Unfreiheit
(Gehalten in der Frauenkirche am 6. Oktober 2009)

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Meine Damen und Herren!
Ich stehe hier an einem höchst unwahrscheinlichen Ort. Wenn die Geschichte, von der nun die Rede sein wird, anders verlaufen wäre, gäbe es nicht nur die Gelegenheit nicht, ihrer zu gedenken, es gäbe auch diesen Ort nicht – ja, es gäbe strenggenommen nicht einmal die hier Versammelten. Zumindest nicht in dieser Konstellation und mit der inneren Muße, Veran-staltungen zu besuchen, zu denen keine Vorladung, kein Aufruf oder Befehl sie verpflichtete. Denn wenn mich eines bewegen konnte, den Part des Kanzelredners zu übernehmen (nichts berechtigt mich wirklich dazu), dann war es die Aussicht auf etwas, das himmelweit entfernt ist von einer Parteiversammlung, einem Kampfgruppenmeeting, einer 1.-Mai-Demonstration. Genau das aber ist das Unwahrscheinliche, von dem dieser hochaufragende Kuppelbau ein so massives Zeugnis ablegt. Wenn ich bedenke, daß ich das Gebäude, in dem meine Stimme heute verhallt, noch als Trümmerberg sah, wird mir ganz romantisch zumute. Hier kam ich oft vorbei auf dem Weg zum Staatstheater, diesem schwerfälligen Kasten, an dem ich als Assis-tent meine Dienste anbot. Kaum mehr als ein Eckpfeiler ragte damals aus dem Schutt auf, den die Dresdner in alter Anhänglichkeit ihre Frauenkirche nannten. Daß sie, unter welchen lokalen Streitereien und Architekturdebatten auch immer, in die Stadtsilhouette zurückge-zaubert wurde, verdankt sich mehr als nur einem Akt der Denkmalpflege oder postmoderner Volumetrie. Es hatte zur Voraussetzung etwas so Selbstverständliches, daß es die wenigsten bemerken müssen, etwas so leicht Verfügbares wie die Luft zum Atmen. Für sie wie für alle anderen elementaren Ressourcen gilt: je mehr es davon gibt, umso weniger Dankbarkeit wird ihr bezeigt. Eine kleine Reminiszenz aber ist sie doch immerhin wert.
Das vollkommen Erstaunliche, das mich hierher gebracht hat, es läßt sich zusammenfassen in dem einen, unendlich abgenutzten Wort Freiheit. Was mich beunruhigt ist nun aber, warum ausgerechnet dies F-Wort (die Urformel aller modernen Emanzipationsbestrebungen) neuer-dings so schlechte Umfragewerte erzielt. Ich frage mich, warum es derart verschämte bis ver-ächtliche Reaktionen hervorruft und der Eindruck entsteht, es handle sich dabei um eine un-aussprechliche Obszönität. Was für die besten europäischen Geister seit den Zeiten der Auf-klärung heiligstes der Güter war, gilt vielen heute nur als Zynismus und Pornographie, Syno-nym für grenzenlosen Konsum. Stimmt es, was zahllose Zeitungsartikel der letzten Jahre uns einreden: es gäbe, in weiten Teilen der Bevölkerung Ostdeutschlands eine neue Art Freiheits-müdigkeit? Heißt das, die Eingeborenen der Diktatur sind ihrer Schritte ins Unbekannte all-mählich überdrüssig? Von der Sehnsucht nach der Stallwärme einer geschlossenen Gesell-schaft liest man da, von enttäuschten Erwartungen in die Heilsversprechen der Demokratie, und daß es am Sozialismus mehr gute als schlechte Seiten gegeben habe. Vor die Wahl ge-stellt Freiheit oder Existenzsicherheit, entscheidet ein Fünftel der neuen Bundesbürger sich angeblich ohne Zögern für die kleine Welt der Rundumbetreuung, koste es was es wolle, auch den Verlust elementarer Menschenrechte. Stabile Verhältnisse heißt die Zauberformel. Sie ziehen ein Leben unter staatlicher Aufsicht und Fremdbestimmung dem abenteuerlichen Da-sein draußen im Raum des millionenfachen Egoismus vor. Einmal abgesehen von der töricht konstruierten Alternative – so fern der Realitäten entwickelter Industriegesellschaften, und abgesehen auch vom Spieltrieb der Presse, der sich in solchen Umfragen zeigt, hat der Befund etwas Beklemmendes. Das Herbeisehnen erniedrigender Verhältnisse zeugt nicht nur von schlechtem Gedächtnis, Schönfärberei der Vergangenheit und also von miserablem Stil. Weit bedenklicher daran sind die Anzeichen von Willenslähmung, der Rückfall in die gewohnte Passivität. Solches Gerede, wenn es denn mehr ist als das, läuft auf die Verweigerung von Lernprozessen hinaus. Der Philosoph würde sagen: auf einen Mangel an Einsicht in histo-rische Notwendigkeiten.
Es scheint so, als ob einige Kinder des Sozialismus, angekommen in der Erwachsenenwelt des Westens, auf ewig Kinder bleiben wollten. Es kommt ihnen nicht in den Sinn, daß Frei-heit ein Komfort ist, den jeder gern als geschenkt hinnimmt. Eine gewisse Unredlichkeit hindert sie, zuzugeben, daß es sich angenehmer mit ihr als ohne sie lebt. Sieht man sich die Welt als politische Landkarte an, diesen elenden Flickenteppich aus Diktaturen und Polizei-staaten, dann ist Freiheit eher der territoriale Ausnahmezustand. Rätselhaft bleibt also, wes-halb sie bei solcher Seltenheit so geringgeschätzt wird von denen, die ihre Vorzüge täglich genießen. Es mag ja sein, daß die praktischen Nutzanwendungen zu eng gefaßt, enttäuschend funktional erscheinen – als Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Freiheit des Wohnorts, der Religion, der Berufs- oder Partnerwahl undsoweiter: lebenswichtig sind sie allemal, wenn nicht gar überlebenswichtig. Wer erinnert sich noch des Schlachtrufs der Französischen Revo-lution? Von den drei Maximalforderungen, die in Paris damals laut wurden, sind mindestens zwei unterwegs verlorengegangen, ihrer Unrealisierbarkeit wegen oder aus allgemeinem Des-interesse. Der Mensch als Bürger neigt nun einmal nicht zu übermäßiger Geschwisterliebe, und Gleichheit ist ihm immer nur ein Anliegen, solange der Nachbar das größere Auto fährt. Halten wir uns also an das letzte noch konsensfähige Ideal. Es ist nicht einzusehen, warum ausgerechnet dieses zu kurz kommen sollte bei dem augenblicklichen Gedenkmarathon.
