer Hochschule für Musik Franz Liszt halten und damit im Filmhaus am Potsdamer Platz eine Installation eröffnen, die Hans Jürgen Syberberg „Das Nossendorf-Projekt“ nennt, und das den Nukleus seines Woher und Wohin anschaulich macht.

Während Rainer Rother Syberbergs immense Bedeutung für den internationalen Film bis hin zu Francis Ford Coppola auslotet und Nele Hertling an den singulären Theaterregisseur erinnert, der in Paris und am Berliner Hebbel Theater die Monologe einer Edith Clever unvergeßlich in Szene gesetzt hat, bleibt es Christoph Stölzl vorbehalten, den Welt und Heimat gleichermaßen umschließenden Kosmos des Gesamtkunstwerkskünstlers hellsichtig auszudeuten.

Stölzl führt aus, daß Syberbergs vielschichtige, ineinander gespiegelte Assemblagen aus Bild, Licht und Ton allein schon deshalb nicht „reaktionär“ sein können, weil die Collagetechnik die Methode der Moderne schlechthin ist. Jedoch im diametralen Unterschied zur Dekonstruktion, mit der die Postaufgeklärten die Umwertung aller Werte vorantreiben, ist Syberbergs Kunst dem Heilen gewidmet ist.

Wie bitterernst es ihm mit dem Heilen ist, wie sehr seine Kämpfe für die Rückgewinnung des Wahren, Guten und Schönen im Wortsinne existentiell sind, kommt im „Nossendorf Projekt“ genuin zum Ausdruck. Das keineswegs bloß eine virtuelle Angelegenheit ist. Im Gegenteil. Auf dem väterlichen Gut im vorpommerschen Nossendorf kommt Hans Jürgen Syberberg 1935 zur Welt, wird zehn  Jahre später von der Roten Armee in dieselbe hinaus getrieben, verkapselt und spiegelt das Paradies seiner Kindheit in Filme, die ihre Gedankenflügel so weit ausspannen, daß sie von Fritz Kortners Shylock bis zu Richard Wagners Parsifal reichen und kehrt schließlich auf der Schwelle des 21. Jahrhunderts an den Ort seiner Herkunft zurück, um in seinem vom Sozialismus fast völlig ruinierten Geburtshaus jenen weiten geistigen Horizont auferstehen zu lassen, der Deutschland einmal zum Land der Dichter und Denker gemacht hat.

Schon die französischen Jakobiner haben Kirchen geschleift. Ihr Gotteshaß hat sich auf die Kommunisten vererbt. Jetzt hat es sich Syberberg zur Aufgabe gemacht, den von ihnen gekappten Kirchturm wieder aufzubauen. Dafür bemüht er sich um Mäzene. Er tut das, weil er als Kind noch ganz selbstverständlich gelernt hat: alles Menschliche kommt von Gott, alle Wege führen zu ihm zurück und auch darum die Kirche im Dorf bleiben muß.

Schon in seinen 1985 und 1990 entstandenen Filmen „Die Nacht“ und „Ein Traum, was sonst“, in denen Edith Clever den hohen Sinn der deutschen Romantik und Klassik beschwört, arbeitet Syberberg mit Bildern, die die Wiedergeburt Nossendorfs und die Rekonstruktion seiner alten Taufkirche imaginieren. Eine Kurzfassung der beiden Filme bildet den Kern seiner Installation im Filmhaus am Potsdamer Platz - ergänzt durch vier Web-cams die Livebilder vom Nossendorfer Gutshaus zeigen, einigen signifikanten Photos und Erinnerungsstücken, aber vor allem durch ein maßstabsgetreues Holzmodell des neu zu errichtenden Kirchturms.

Dieses Kirchturmmodell und der erhoffte reale Wiederaufbau stehen denn auch im Zentrum des Ausstellungseröffnungsfestes, das im stimmungsvollen Spiegelsaal von Clärchens Ballhaus gefeiert wird und so unterschiedliche Kulturmenschen wie den Filmregisseur Wim Wenders, den Bildwissenschaftler Horst Bredekamp oder den Historiker Karl Schlögel an Hans Jürgen Syberbergs Tafelrunde zusammenführt. Es ist die eines Mannes, der aus tiefster Seele eine Ästhetik ablehnt, in der es kein tragisches Lebensgefühl mehr gibt. Kierkegaards Schmerz über den Waldbrand der Abstraktion ist auch Syberbergs Schmerz. Er hat, wie Heinrich von Kleists Prinz von Homburg, die Parole vom Herzen empfangen. Hans Jürgen Syberbergs Rückkehr nach Berlin ist ein historisches Ereignis.