Uri Avnery - Wie viele Divisionen?

 

Geschrieben von Uri Avnery * †bersetzung von Monika Lenz (c) FAKTuell ÊÊ
Freitag, 16. Januar 2009

Uri Avnery wurde am 10. September 1923 in Beckum in Deutschland als Helmut Ostermann geboren. Er ist ein israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist. Avnery war in drei Legislaturperioden fŸr insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset.
Uri Avnery ist GrŸnder der Bewegung Gush Shalom. Der Publizist gehšrt seit Jahrzehnten zu den profiliertesten Gestalten der israelischen Politik. Er ist durch seine kŠmpferisch-kritische Begleitung der offiziellen israelischen Regierungspolitik weit Ÿber die Grenzen seines Landes hinaus bekannt geworden.
FŸr sein Engagement fŸr den Frieden im Nahen Osten sind ihm zahlreiche Auszeichnungen zuerkannt worden, unter anderen der Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis der Stadt OsnabrŸck (1995), der Aachener Friedenspreis (1997), der Bruno Kreisky Preis fŸr Verdienste um die Menschenrechte (1997), der Alternative Nobelpreis (2001) sowie der Carl-von-Ossietzky-Preis der Stadt Oldenburg (Mai 2002). Wir veršffentlichen hier seine jŸngste Kolumne, die sich mit dem Gaza-Krieg beschŠftigt.
Wie viele Divisionen?
Vor beinahe 70 Jahren, wŠhrend des Zweiten Weltkrieges, wurde ein schreckliches Verbrechen in Leningrad begangen. Mehr als 1.000 Tage lang hielt eine Bande von Extremisten, die sich die "Rote Armee" nannte, Millionen Einwohner der Stadt als Geiseln und provozierte aus den Bevšlkerungszentren heraus die Vergeltung der Deutschen Wehrmacht. Den Deutschen blieb nichts anderes Ÿbrig, als die Bevšlkerung zu bombardieren und zu beschie§en und eine totale Blockade zu verhŠngen, die den Tod Hunderttausender verursachte.
Kurz zuvor war ein Šhnliches Verbrechen in England begangen worden. Die Churchill-Bande, versteckt inmitten der Bevšlkerung, missbrauchte die Millionen Einwohner als menschliche Schutzschilde. Die Deutschen waren gezwungen ihre Luftwaffe zu schicken und die Stadt widerstrebend in Schutt und Asche zu legen.
Das ist die Beschreibung, die heute in den GeschichtsbŸchern zu lesen wŠre - wenn Deutschland den Krieg gewonnen hŠtte.
Absurd? Nicht mehr als die tŠglichen Beschreibungen in unseren Medien, die bis zum Erbrechen wiederholt werden: Die Hamas-Terroristen nehmen die Einwohner in Gaza als "Geiseln" und benutzen Frauen und Kinder als menschliche "Schutzschilde". Sie lassen uns nichts anderes Ÿbrig als sie massiv zu bombardieren, wobei, zu unserem tiefen Bedauern, Tausende Frauen, Kinder und unbewaffnete MŠnner getštet und verletzt werden.
In diesem Krieg, wie in jedem modernen Krieg, spielt Propaganda eine gro§e Rolle. Das KrŠfteverhŠltnis zwischen der israelischen Armee mit ihren Flugzeugen, Drohnen, Kampfhubschraubern, Kriegsschiffen, Artillerie und Panzern und einigen wenigen leichtbewaffneten HamaskŠmpfern auf der anderen Seite liegt bei 1.000:1, vielleicht 1.000.000:1. In der politischen Arena ist die Kluft sogar noch grš§er. Doch im Propagandakrieg ist der Unterschied grenzenlos.
Fast alle westlichen Medien haben anfangs die offizielle israelische Propagandalinie wiederholt. Sie ignorierten fast vollstŠndig die palŠstinensische Seite der Geschichte, genauso wie die tŠglichen Demonstrationen des Israelischen Friedenslagers. Die BegrŸndung der israelischen Regierung (Der Staat muss seine BŸrger gegen die Kassam-Raketen verteidigen) wurde als die reine Wahrheit akzeptiert. Der Blick von der anderen Seite, dass die Kassam-Raketen die Reaktion auf die Belagerung sind, die anderthalb Millionen Menschen im Gazastreifen verhungern lŠsst, wurde všllig au§er Acht gelassen.