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Es gibt Alpträume, von denen man weiß, daß sie nicht wiederkehren, und die einen gerade darum beschämen, weil man einmal geglaubt hatte, sie würden nie ein Ende nehmen. Es gab eine Zeit, da hätte man aus eigener Kraft keinen Ausweg gefunden, so übermächtig waren sie, so sehr hielten sie das noch schwache Selbstbewußtsein in Schach. Wahrscheinlich kann jeder, egal in welcher Gesellschaft er aufwuchs, aus seiner Kindheit und Jugend von solchen Alptraummomenten berichten, aus einer Lebensphase also, in der der Mensch gewöhnlich am wehrlosesten ist, die aber die entscheidende bleibt für die Erziehung des Herzens. In diesem Punkt geht es dem Nestling aus dem höheren Bürgertum Westeuropas genauso wie dem Boy in Südafrikas Townships, der kleinen Prinzessin in ihrem schmucken Himmelbettchen in den Hollywoodhügeln nicht anders als ihren gleichaltrigen Kameradinnen in einem Arbeitslager in Nordkorea. Es bedarf, vermute ich, zur Herstellung von Alpträumen nicht einmal beson-ders harter Umstände. Eine schlimme Familiensituation wiegt hier genauso schwer wie ein repressives politisches Regime, die Allgewalt eines Haustyrannen nicht weniger als die ver-giftete Atmosphäre eines Landes, in dem ein Hitler regiert, ein lächelndes »Väterchen Stalin« oder irgendein finster blickender Ayatollah.
Solche Gleichursprünglichkeit unserer Ängste und Ohnmachtserinnerungen ist es, die jedem Menschen lebenslang ein gewisses Maß an Einsamkeit garantiert. Sie ist es auch, die jeder sogenannten Betroffenheit innere Grenzen setzt. Zugleich läßt sie uns den fremden Alptraum intuitiv verstehen, wenn auch meistens nur, um ihn sofort zu überbieten, nach dem Motto: Wenn du wüßtest, wie es mir erst ergangen ist. Mein Alptraum der frühen Jahre geht so.
Ich sitze in einem Dienstzimmer eingesperrt, Türen und Fenster sind fest verschlossen, wahl-weise auch vergittert wie die Räume fast aller staatlichen Behörden. Der Stuhl ist ein Modell, wie sie einem in jeder Schulungseinrichtung von Greifswald bis Greiz begegneten, eine von diesen Preßholzkonstruktionen aus volkseigener Produktion. Jahrelang verfolgte mich das Möbelstück, die ganze Schulzeit hindurch, wo man es mit allen Fasern seines heranwach-senden Körpers kennenlernte, und später in der Kaserne, wo man schon froh war, es manch-mal benutzen zu dürfen, beim Studium dann in irgendeinem der neuen Seminarräume. Sogar im Kindergarten hatte es längst auf einen gewartet, in Miniaturformat um die niedrigen Tische gruppiert, wie für die sieben Zwerge gemacht. Auf so einem Ding also sitze ich, in der Mitte des Raumes, der überhell ausgeleuchtet ist, die Jahreszeit draußen spielt keine Rolle; es ist immer dasselbe Graugrün einer undefinierbaren Vegetation. Mir gegenüber, hinter einer Bar-riere von Tischen aus den landestypischen Kunststoffplatten, die Ränder mit Weichplastik-puffern umleimt, ist ein Gremium von Autoritäten verschanzt. Der Schuldirektor, Lehrer bei-derlei Geschlechts, ein Mitschüler sehr steif im Blauhemd der Jugendorganisation, ein oder zwei Elternvertreter, und alle haben sie diesen Blick, der so heuchlerisch zwischen gespielter Entrüstung, Neugier und Teilnahmslosigkeit schwankt. Es ist ein Tribunal, und es geht ihnen darum, mir, der durch sein Mißverhalten gegen die sozialistische Ordnung verstoßen hat, den Prozess zu machen. Sie können mich, wenn sie alle ihre Aversionen schön zusammenlegen, von der Schule verweisen, mir den Weg zum Studium abschneiden: meine Zukunft steht auf dem Spiel.
Mein Vergehen, von meinem Banknachbarn brühwarm dem Vater gepetzt, der beim Staats-sicherheitsdienst arbeitete und von jenem bei der Elternversammlung öffentlich der Klassen-lehrerin angezeigt, war der Besitz eines Eisernen Kreuzes Zweiter Klasse, mit der fatalen Jahreszahl 1939 auf der Rückseite. Ich hatte das Corpus Delicti aus den Sommerferien mitge-bracht, als Erbstück eines verstorbenen Großonkels, und dummerweise in der Schule herum-gezeigt. Wie Kinder nun einmal sind: sie geben gern mit ihren Besitztümern an. Und in diesem Fall war das Beutestück eine wirkliche Rarität, die zudem noch den Kitzel des Ver-botenen hatte, so weit war mein historisches Empfindungsvermögen schon entwickelt. Die Nachricht hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und nun war ich umzingelt, und es gab keine Ausflucht. Für immer klingt mir der Eröffnungssatz dieser schrecklichen Schicksals-posse in den Ohren: »Grünbein, das wird noch ein Nachspiel haben.«
Und das hatte es auch, obgleich ich noch einmal mit heiler Haut davonkam. Man hatte mich zu einer Disziplinarstrafe begnadigt, und ich stand nun unter verschärfter Beobachtung bis zu dem Tag, da mir derselbe Direktor mit eisiger Miene mein Abiturzeugnis aushändigen mußte. Der Mann hatte dann übrigens eine recht beachtliche Nachwende-Geschichte. Wie sich später herausstellte, war er ein passionierter Sammler von Münzen, Orden und Ehrenzeichen gewe-sen, auch mancherlei Kriegsmemorabilia waren in seinem Besitz, und ich hätte wetten mögen, auch ein bestimmtes Kreuz, das mir beinah die ganze Jugend ruiniert hätte. Bekannt gewor-den war das alles, weil der Mann Spielschulden hatte (das Zocken war seine zweite Leiden-schaft), und darum Annoncen aufgab, in denen er seine Sammlung zum Verkauf anbot. Zuletzt war sein Minus so groß, daß er keinen Ausweg mehr sah als den Sprung in den Tod.

