Mitten in unser Herz
Herta Müller „Atemschaukel“
von Ingo Langner für Die Tagespost (25.9.09)

Dieses Buch ist eine Zumutung. Im Wortsinne. Es mutet uns Satten die Hungernden zu. Dieses Buch zwingt uns zum nüchternen Lesen. Den möchten wir sehen, der Herta Müllers „Atemschaukel“ zum Nachtisch verschlingt oder gar mit dem Buch neben dem vollen Teller. Die „Atemschaukel“ ist nur in kleinen Mengen erträglich. Nur langsam, gleichsam in Miniaturportionen, läßt sie sich lesen. Der gewöhnliche Schnelleser wird sich, so die Prognose, an diesem Stoff den Magen verderben.

Was diesen neuen Roman der Rumäniendeutschen überhaupt für einen Satten erträglich macht, ist seine über die Maßen schöne Sprache. Herta Müller hat, um den Tod und die Grausamkeiten eines sowjetischen Hungerlagers zu schildern, ihr Heil in der Poesie gesucht. Dabei hat der Autorin geholfen, daß ihre literarischen Wurzeln immer schon ganz tief im kulturgeschichtlichen Menschenerdreich verankert waren. In einer Sphäre also, in der wohlbekannt ist, daß sich ein grausames Schicksal nur in wohlklingenden Worten ertragen läßt.

Schreibt Homer nicht auch schön von den blutigen Schrecken des Trojanischen Krieges? Quillt nicht auch die Geschichte vom Leidensmann Hiob über von Sprachbildern, deren poetischer Überschuß einen dafür empfänglichen Leser tief berührt? Locken nicht auch die Märchen mit ihrem sanftem „Es war einmal“ tief in Wälder, Höhlen und verbotene Zonen hinein? Auch Ernst Jünger hat, sagen wir „Auf den Marmorklippen“, aus diesem Wissen heraus geschrieben: „Immer wieder tasten wir in unseren durstigen Träumen dem Vergangenen in jeder Einzelheit, in jeder Falte nach. Dann will es uns scheinen, als hätten wir das Maß des Lebens und der Liebe nicht bis zum Rande gefüllt gehabt, doch keine Reue bringt das Versäumte zurück.“ So stimmt uns Jünger schon auf der ersten Seite seiner 1939 geschrieben Vision vom NS-Finale auf die Schrecken des abendländischen Untergangs ein.

Herta Müller tut es mit diesen Zeilen: „ Getragen habe ich alles, was ich hatte. Das Meinige war es nicht. (…) Es war noch mitten im Januar 1945. Im Schrecken, dass ich mitten im Winter wer weiß wohin zu den Russen muss, wollte mir jeder etwas geben, das vielleicht etwas nützt, wenn es schon nichts hilft.“ Mit der Beharrlichkeit eines Alchimisten, erforscht Herta Müller dann die Regionen des Hungerleiders. Dabei stößt sie in Tiefen vor, von denen man lieber nie etwas erfahren hätte: „Das Meldekraut wuchs wieder silbergrün, der wilde Dill gefiedert. Ich kam aus dem Keller und pflückte ins Kissen. Beim Bücken kippte mir das Licht weg, ich sah nur schwarze Sonne vor Augen. Ich kochte mein Meldekraut, es schmeckte nach Schlamm, ich hatte immer noch kein Salz.“ Oder so: „In die Brotfalle tappt jeder. In die Falle der Standhaftigkeit beim Frühstück, in die Falle des Brottauschens beim Abendessen, in die Falle der Nacht mit dem gesparten Brot unterm Kopf. Die schlimmste Falle des Hungerengels ist die Falle der Standhaftigkeit: Hunger haben und Brot haben, es aber nicht essen. Härter sein gegen sich selbst als tiefgefrorene Erde. Der Hungerengel sagt jeden Morgen: Denk an den Abend.“

Was mit dem Bild vom Alchimisten über das zugegeben recht hilflose Zitieren hinaus im Falle der „Atemschaukel“ gemeint ist, macht schon der Titel selbst deutlich. Oder jene Worte und Sätze, die Herta Müller als Überschriften für ihre Kapitel gewählt hat. Vom „Meldekraut“ ist da die Rede und „Von der Herzschaufel“. Vom „Hungerengel“ erfahren wir alles und von der „Mondsichelmadonna“ und lernen auch dies: wenig nur ist so „Gründlich wie die Stille“.

Als die Westfront der Roten Armee im August 1944 in Rumänien ankam, erklärte das bis dahin mit dem Deutschen Reich verbündete Land Hitler am 25.8. den Krieg. Darum gehörte es am Ende des Zweiten Weltkriegs zu den Siegermächten. Doch um Rumänien nicht ganz ungeschoren davonkommen zu lassen, wurden Rumäniendeutsche im Alter zwischen 17 und 45 auf Befehl der Kremlherren in Straflager verschleppt, um dort stellvertretend für alle Schuld abzubüßen. Vier Jahre lang war dann der Hunger König, und die Menschen starben weg wie die Fliegen. Im letzten Jahr durfte der zu Gerippen abgemagerte Rest wieder Fleisch ansetzen. Die rote Propagandalüge von der Umerziehung durch Arbeit sollte schließlich nicht schon durch den bloßen Augenschein ad absurdum geführt werden. Fürs Übrige sorgte ein Schweigebefehl. Der galt für die Heimkehrer und für die, zu denen sie heimgekehrt waren. Auch Herta Müllers Mutter ist durch so eine Lagertortur gegangen. Auch ihr Mund blieb verschlossen. Doch jetzt spricht die Mutter durch den ihrer 1953 geborenen Tochter.

Zusammen mit dem vielfach preisgekrönten rumäniendeutschen Schriftsteller Oscar Pastior hat Herta Müller von 2001 an damit begonnen, Gespräche der ehemals Deportierten aus ihrem Dorf aufzuzeichnen. Sie wußte, daß auch Pastior - Jahrgang 1927 - seinerzeit deportiert worden war. Bald entstand der Plan, ein gemeinsames Buch über die Lager zu schreiben. Doch nach Pastiors Tod im Oktober 2006 war dieser Plan undurchführbar geworden, und Herta Müller brauchte ein Trauerjahr, um sich, wie sie in einem Nachwort schreibt vom „Wir zu verabschieden und allein einen Roman zu schreiben. Doch ohne Oskar Pastiors Details aus dem Lageralltag hätte ich es nicht gekonnt.“

Was diese in ihrer Art einzig dastehende Schriftstellerin mit der „Atemschaukel“ gelungen ist, gehört zum Höchsten, was nach dem Zweiten Weltkrieg in deutscher Sprache zu Papier gebracht worden ist. Mit wem läßt sich die Müllersche Art zu schreiben vergleichen? Der Name Ernst Jünger ist schon gefallen. Man könnte noch an Robert Walser erinnern oder an Heimito von Doderer. Doch wozu überhaupt nach Vergleichen suchen für das eigentlich Unvergleichliche? Jeder Wortmagier ist einzigartig und Herta Müller ist eine, die wie alle Magier des Wortes, den Bogen spannt, mitten in unser Herz zielt und trifft.