Erst als die schrecklichen Szenen aus dem Gazastreifen auf die westlichen Bildschirme gelangten begann sich die Meinung der Weltšffentlichkeit allmŠhlich zu Šndern.
TatsŠchlich zeigten die westlichen und israelischen Fernsehsender nur einen winzigen Teil der furchtbaren Geschehnisse, die rund um die Uhr 24 Stunden lang jeden Tag bei Al Jazeera gezeigt werden. Doch das Bild eines toten Babys in den Armen seines von Panik erfŸllten Vaters ist mŠchtiger als 1.000 elegant konstruierter SŠtze des israelischen Armeesprechers. Und das ist letztendlich ausschlaggebend.
Krieg - jeder Krieg - ist das Reich der LŸgen. Ob es Propaganda oder psychologische KriegsfŸhrung genannt wird, jeder akzeptiert, dass es richtig ist, fŸr sein Land zu lŸgen. Jeder, der die Wahrheit ausspricht, riskiert, als VerrŠter gebrandmarkt zu werden.
Das Dumme ist, dass Propaganda fŸr die Propagandisten selbst am Ÿberzeugendsten ist. Und nachdem man sich selbst Ÿberzeugt hat, dass eine LŸge die Wahrheit ist und die FŠlschung die RealitŠt, kann man nicht lŠnger vernŸnftige Entscheidungen treffen.
Ein Beispiel fŸr diesen Prozess ist die bisher schockierendste GrŠueltat in diesem Krieg: Der Beschuss der UN Fakhura Schule im Jabaliya FlŸchtlingslager.
Sofort nachdem die Welt davon erfuhr, verbreitete die Armee, dass Hamas-KŠmpfer vom Vorplatz der Schule aus Granaten geworfen hŠtten. Zum Beweis veršffentlichte sie ein Luftbild, auf dem Mšrser und Schule zu sehen sind. Kurz darauf musste der offizielle ArmeelŸgner zugeben, dass das Foto Šlter als ein Jahr war. Kurz gesagt: eine FŠlschung.
SpŠter erklŠrte der offizielle LŸgner, dass "unsere Soldaten aus dem Innern der Schule beschossen" worden seien. Nicht einmal ein Tag verging bis die Armee zugeben musste, dass auch das eine LŸge war. Niemand hatte aus dem Innern der Schule geschossen. Kein Hamas-KŠmpfer war in der Schule, die voller verŠngstigter FlŸchtlinge war.
Doch das EingestŠndnis machte keinen Unterschied mehr. Zu dieser Zeit war die komplette israelische …ffentlichkeit davon Ÿberzeugt, dass "sie aus der Schule geschossen" hŠtten. Und die Fernsehsender stellten es als Tatsache hin.
Genauso lief es mit den anderen Schreckenstaten. Jedes Baby verwandelte sich mit seinem Tod in einen Hamas-Terrorist. Jede ausgebombte Moschee wurde sofort zu einer Hamas-Basis, jedes WohngebŠude ein Waffenlager, jede Schule ein Terrorkommandoposten, jedes zivile RegierungsgebŠude ein "Herrschaftssymbol der Hamas". Und so konnte sich die israelische Armee in ihrer Reinheit als die "moralischste der Welt" darstellen.
Die Wahrheit ist, dass diese GrŠueltaten eine direkte Folge des Kriegsplanes sind. Es widerspiegelt die Persšnlichkeit Ehud Baraks - ein Mann dessen Art zu denken und zu handeln ein klarer Beweis fŸr sogenannten "moralischen Wahnsinn" ist, eine soziopathische Stšrung.
Die wirkliche Absicht (abgesehen davon, mehr Sitze bei den kommenden Wahlen zu gewinnen) ist das Beenden der Hamas-Herrschaft im Gazastreifen. In der Vorstellung der Kriegsplaner ist die Hamas ein Eindringling, welcher die Kontrolle Ÿber ein fremdes Land Ÿbernommen hat. Die RealitŠt sieht natŸrlich všllig anders aus.
Die Hamas hat bei den durchweg demokratischen Wahlen 2006 in Westbank, Ostjerusalem und dem Gazastreifen die Mehrheit gewonnen. Sie hat sie bekommen, weil die PalŠstinenser zu dem Schluss gekommen waren, dass der friedliche Weg, den die Fatah ging, nichts gebracht hat - weder ein Stopp der Besiedlungen, noch die Freilassung von Gefangenen oder irgendeinen entscheidenden Schritt in Richtung Ende der Besatzung und GrŸndung eines palŠstinensischen Staates.