 

 

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Die geschilderte Szene aber wiederholt sich in meinen Träumen bis heute mit böser Regel-mäßigkeit, in nur geringfügigen Variationen, um den immergleichen Kern einer Machtdemon-stration geordnet, halb Kreuzverhör, halb Gehirnoperation, in deren Verlauf über mein wie-teres Fortkommen entschieden wird. Das Personal ist jedesmal ein Konglomerat aus Lehrern, Beamten, Ferienlagerbetreuern, uniformierten oder mit Schlips und Anzug kostümierten Ord-nungshütern, Offizieren  – Leute, denen die Verfügungsgewalt gegeben ist, sich so in dein Leben einzumischen, daß du es nie mehr vergißt. In einer erwachseneren Variante sitze ich vor einer Musterungskommission, und es geht darum, wie viel Lebenszeit du bereit bist, diesem Staat für seine Verteidigung zu opfern. Da er sich zu mehr als dem Minimum von achtzehn Monaten, auch Grundwehrdienst genannt, nicht überreden läßt, aber doch arglos seinen Studienwunsch äußert (irgendwas zwischen Germanistik und Kunstgeschichte), erklärt man dem Drückeberger höhnisch die Aussichtslosigkeit seiner Pläne. Was meine Werber nicht wissen: am liebsten wäre ich Bausoldat geworden. Das war, in einem Regime, das den Wehrersatzdienst in Altenheimen und Krankenhäusern nicht duldete, noch die attraktivste Form, sich durchzumogeln, nur mit dem Spaten des legendären Moorsoldaten bewaffnet. Aber weder war ich bekennender Pazifist noch Zeuge Jehovas, Anwärter auf ein Theologie-studium oder auch nur aus strenggläubigem Elterhaus: die Chancen für eine Ausnahme waren damit gleich Null. Ich erinnere mich noch an die Frage des Generalmajors nach dem famili-ären Hintergrund dieser widerspenstigen Type (man besprach sich längst über meinen Kopf hinweg) sowie an die Antwort des allwissenden Mitarbeiters vom MfS, die mich endgültig disqualifizierte: »Technische Intelligenz, beide parteilos«. Damit ließ man mich ziehen bis zur Einberufungsmusterung kurz nach dem Schulabschluß, bei der sich das Ritual wiederholte, doch diesmal wurde er ernst.
Noch so ein hoffnungslos abgeriegelter Raum, das gleiche einschüchternde Arrangement aus Büromöbeln, Fensterkreuzen und Wandzeitungen, die in Wort und Bild wahlweise das Land oder die Einheitspartei oder die Produktionsbilanzen verherrlichten. Oder war es diesmal die sozialistische Waffenbrüderschaft? Von der sollte ich später noch einen Geschmack bekom-men, als unser Bataillon kurz davor stand, in Polen einzumarschieren, um dort den Volksauf-stand niederschlagen zu helfen, nach dem Muster von Prag ’68 und Ungarn ’56. Dem Ver-sagen dieser Waffenbrüderschaft im Oktober ’89, als meinen lieben Landsleuten der Gedulds-faden riß und sie aus freien Stücken auf die Straße gingen, verdanke ich es, daß ich heute hier stehe. Doch zurück zu jener Szene im Wehrkreiskommando, die ziemlich schnell eskalierte. Schon rein literarisch betrachtet, war sie ein Reinfall, das Gegenteil zu den ulkigen Rekruten-anekdoten vom braven Schwejk bis zu Felix Krull. Es war, als hätte man einem ganzen Land die Ironie wie der Luft den Sauerstoffanteil entzogen. Das Lachen blieb dir im Halse stecken, wenn man dich bei der Lektüre der falschen Bücher erwischte, im Hauseingang zur Ausweis-kontrolle nötigte, wegen langer Haare oder wilder Lederklamotten verfolgte.
Oder wenn dir in preußischer Sachlichkeit eröffnet wurde, du könntest verschiedene Scharten deines bisherigen Lebens auswetzen, wenn du nur bereit wärst, deinen Ehrendienst als Soldat der Nationalen Volksarmee an der gefürchteten Staatsgrenze abzuleisten. Und das war noch ein Angebot, mancher wurde nicht einmal gefragt und schämt sich sein Leben lang für die Postengänge, die ihn jederzeit zum Mörder hätten machen können. Heute weiß jedes Kind Bescheid, aber damals war das Gebilde, das wie der römische Limes den Osten vom Westen abschnitt und um Berlin einen Belagerungsring zog, für den Eingeborenen praktisch wie nicht vorhanden. Da man nicht darüber hinwegkam, geschweige denn durch, war die beste Thera-pie das Verheimlichen. Ein Tabu lag auf allem, was diesen Betonwall und seine militärische Absicherung betraf. Das ganze Land behielt das so Offensichtliche wie das Wissen von einer unheilkranken Krankheit für sich. Wen wundert es, daß es schließlich daran erstickte? Keiner, der nicht in das Geheimnis eingeweiht war, aber der Gebrauch westlicher Fachausdrücke wie Selbstschußanlage, Todesstreifen, Fluchthelfer oder Mauerschütze, aus dem Radio aufge-schnappt, verursachte sofortiges Herzklopfen.
