27. August 2009, Neue Zürcher Zeitung
Nietzsches Testament
Leserliches und Unleserliches aus der Sammlung Rosenthal-Levy in einer Faksimileausgabe

Eine Komposition eigener Art: Nietzsches doppelseitiges «Testament» vom Mai 1889, das in zwei Hälften zerrissen ist. (Bild: pd)

Autografen Friedrich Nietzsches haben seit je eine besondere Aura – auch im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, ihrer Faksimilierbarkeit. Das hängt vorab mit dem Leben ihres Verfassers zusammen, seinem nomadischen, umgetriebenen Wanderleben, das sich unter ewig wechselnden, nur selten wiederkehrenden Bedingungen schreibend artikuliert. Nietzsche war kein Sitzdenker, der am Schreibtisch ersessene Gedanken reinschriftlich fixiert hätte, sondern ein Denker, der in jedem Sinn stets in Bewegung war und proteisch-vielfältig seine Aphorismen, Fragmente und Essays notierte. Die Krankheiten seines Lebens, zumal seine Augenkrankheiten, haben seinen Autografen dabei eine prekäre Gestalt gegeben, die zwischen Unentzifferbarkeit, ja Chaos («Ich schreibe wie ein Schwein») und dem Sinn für die Klarheit und Schönheit, manchmal sogar Monumentalität eines luziden Schriftbildes schwankt. Daraus haben sich die Martern wie die Wonnen der Editionsphilologie Nietzsches genährt, die wie nur wenige Philologien sonst auf die Autografen zurückgehen musste – und auch konntte.


Aura und Authentizität der Handschrift
Noch mehr hat vielleicht die Fälschungsgeschichte Nietzsches, die mit dem Machwerk der Schwester als Urkatastrophe der Nietzsche-Edition an deren Anfang steht, den Sinn für die Wahrheit der Autografen gestärkt. Wo die Schwester, dieses leibhaftige Gegenbild eines der Wahrheit der Texte verpflichteten Philologen, den «Willen zur Macht» mit ihrem Willen zum Text parodierte und retuschierte, radierte und rasierte, dass es jeder avancierten Fälscherwerkstatt zum Ruhm gedient hätte, führten nur die Autografen zu einem fälschungssicheren Nietzsche zurück.

Zu guter Letzt spielt aber auch ein gewissermassen freundschaftliches Motiv bei der Hochschätzung der Autografen, vor allem der Brief-Autografen, mit: Während Nietzsche immer mehr vereinsamte, wurden seine Briefe zu seinem eigentlichen kommunikativen Leben. Und noch wer sie heute liest, tritt gleichsam persönlich in Kontakt zu ihrem Autor. Man darf sich einbilden, er hätte auch seine späten Leser gerne gemocht.

An die Aura seiner Autografen ist jetzt wieder zu erinnern, wo gleichzeitig mit dem Erscheinen der kritischen Nachlassausgabe der Notiz- und Arbeitshefte eine so liebevoll wie schön gemachte Dokumentation der weltweit grössten privaten Sammlung von Nietzsche-Autografen das interessierte Publikum erreicht. Es geht um die Sammlung Rosenthal-Levy, die sich heute im Nietzsche-Haus in Sils Maria befindet. Sie umfasst neben den Autografen vor allem von Nietzsche-Briefen (aus der Zeit von zwischen 1858 und Dezember 1888) Erstausgaben, Widmungsexemplare, Musikalien, Fotografien, Übersetzungen, verschiedene Werkausgaben und etwa elfhundert Bände mit Schriften aus dem geistigen Umfeld Nietzsches. Zusammengetragen haben sie unter Einschluss der nachgelassenen Bibliothek des deutsch-englischen Arztes, Nietzsche-Übersetzers und -Herausgebers Oscar Levy dessen Tochter Maud Rosenthal und ihr Mann Albi (Albrecht) Levy. Der Band umfasst die – oftmals bisher ungedruckten oder gar unbekannten – Kernstücke ihrer Sammlung.

Sammeln als Leidenschaft
In den «Betrachtungen über unsere Nietzsche-Sammlung», die Maud und Albi Rosenthal-Levy der Dokumentation vorangestellt haben, wird das Sammeln als Leidenschaft gebührend betont. Aber mehr noch kommt das kommunikative Moment zu Ehren: Nietzsche sammeln heisst in Beziehung zu ihm treten. Und der Leser und Betrachter des Bandes kann es desgleichen tun. Die Lektüre wird den Besuch in Sils Maria nicht etwa erübrigen, sondern zusätzlich motivieren. – Aus der Fülle der dokumentierten Sammlungsstücke ragen neben einem vierhändigen Klavierstück, einer «Monodie à deux. Lob der Barmherzigkeit», die Briefe Nietzsches an Louise Ott, Resa von Schirnhofer und Carl Fuchs heraus.

Ein «Wahnsinnszettel»
Das singuläre Zentrum des Bandes ist aber der Erstdruck eines «Zettels» aus der immer noch vernachlässigten Wahnsinnszeit Nietzsches. Das Jenaer Krankenjournal vermerkt dazu am 5. Mai 1889: «Gibt dem Arzt einen schmutzigen, unleserlichen Zettel als sein Testament». Dieses beidseitig beschriebene «Testament» ist indessen keineswegs völlig unleserlich. Neben den berüchtigten Kritzeleien des irren Nietzsche zeigt es notenschriftliche Fragmente und den zweifach unterstrichenen Namen Richard Wagners, aber auch die Anrufung eines «Diaboli! Furz! Stimulus», die jedem deutschen Doktor Faustus Ehre gemacht hätte. Ein abgründiges, ein tief bewegendes Dokument.

Dass es sich freilich um das späteste Schriftstück Nietzsches handle – so die beiden Sammler –, ist nicht ganz richtig. Auch aus den späteren Wahnsinnsjahren sind neben den von seiner Mutter überlieferten Aussprüchen ihres «guten Sohnes» noch schriftliche Äusserungen Nietzsches überliefert. Und der Druckfehlerteufel, dem Nietzsche bei der Drucklegung seines «Hymnus ans das Leben» mit einem eigenen Korrekturzettel an seinen Verleger Fritzsch und einem ausdrücklichen Hinweis im Zarathustra-Kapitel von «Ecce homo» so zu Leibe rückt, dass er damit die Idee der «Ewigen Wiederkunft», die «höchste Formel der Bejahung» angesichts der Druckfehler des Lebens, konterkariert – dieser schlimmste aller Teufel im Schriftstellerleben fordert auch in diesem sorgfältigen Band seinen Tribut: In Nietzsches Brief an Louise Ott vom 7. November 1882 ist in der vierten Zeile «habe ich dem Tode näher gelebt als dem Leben» zu lesen – und nicht, wie es in der Transkription heisst: «habe die dem Tode . . .» – Aber das nimmt der Leser am besten selber in Augenschein, in Sils Maria oder aber in dem nun vorliegenden Prachtband.

Friedrich Nietzsche: Handschriften, Erstausgaben und Widmungsexemplare. Die Sammlung Rosenthal-Levy im Nietzsche-Haus in Sils Maria. Herausgegeben von Julia Rosenthal, Peter André Bloch und David Marc Hoffmann. Redaktion Dani Berner. Schwabe-Verlag, Basel 2009. 276 S., Fr. 131.–.

einer, der im Gehen schrieb.