Die Hamas ist tief verwurzelt in der Bevšlkerung - nicht nur als Widerstandsbewegung im Kampf gegen fremde Besatzer, wie in der Vergangenheit Irgun oder die Sterngruppe, sondern auch als politisches und religišses Gremium, das soziale, bildende und medizinische Dienste anbietet.
Mit den Augen der Bevšlkerung gesehen sind die Hamas-KŠmpfer keine Fremden, sondern die Sšhne jeder Familie im Gazastreifen und anderen palŠstinensischen Regionen. Sie verstecken sich nicht hinter der Bevšlkerung, die Bevšlkerung beetrachtet sie als ihre einzigen Verteidiger.
Deshalb basiert die gesamte Operation auf IrrtŸmern. Der Bevšlkerung das Leben zur Hšlle zu machen, bringt sie nicht dazu, gegen die Hamas aufstehen, sondern im Gegenteil: Sie stellt sich vereint hinter die Hamas und stŠrkt sie darin, sich nicht zu ergeben. Die Bevšlkerung von Leningrad ist nicht gegen Stalin aufgestanden, genausowenig wie die Londoner gegen Churchill.
Wer immer den Befehl fŸr einen solchen Krieg mit diesen Methoden in einem dicht besiedelten Gebiet gibt, verursacht damit ein fŸrchterliches Gemetzel unter den Zivilisten. Anscheinend berŸhrt ihn das nicht. Oder er glaubt "sie wŸrden die Richtung Šndern" und es werde "ihre Moral untergraben", so dass sie in Zukunft nicht mehr wagen, sich Israel entgegenzustellen.
Absolute PrioritŠt fŸr die Planer war, die Zahl der Toten unter den Soldaten zu minimieren, wohl wissend, dass die Stimmung eines gro§en Teil der KriegsbefŸrworter umschlagen wŸrde, sobald Ÿber Verluste berichtet wŸrde. So wie es in den Libanonkriegen 1 und 2 geschah.
Diese Einstellung spielte eine besonders wichtige Rolle, denn der ganze Krieg ist Teil der Wahlkampagne. Ehud Barak, der in den Umfragen in den ersten Tagen des Krieges vorn lag, wusste, dass seine Werte fallen wŸrden, wenn Bilder von toten Soldaten die Bildschirme fŸllen wŸrden.
Deshalb wurde eine neue Doktrin ausgegeben: Das Vermeiden von Verlusten unter den Soldaten durch Zerstšrung von allem, was im Weg steht. Die Kriegsplaner waren nicht nur bereit, 80 PalŠstinenser zu tšten, um einen israelischen Soldaten zu schŸtzen, wie passiert, sondern auch 800. Das Vermeiden von TodesfŠllen auf unserer Seite ist das oberste Gebot, das auf der anderen Seite eine Rekordzahl an TodesfŠllen unter Zivilisten zur Folge hat.
Das bedeutet die bewusste Wahl fŸr eine besonders grausame KriegsfŸhrung - und das ist auch seine Achillesferse.
Ein fantasieloser Mensch wie Barak (sein Wahlslogan: "Kein netter Kerl, aber ein FŸhrer") kann sich nicht vorstellen, wie anstŠndige Menschen Ÿberall auf der Welt darauf reagieren: Das Auslšschen ganzer Gro§familien, die Zerstšrung von HŠusern Ÿber den Kšpfen der Bewohner, die Reihen der Jungen und MŠdchen in wei§en LeichentŸchern zum Verbrennen bereit, die Berichte Ÿber Menschen die tagelang zu Tode bluten, weil Ambulanzen nicht zu ihnen dŸrfen, das Tšten von €rzten und SanitŠtern, die auf dem Weg sind, Leben zu retten, das Tšten von UN-Fahrern, die Nahrung bringen. Die Bilder aus den KrankenhŠusern, mit den Toten, den Sterbenden und den Verletzten, die aus Platzmangel dicht nebeneinander auf dem Boden liegen, haben die Welt schockiert. Kein Argument hat soviel Kraft wie das Bild eines verletzten kleinen MŠdchens, das auf dem Boden liegt, schmerzverkrŸmmt und schreiend: "Mama! Mama!".