Es wurde also brisant, als der Musterungskandidat, nicht ohne zu erröten, erklärte, er würde unter keinen Umständen jemals auf Flüchtlinge schießen. Was daraufhin geschah, weiß ich so genau, weil ich es mir seit Jahren immer mal wieder vorspiele, innerlich und mit der Frei-willigkeit, die Träume so an sich haben. Verkürzt und in menschliche Sprache zurücküber-setzt, ergab der hysterische Ausbruch etwa den folgenden Sinn. Erstens sei die Staatsgrenze der DDR kein Schießstand, und wer anderes behaupte, sei dem Klassenfeind und seiner Pro-paganda auf den Leim gegangen. Zweitens seien Flüchtlinge Grenzverletzer und damit poten-tielle Aggressoren, gegen die man sich schützen müsse, wenn nötig mit Waffengewalt. Und drittens sei oberstes Gebot die besonnene Reaktion, sprich die deutliche Aufforderung, sich zu ergeben und erst im äußersten Fall folgt der Warnschuß. Und wenn das alles nichts hilft? »Schießen Sie ihm in die Beine«, platzte es aus einem der anwesenden Berufssoldaten heraus, auf Sächsisch und in sympathischer, wenn auch ungewollter Offenheit. Damit aber war der Erpressungsversuch gescheitert, und nun blieb ihnen nur die hinterhältige Tour. Zum ersten Mal bekam ich eine Vorstellung von der informationstechnischen Überlegenheit des Systems, als man mir aus den Akten Kostproben aus meinem Privatleben bot, alles mit Klarnamen und wörtlichen Zitaten, Äußerungen von Lehrern, Freunden, Nachbarn, dazu die kleinen Geheim-nisse einer Schülerliebe, die nicht mehr ganz platonisch war und sich doch unbeobachtet glaubte. Es gab keine pikanten Details, aber etwas schienen die Herren zu wissen. Es genügte, um das Gewissen des Kavaliers unter Druck zu setzen. »Was sagt wohl Ihre Freundin M. dazu«, blaffte einer der Zivilisten, und als der vertraute Vorname fiel, hatten sie die empfind-liche Stelle beinah getroffen. Um es kurz zu machen, ich kam auch diesmal davon und werde mich nicht beklagen. Überhaupt gibt es für Szenen wie diese wenig Beweismaterial. Selbst die Protokolle noch der peinlichsten Verhöre, hoffe ich, sind mittlerweile im Reißwolf ver-schwunden.
Etliche Wochen später stand ich mit einigen Hundert meines Jahrgangs auf einem Sammel-platz in der Einöde Brandenburgs und starrte auf ein von Wachtürmen markiertes Gelände, das uns arme Idioten für die nächsten anderthalb Jahre verschluckte. Wir waren das Kanonen-futter des Kalten Krieges, Fußsoldaten, die man als erstes durchs Minenfeld gejagt hätte. Während über unseren Köpfen das Wettrüsten munter weiterging, drillte man uns für den Ernstfall – den natürlich so keiner wollte, von dem aber im Osten in politischen Schulungen auffällig oft und betont kämpferisch gesprochen wurde. Wie es im Westen war, kann ich nicht beurteilen, aber Freunde versichern mir, sie hätten bei derlei Gelaber sofort abgeschaltet. Ich wünschte, ich hätte es ihnen gleichtun können damals. Aber da steckte ich schon bis über beide Ohren im Schlamm, das heißt tief in der Grundausbildung. Bis heute faszinieren mich gewisse Impressionen aus dieser Zeit, schockgefrorene Szenen, Etappen meiner Erniedrigung. Wie da, von einem panzerglasbewehrten Kommandoturm aus gesehen, bei einem Nachtan-griff Tausende von meiner Sorte flach am Boden liegen, kreuz und quer Kabelrollen, Muni-tionskisten verstreut, unter Tarnnetzen Schützenpanzer, während Leuchtspurgeschosse über alles hinwegpfeifen und das Manöverfeld in ein bengalisches Licht tauchen.
Die Kehrseite solcher inneren Volksarmee-Orgien waren dann Katastrophenschutzübungen zum Verhalten im Falle eines ABC-Waffen-Einsatzes. Im grauen Strampelanzug aus quiet-schendem Gummizeug, ein grotesk umherstolpernder Froschmann, das Gesicht in Vorweg-nahme des kommenden D-Day von einer Gasmaske ausgelöscht, kam ich mir vor wie der letzte Mensch – vulgo: das Allerletzte. Nur noch weg aus diesem Land wollte ich, nur noch fort zu den einzig vernunftbegabten Wesen, die ich aus Presse, Funk und Fernsehen kannte (und aus den Romanen von Hemingway, Proust oder Thomas Mann): den braven Bürgern in Westeuropa und in der Welt hinter dem großen, phantastischen, atlantischen Ozean. In diesem Augenblick war der Ausreiseantrag beschlossene Sache. Läßt sich das nachvollziehen?
Jetzt war man endgültig dort, wo sie einen von Anfang an haben wollten, im innersten Höllenkreis des Archipel Sozialismus. Dieses klägliche Etwas, bis zum Stahlhelm kiloschwer mit Militärgerät vollgepackt, hätte es wirklich desertieren wollen, es wäre nicht weit gekom-men. Es braucht wenig Phantasie, sich vorzustellen, wie eng der Bewegungsradius für einen Uniformierten außerhalb der Kaserne war, wie unwahrscheinlich sein Durchkommen west-wärts bis zur bestgesicherten Staatsgrenze der Welt. Man hätte schon selber dort Dienst tun müssen, um die Lücke im Gefängniszaun auszuspähen, die Chance zum Abhauen ergreifen zu können. Aber daß einer aus dem äußersten Nordosten der DDR, nahe der Grenze zum bearg-wöhnten Bruderland Polen, die Flucht aus soldatischem Befehlsnotstand durch einen Sprung auf den Boden des Grundgesetzes gelungen wäre, ist ein Märchen, das nicht einmal die Gebrüder Grimm zu erzählen wagten. Denn eine Nummer im Wehrpaß war man nun. Um den Hals die Blechmarke reduzierte einen auf den Status des Leibeigenen, der freilich keinem Sklavenhalter oder Gutsbesitzer mehr gehörte, sondern dem übermächtigen, ungreifbaren, anonymen Staat. Hatte nicht Marx die Überwindung aller ausbeuterischen Gesellschaftsord-nungen vorhergesagt, etwa um dieselbe Zeit, da man selbst im zaristischen Rußland endlich die Leibeigenschaft abschaffte? So anstößig der Vergleich sich anhört, in Wirklichkeit war man der gefräßigen Maschinerie um keinen Millimeter entronnen. Mochte sich sozialevolu-tionär auch einiges getan haben, aus der Sicht des Einzelnen machten Feudalismus und Sozia-lismus kaum einen Unterschied. Man war die Geisel eines Systems, das man nicht gewählt hatte noch jemals abwählen konnte. Das ganze Leben war einer Ordnung unterworfen, die wenn schon nicht gottgegeben, so doch von den Klassikern der Revolution vorausgedacht, wissenschaftlich fundiert war. An der Macht war ein dialektischer Materialismus, der die Physis jedes Einzelnen von der Wiege bis zur Bahre für sich beanspruchte und seine Psyche wegwarf wie einen überflüssigen Fetisch. Mag sein, daß einem nachts beim Militär, in der Kälte einer Wachstube so düstere Gedanken kamen: aber wer sagte denn, daß dieser Sozialis-mus nicht ein Feudalismus ohne Adelsgeschlechter war – mit seinen Jagdrevieren für die Politbürofürsten, seinen Befestigungs- und Wehranlagen quer durchs Land, der Kasernierung einer ganzen Bevölkerung und ihrer doppelten Enteignung von Arbeitskraft und Familien-leben? Soviel stand fest, man konnte immer noch verheizt werden, nur diesmal im Namen der Geschichte, im Dienst einer historischen Mission des Proletariats oder wie immer das men-schenverschlingende Programm, der zeitgemäße Theologieersatz, gerade hieß. Und apropos Dialektik: wen bewachten wir denn auf unseren Postengängen, gegen wen wären wir im Krisenfall losmarschiert – wie es in den letzten Tagen des Regimes dann tatsächlich die Jungs einiger Eliteeinheiten taten?
