Sehr geehrter Herr Syberberg,

beim Glewitzer Taufengel haben Sie gesehen, wie nahe Wasser und Geist (Joh 3,5) gedeutet werden können.

Sie erinnern sich noch an die freie Blickachse von Thron und Altar, vom Gutshaus zur Dorfkirche. Doch, auch wenn es noch viele feudale Elemente sowohl in den regionalen Verwaltungen als auch Kirchenkreisen gibt, ist die Zeit dieser - auf weite Strecken wenig heiligen - Allianz abgelaufen. (Seit 1918 schon, aber nicht nur in ländlichen Regionen Ostelbiens überdauerten gewisse vordemokratische Strukturen länger.) Dass eine Frau wie Margot Käßmann jetzt EKD-Ratsvorsitzende werden kann, ist ein gutes Zeichen für den Wandel; und Jürgen Habermas hat aus soziologischer Sicht die “postsäkulare Gesellschaft” schon vor einigen Jahren benannt.

Eine funktionierende Volkskirche leistet viel: sie bietet für den verfeinerten Geschmack kulturell Anspruchsvoller genügend Foren, aber sie lenkt den Blick auch auf die Benachteiligten. Wo die ärmeren Seelen wohnten, erfahren wir leider nicht zu Lebzeiten. Die Stellen für Bibelarbeiten auf dem Münchner OEKT decken diese ganze Spanne ab:

Do.: Der Bund mit Noah, Gen 9,8-17
Fr.: Gotteskindschaft und Hoffnung, Rö 8,16-25
Sa.: Die sieben Werke der Gerechtigkeit, Mt 25,31-46

Vielleicht haben Sie zu einem der Texte bildhafte Vorstellungen. Und rechnen Sie mit vielen Zuhörenden: das Kino, in dem Wim Wenders in Bremen sprach, war schon eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung wegen Überfüllung geschlossen.

An Allerheiligen, morgen also, besuchte der junge Rilke um 1900 “Heinrich von Kleists wintereinsames Grab am Wannsee”; Kunstreligion war nicht das schlechteste Merkmal der säkularen Gesellschaft. Am 442. Jahrestage nach der Veröffentlichung der 95 Thesen in Wittenberg werden Sie gegrüßt von GAE