Die eigenen Landsleute, uns selbst hätten wir militärisch in Schach halten müssen. Dazu waren wir, ohne es zu begreifen, abgerichtet worden, soviel innere Gegensätzlichkeit hatte die schöne neue Gesellschaftsordnung für jeden von uns aufgespart. Denn die Wahrscheinlich-keit, daß der Westen uns angegriffen hätte, war allzeit geringer als die Gefahr, daß die so Kolonisierten eines Tages meutern würden. Da robbte man in seiner Montur des Motorisier-ten Schützen hinter einem Panzer her und war sich selber der größte Gegner. Immerhin hatte der Hohlkopf unter dem Stahlhelm, bei seinen Kriegsspielen in Sandgruben und Kiefern-wäldern, genügend Zeit, über alles nachzudenken. Auch über die eigene kleine Statistenrolle in diesem welthistorischen Drama. Nebenbei bemerkt: nicht wenige Autoren meines Jahr-gangs (ich scheue das Wort Generation) hat die Armeezeit zum Schreiben gebracht. Damals kam in mir der heftige Wunsch auf, den Schauplatz zu wechseln, die Welt von der anderen Seite her kennenzulernen – aber auch das Verlangen, nicht mehr stumm hinzunehmen, was mir da zustieß. Man verzeihe mir den stellenweise recht rauhen Ton. So klingt einer, der auch zwanzig Jahre später noch immer empört ist über die freche Freiheitsberaubung. Der es nicht fassen kann, mit welcher Selbstverständlichkeit der Verlust kollektiv hingenommen wurde. Ich mochte es nicht, eine Geisel des Systems zu sein. Ich mochte die historischen Umstände nicht, die mich in eine solche Lage gebracht hatten, und ich mochte auch nicht, daß ich das alles das nicht mochte. Wer hat gesagt, daß man sein politisches Schicksal akzeptieren muß? Es gab eine Zeit, da rebellierte etwas in mir bis zum Verrücktwerden gegen dies völlige Aus-geliefertsein. Wie könnte ich je vergessen, daß ich einmal schon so gut wie abgeschrieben war, eine Planziffer nur in der Statistik des Kalten Krieges? Dafür sind Alpträume gut, daß sie dem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Ihre Funktion ist die Störung. Sie scheren sich nicht um Feiertage und machen einen immun gegen den Konsens von Vergangenheitsbewältigung.
   Noch eine weitere unerfreuliche Szene kommt mir hier in den Sinn. Der dritte Auftritt dieser Art spielte sich ganz zum Schluß ab, in den Tagen rund um den letzten Geburtstag der Republik. Das Land, dessen Bürger ich dem Ausweis nach war, wurde damals vierzig, ich selbst, Tage später nur, siebenundzwanzig. Soviel zu den Relationen, die manches besser er-klären als meine bitteren Resümees. Die Ereignisse jener Oktobertage sind hinreichend be-kannt und so gut dokumentiert, daß ich mich auf ein paar scharfe Traumsequenzen beschrän-ken kann. Es war wieder der nämliche Raum, in der Mitte der schon mehrfach erwähnte Stuhl, der mir, wie sich nun zeigte, immer nur vorausgeeilt war wie ein Gegenstand aus einem bösen Märchen. Wieder gab es da einige ältere Herren, die dringend mit mir reden wollten, nur daß sie diesmal Polizeiuniform trugen und wie die Derwische auf mich uns einprügelten, bevor sie zur Sache kamen. Hinter einem Schreibmaschinentisch verschanzt, saß mir schließ-lich ein Leutnant der Kriminalpolizei gegenüber, fast wie im richtigen Polizeiruf 110. Das Verhör drehte sich um die Ereignisse der letzten zwölf Stunden, um die Protestkundgebungen tausender Unzufriedener auf den Berliner Straßen und meinen Anteil daran. Wir hatten die Stadt zurückerobert, und dies ganz ohne Waffen, mit mehr Mut als Verstand, vereint in unse-ren bangen Sprechchören, die wenig mehr forderten als »Keine Gewalt«. In Dresden hatte es in den Tagen zuvor Zusammenstöße am Hauptbahnhof gegeben, die Leipziger Montags-demonstrationen waren noch Zukunftsmusik. Nun saß ich wie die Maus in der Falle und mußte mir etwas von Randalierertum anhören und antisozialistischen Zusammenrottungen.
Vorausgegangen war dem eine Geburtstagsparty in kleiner Runde in einer der Szenekneipen, auf dem Heimweg dann die Verhaftung nach einem Wortwechsel mit den Einsatzkräften, die Fahrt im Viehtransporter aufs Revier, anschließender Spießrutenlauf, Aufnahme der Perso-nalien, Schikane auf flutlichtbestrahlten Garagenhöfen. »Jetzt spielen wir Chile mit euch«, war eine Drohung, an die sich nachher keiner erinnern mochte. Man hatte sich einige blaue Flecken eingehandelt, aber das unangenehmste war das nachtlange Stehen mit dem Gesicht zur Wand, eine subtile Folter, die auf Schlafentzug hinauslief. Es macht sich schlecht, wenn man seiner Empörung gähnend Ausdruck verleihen muß. Aber einmal wenigstens, das kann ich nun meiner Mutter sagen, habe ich meinen Geburtstag »durchgestanden«. Beim Verhör später half es einem nichts, darauf hinzuweisen, daß man längst Teil einer Massenbewegung war. Auch daß der Spruch »Wir sind das Volk« einer Souveränitätserklärung gleichkam, be-eindruckte den Büromenschen wenig. Jemand hatte beobachtet, wie ich vor einer Polizei-sperre den Clown gespielt hatte, weil mir die Jungs leid taten in ihrem insektenhaften Aufzug mit Schild und Plexiglashelm. Ich hatte sie provoziert mit der Bemerkung, demnächst müßten sie die Kundgebungen ihrer jetzigen Widersacher betreuen, wenn diese erst offiziell ange-meldet und genehmigt waren. Das war eine etwas verfrühte Dialektik, gewiß, aber es gab die Stimmung wieder, in der wir uns damals befanden. Wir betrachteten uns als Künstler, das Demonstrieren verstanden wir als eine Art Happening, einen dadaistischen Spaß. Oder als Ausdruck wiedergewonnener Lebensfreude. Außerdem hatten wir das ganze Staatstheater so gründlich satt, daß uns nurmehr sarkastische Sprüche dazu einfielen. Keiner von uns hatte eine Kerze dabei; allerdings hätte auch keiner von uns an die Wunder geglaubt, die später tat-sächlich geschahen.
Das Verhör präsentierte mir dann die Quittung für solch ignorantes Verhalten. Es war, darin den Urszenen aus meiner Schulzeit ebenbürtig und gewissermaßen deren Krönung, Beweis-aufnahme, Gerichtsverhandlung und Urteilsverkündung in einem. Nachdem er alle meine Aussagen einmal verdreht hatte, ließ der Beamte mich ein Protokoll unterschreiben. Darauf verabschiedete er sich mit dem unvergeßlichen Satz: »Merken Sie sich eins: was Sie sagen und was wir wissen, ist zweierlei.«
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Ich erwähne das alles nicht aus Rührseligkeit oder um mich wichtig zu machen. Das wäre schon darum sinnlos, weil jeder, der damals dabei war, ähnliches zu berichten hätte und oftmals viel schlimmeres. Einige würden die Sache auch völlig anders darstellen, dessen bin ich mir sicher: jede Diktatur hat ihre Binnenperspektive, und ein paar Leute müssen tatkräftig mitgewirkt haben, nicht nur im Apparat, sonst hätte der Laden nicht so lange so reibungslos laufen können. Für die anderen, die damals mit großen Erwartungen ihr altes Leben abstreif-ten und heute, aus welchen Gründen immer, desillusioniert und demokratiemüde sind, tut es mir leid. Man hat den Eindruck, daß es vielen Menschen im Osten wie dem armen Franz Biberkopf aus Berlin Alexanderplatz erging: der schlimmere Teil seiner Existenz begann, nachdem er die Gefängnistore in Richtung Freiheit passiert hatte. Kein Wunder, daß mancher sich heute nach der Schwelle sehnt, auf der er noch hätte umkehren können. Aber weder gibt es diese Schwelle mehr, noch gottlob die Verhältnisse, aus denen eine ganze Bevölkerung ihren Auszug ins Unbekannte begann.
Was ich hier mitteile, ich sage es nochmals, ist rein persönlich. Niemand muß sich beleidigt fühlen, wenn er bedenkt, daß es die Ansichten eines gewöhnlichen Geschichtsexzentrikers sind, wie ihn die leninistischen Gesellschaften im letzten Jahrhundert fast zwangsläufig her-vorbrachten. Manchem mögen sie einseitig, auch fahrlässig oder frivol erscheinen: sie haben allerdings den Vorzug der Eindeutigkeit. Und sie sind das Produkt einer Erfahrung, die ich mir nicht ausgesucht habe. Ich gehe so weit zu sagen: das Aufwachsen in einem unfreien Land war eine Erfahrung, die ich gern hätte missen wollen. Sie war im Grunde für nichts gut, außer dafür, mit den Abwehrkräften das moralische Immunsystem zu stärken und damit im Glücksfall auch den Charakter. Insofern sind Zwangsverhältnisse immer ein Dienst am Indivi-duum. Das Verlangen nach Freiheit wächst mit den Nötigungen, denen sich ein Mensch ausgesetzt sieht. Es kann freilich auch völlig erlöschen – in extremer Kälte sowie bei fabrik-mäßigem Terror, wie es die Lager der beiden verfeindeten Totalitärsysteme bewiesen haben. Im Falle des Osteuropäers schärfte die spezielle Herrschaftsform den Sinn für das Anmaßende jeder Idee von Idealgesellschaft. Denn zuge-geben: der angewandte Marxismus stellte sich immer noch als ein Humanismus dar, wenn auch in pervertierter Form. Vor allem galt es, sich schon früh abzuhärten gegen das Gefühl der Lähmung, wie es ein gleichförmiger Alltag aus Planwirtschaft und Überwachung mit sich bringt. Das schlechte Wetter kam, fast wie in der echten Natur, immer von oben, und es war unausweichlich. Also gewöhnte man sich daran, nahm es als Begleiterscheinung und wendete sich lieber den eigenen Dingen zu, der Bienenzucht, dem Briefmarkensammeln oder der Literatur.
Was immer man über das verblichene Sozialistische Reich (und seinen westlichsten Außen-posten, die DDR) noch vorbringen mag, jeder weiß, wie literarisch ergiebig es war, vor allem in Drama und Prosa. Und die Erträge halten noch an, wie gewisse Romanwerke der letzten Jahre, keines unter sechshundert Seiten lang, eindrucksvoll zeigen. Wenn ich also hier ins Erzählen geriet, so nur, um mich in jene Zeit zurückzuversetzen und ein paar Erklärungen dafür zu finden, warum ich zu dem geworden bin, der ich bin. Denn der hier spricht, ist ein Aussteiger. Wo immer ihn seine Erinnerungen literarisch noch hinführen werden, eines dürfte nun klar sein: Die DDR war für ihn keine kuschelige Zone, kein Kindergeburtstag mit roten Fähnchen und lieben Sandmann-Wiegenliedern, kein gelobtes Arbeiter-und-Bauern-Reservat und erst recht keine heimliche Gelehrtenrepublik. Sie war ein ehrgeiziges Sozialexperiment, das seine Kindheit und Jugend in Anspruch nahm, und er ist heilfroh, daß es so glimpflich zu-endeging und das Labor zum Schluß nicht allen noch um die Ohren flog. Dankbar ist er, daß im Moment ihres Bankrotts die besten Jahre noch vor ihm lagen, daß er nicht bereuen muß, seine Zeit mit nichtigen innerbetrieblichen Reparaturen und Reformversuchen vergeudet zu haben. Er war gerade noch rechtzeitig davongekommen, bevor das Stockholm-Syndrom, die Identifikation mit seinen Geiselnehmern, auch ihn schwachmachen konnte. Noch war es für ihn nicht zu spät, die Welt außerhalb der Mauern, das riesige kapitalistische Schreckenska-binett mit seinen Schönheiten und Absurditäten, selbst zu entdecken. Seither kann er in aller Ruhe darüber nachsinnen, was so fatal falsch war an den Paradiesen der Intoleranz.

 

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Natürlich ist die Lust groß, die Geschichte damit auf sich beruhen zu lassen. Es gibt so viel Wichtigeres, als in alten Krankenakten zu blättern. Und man könnte auch die berechtigte Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat war, getrost den Historikern überlassen, wäre da nicht der schlechte Ruf, in dem bei vielen der Davongekommenen noch immer die Freiheit steht. Ein wenig nachdenklich macht es schon, daß die Bilder der Hoffnung inzwischen alle aus dem Archiv kommen. Jede beliebige Dokumentation über die Wendezeit weckt mehr Sympa-thien für die seinerzeit Mitgerissenen als die Ergebnisse heutiger Umfragen unter denselben. Der große Hierarchiezerfall, man sieht es den hektischen Filmstreifen an, war eine für alle Beteiligten enorm belebende Zeit. Es waren Wochen der Wandlung, Monate der Häutung und des kompletten geistigen Umbaus. Selbst die härtesten Bonzen sind schließlich hineingezogen worden in diesen Strom und mußten sich geschlagen geben. Vielen ist die Transformation so gut bekommen, daß sie sich in der verhaßten Marktwirtschaft nun wie Fische im Wasser be-wegen.
Man hätte den Mund vielleicht nicht so voll nehmen sollen. Revolution ist ein großes Wort, nebenbei gesagt, auch ein ziemlich verbrauchtes, das Zwanzigste Jahrhundert hatte sein Soll darin bereits übererfüllt. Was damals stattfand, hatte bestenfalls metaphorisch etwas von einer Revolution – die abschwächenden Attribute wie friedlich und samten verraten es. Tatsächlich war es ein Generalstreik des Volkes. Die Leute suchten, ob sie sich dessen bewußt waren oder nicht, einen anderen Arbeitgeber als diesen Staat. Zunächst einmal bestreikten sie jedoch ihre eigenen Betriebe, und vielleicht hatte der bald darauf einsetzende Katzenjammer eben damit zu tun. Da mir aber nichts daran liegt, in alten Depressionen herumzustochern, möchte ich zum Schluß lieber auf das wirklich Erstaunliche an der Wende-Zeit zu sprechen kommen.
Bei aller Euphorie von damals, war doch eine der ersten Fragen danach, wie ein so rasches Happy End überhaupt möglich war. Zwei historische Rätsel sind es, die einem noch immer ungelöst scheinen, denkt man die Sache von ihrem Ende her. Das erste betrifft die entwaff-nende Friedfertigkeit, mit der, abgesehen von den erwähnten Prügelexzessen der ersten Tage, die Wandlung sich vollzog. Um ein berühmtes T.S.Eliot-Zitat anzuwenden: »with a whimper not with a bang« ging die DDR zugrunde. Mit einem Wimmern, nicht mit einem Knall löste sich die hochgerüstete, zu allem entschlossene Staatsmacht auf. Staunend fragt man sich, warum die Agonie eines so martialischen, paramilitärisch durchtrainierten wie neurotischen Regimes ganz ohne Blutvergießen vonstatten ging.
Machen wir uns nichts vor: aus der Sicht des Altkommunisten war das, was sich da auf den Straßen abspielte, die Konterrevolution. Ein echter Tschekist hätte nicht verhandelt, sondern geschossen, das war er den Toten der Weltrevolution schuldig. Warum also, lautet die Frage, die kein Historiker bisher ausreichend beantworten konnte, warum wurde der Apparat derart leicht beiseitegefegt? Verließ die Genossen etwa ihr Überlebensinstinkt? Hätten sie nicht ein-schreiten müssen, als in Leipzig und Berlin das protestierende Volk die Zentralen des Staats-sicherheitsdienstes stürmte, alles kurz und kleinschlug und die Akten durcheinanderwarf? Wem ist es gutzuschreiben, daß am Ende kein Blut floß?
Ich weiß, daß bis heute die Legende von der Besonnenheit der zuständigen Befehlsempfänger kursiert. Auch die Befehlsgeber haben bald angefangen, ihre Hände in Unschuld zu waschen. Der wahre Grund aber ist ebenso verwickelt wie einfach. Man war eingeknickt, weil der mili-tärische Beistand Moskaus ausblieb. Weil die Kremlführer in ihrem unerforschlichen Rat-schluß plötzlich auf Nichteinmischung beharrten. Zum ersten Mal hielt sich das Sowjetreich aus den Problemen, die es selber geschaffen hatte, heraus. Damit aber hatte der klassische Kommunismus den Geist aufgegeben. Der Weg war frei, die Geiseln konnten das Raum-schiff übernehmen und es zur Erde zurücklenken.
Das zweite Rätsel aber ist noch weit wundersamer. Es hat im Grunde nie aufgehört, mich zu beschäftigen. Ich muß hier, auch wenn es keiner mehr hören kann, noch einmal auf die Mauer zu sprechen kommen. Hatte es nicht, selbst für den größten Spielverderber, etwas Bezwin-gendes, in welch kurzer Zeit dies grauenhafte Bauwerk verschwand? Ein massiver Betonwall, das ausgeklügeltste Absperrsystem seit dem römischen Limes, hatte es sich binnen weniger Monate in Luft aufgelöst. Ganz offensichtlich war seine Zerstörung ein Bedürfnis vieler Tau-sender Menschen gewesen. Niemand mußte sie dazu auffordern, kein Politiker, kein Volks-führer hatte hier seine Hände im Spiel. Aus eigenem Antrieb, spontan, war der Wettbewerb um seine Abtragung entbrannt, anfangs auch gegen den Widerstand der Behörden. Man ver-griff sich an einem Stück Staatseigentum, und selbst die Vier-Mächte-Vertreter verfolgten besorgt das Spektakel. Von allen Seiten kamen die Abrißunternehmer herbeigeeilt. Ich sehe sie noch, die Kühnsten saßen wie Rodeoreiter rittlings auf der Betonwulst und schwangen die Arme. Und da ist auch noch Platz für das Bild vom einsamen Cellospieler, der ungefragt seinen Bach in die Berliner Nacht hinaus trug. Wochenlang war das Geklopfe der Mauer-spechte zu hören. Es war kein Befehl finsterer antikommunistischer Mächte, der den Akt des fröhlichen Vandalismus bewirkte. Bedenkt man das unerhörte Tempo, könnte man auch sagen, er brach mit der Wucht eines Naturereignisses herein.
Eines der meistgebrauchten Werkzeuge dabei war der Hammer: derselbe, der als Symbol der Arbeiterklasse im Wappen des Landes vorkam, das ohne diese Mauer nicht einen Tag über-leben konnte. Mir gefällt die Ironie der Geschichte: daß es tausende solcher Hämmerchen waren plus die dazugehörigen Meißel, die das Monstrum aushöhlten, abtrugen, in handliche Souvenire zerlegten – den Rest erledigten die Sattelschlepper. So wurde eines der häßlichsten Beispiele moderner Architektur über Nacht aus dem Stadtbild entfernt, das es ein Vierteljahr-hundert lang verschandelt hatte, unverrückbar, wie für die Ewigkeit gemacht.
Denke ich an diese kurze Ewigkeit zurück, kommen mir wieder die alten Schwindelgefühle. Was die Berliner Mauer und ich gemeinsam hatten, war unser ungefähres Alter, nur daß sie mir im Geburtstagfeiern immer um ein Jahr voraus war. Während ich in ihrem Schatten auf-wuchs, das war das Entmutigende, wurde sie zunehmend solider, bis der Beton endgültig aus-gehärtet war und kein Entkommen mehr möglich. Man nannte das damals den Status quo, und ich weiß noch, wie verhaßt mir die lateinische Formel war mit ihrem Ewigkeitsanspruch. Erinnert noch jemand sich an die Worte des Staatsratsvorsitzenden vom Januar 1989? Die Mauer, krähte er damals, wird noch in 50 und 100 Jahren stehen. Keine anderthalb Jahre später war sie Makulatur, um beim Latein zu bleiben. Von allen Seiten kamen die emsigen Abrißunternehmer herbeigeströmt, ihr den Garaus zu machen. Ist es naiv, dies als einen Beweis kollektiver Freiheitsliebe zu interpretieren? Wohin immer sie alle verschwunden sind, die damals dabei waren, in welche Schmollecke sie sich zurückgezogen haben, wenigstens diesen Moment spontaner Einigkeit unter uns kann ich bezeugen. Bis heute bin ich dankbar dafür, daß nicht nur ich so empfand. Es genügt mir als positives Geschichtszeugnis wie dem Gläubigen sein Marienwunder, und es reichte, wie mir jetzt bewußt wird, als Vorrat für mein ganzes weiteres Leben. Ich weiß nun, daß Freiheit nicht nur die Chimäre ist, als die sie den meisten die meiste Zeit über erscheint. Mag sie als Abstraktum auch immer wieder am Straßenrand vergammeln, als Impuls zur Befreiung rappelt sie sich noch jedesmal auf aus Lethargie und Unmündigkeit. In dieser Gestalt, der des unbewußten, aus den Tiefen vertaner und verlebter Zeit hervorbrechenden Aufbegehrens, ist sie mir die liebste. Freiheit in diesem Sinne ist nur ein anderes Wort für Veränderung, Wandel. Oder anders gesagt, das zuverläs-sigste Mittel gegen das Stehenbleiben der Zeit. So im Moment, da der Knoten platzt, ein Mensch fortgeht aus beengten Verhältnissen, eine tyrannische Ehe zerbricht, jemand seinen Job hinschmeißt, einer Religion oder Ideologie Lebewohl sagt, wenn die Bastille des Besteh-enden wankt, das richtige Wort die Stille des faulen Konsens zerreißt. Wer sie in solcher flüchtigen, scheuen Erscheinung einmal erlebt hat, der wird ihr Fortbestehen in den kalten Garantieerklärungen und ausdruckslosen Institutionen des Staates fortan besser ertragen. Es macht ihm, um auf den Versammlungsort zurückzukommen, nichts aus, ob die Kirche in Trümmern liegt oder wiederhergestellt ist: er wird ihre Konturen in der Luft für immer erah-nen. Ein Zwinkern kann sie ihm jederzeit wiederbringen.
Es wäre mir peinlich, auf solcher Pathosnote zu enden, darum noch eine letzte Anekdote. In einem der Tagebücher des großen Walter Kempowski kommt eine Episode vor, die etwas Humor vorausgesetzt, ein befreiendes Lachen auslösen müßte. Der Autor besucht nach der Wiedervereinigung die Heimatstadt Rostock und belauscht das Straßengespräch zweier älterer Damen. Da fällt der beliebte, schon damals abgedroschene Satz: »Es kann doch nicht alles schlecht gewesen sein in der DDR«. Darauf des Schriftstellers trockener Kommentar: »Warum eigentlich nicht?«. Ich weiß, man wird sich schwer einigen können auf einen so guten Witz. Wenn aber die Leute aufhören könnten, an dieser Stelle aufzuschreien und reflex-haft beleidigt zu sein, wäre schon viel gewonnen. Gewiß war jeder vom Fall der Mauer anders betroffen, ist vielen ein Lebenswerk in Stücke zerbrochen. Unleugbar haben andere andere Erfahrungen gemacht, in einem erfüllten Arbeitsleben mit Betriebsfesten, Brigadetagebüchern und Aktivistenwettbewerben, auf den Großbaustellen des Landes, über oder unter Tage, in seinen glorreichen Gründerjahren, in den Zeiten des sozialistischen Goldrauschs und der Auf-erstehung aus Ruinen. Natürlich wird, wer seine besten Jahre im besten Glauben hingab, sie nachher nicht verleugnen wollen. Diese Menschen haben am wenigsten Grund zur Verklärung und keinen Sinn für Abrechnungen. Sie wollen einfach nur Ordnung ins Photoalbum bringen, ein paar kostbare Erinnerungen bewahren. Wir anderen aber, wir verlorenen Kinder des Regimes halten weiter an unseren Aussteigerträumen fest, weil sie der Fallschirm sind, an dem wir seither in unseren Kapseln zu Boden schweben, der gemeinsamen Erde entgegen, den harten und allen anderen Tatsachen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Durs Grünbein
September 2009