Die Kriegsplaner dachten, sie kšnnten die Welt davon abhalten, die Bilder zu sehen, indem sie die Presse daran hindern, zu berichten. Die israelischen Journalisten haben sich zu ihrer Schande mit den Berichten und Fotos der Armeesprecher zufriedengegeben, als ob diese authentisch seien, wŠhrend sie selbst Meilen entfernt von den Ereignissen sa§en. AuslŠndischen Journalisten wurde nicht erlaubt, zu berichten, bis sie protestierten und auf kurze ausgewŠhlte und Ÿberwachte Touren mitgenommen wurden. Aber in einem modernen Krieg kann solch ein produzierter und steriler Blick nicht alle anderen ausschlie§en - die Kameras sind im Gazastreifen, inmitten der Hšlle, und kšnnen nicht kontrolliert werden. Der Sender Aljazeera sendet die Bilder rund um die Uhr und erreicht jedes Haus.
Der Kampf ums Fernsehen ist einer der entscheidendsten KŠmpfe des Krieges.
Hunderte Millionen Araber von Mauretanien bis Irak, mehr als eine Milliarde Moslems von Nigeria bis Indonesien sehen die Bilder und sind entsetzt. Das hat einen starken Einfluss auf den Krieg. Viele sehen die Herrschenden in €gypten, Jordanien und die palŠstinensischen Behšrden als Kollaborateure Israels, die die GrŠueltaten gegen ihre palŠstinensischen BrŸder mittragen.
Die Sicherheitsdienste der arabischen Regime registrieren ein gefŠhrliches GŠren unter den Menschen. Hosny Mubarak, der wohl exponierteste arabische FŸhrer nachdem er den Rafah-GrenzŸbergang angesichts verŠngstigter FlŸchtlinge geschlossen hat, hat begonnen Druck auf die EntscheidungstrŠger in Washington auszuŸben, die bis dahin alle Rufe nach Waffenstillstand blockiert hatten. Dann begannen sie zu verstehen, dass die amerikanischen Interessen in der arabischen Welt bedroht wurden und Šnderten plštzlich ihre Einstellung - und lšsten damit Fassungslosigkeit unter den selbstgefŠlligen israelischen Diplomaten aus.
Menschen mit moralischem Wahnsinn kšnnen die Motive normaler Menschen nicht verstehen und mŸssen ihre Reaktionen erraten. "Wie viele Divisionen hat der Papst?", feixte Stalin. "Wie viele Divisionen haben Menschen mit Gewissen?" Das fragt sich vielleicht Ehud Barak.
Wie es scheint, sind es einige. Nicht viele. Und sie reagieren nicht wirklich schnell. Sie sind nicht stark und organisiert. Aber ein bestimmter Augenblick, wenn die GrŠueltaten Ÿberhand nehmen und Massen von Protestierenden zusammenkommen, kann diesen einen Krieg entscheiden.
Das Versagen, die Natur der Hamas zu verstehen, hat ein weiteres Versagen zur Folge: Das, die vorhersagbaren Folgen zu verstehen. Nicht nur kann Israel diesen Krieg nicht gewinnen. Die Hamas kann ihn auch nicht verlieren.
Selbst wenn die israelische Armee hingehen und jeden Hamas-KŠmpfer bis auf den letzten Mann tšten wŸrde, selbst dann wŸrde die Hamas gewinnen. Die Hamas-KŠmpfer wŸrden als die Tugendhaften des arabischen Volkes gesehen, die Helden der palŠstinensischen Menschen, Vorbilder eines jeden Jugendlichen in der arabischen Welt. Westbank wŸrde in die HŠnde der Hamas fallen wie eine reife Frucht, die Fatah wŸrde in einem Meer der Verachtung versinken, die arabischen Regierungen wŠren vom Zusammenbruch bedroht.
Wenn der Krieg endet, mit einer Hamas, die aufrecht steht, blutend aber unbesiegt, angesichts der mŠchtigen israelischen MilitŠrmaschinerie, es wŸrde wie ein fantastischer Sieg aussehen, ein Sieg des Geistes Ÿber den Kšrper.
Was sich in das Bewusstsein der Welt einbrennen wird, wird das Bild Israels als ein blutrŸnstiges Monster sein, bereit jederzeit Kriegsverbrechen zu begehen, nicht bereit, sich von moralischen BeschrŠnkungen daran hindern zu lassen. Das wird langfristig schwerwiegende Konsequenzen fŸr unsere Zukunbft haben, fŸr unsere Position in der Welt, unsere Chance, Frieden und Ruhe zu erlangen.
Letztendlich ist dieser Krieg auch ein Verbrechen an uns selbst, ein Verbrechen gegen den Staat Israel.
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Dieses Bild als Ikone der Gründung Israels ist nun in allen Betrachtern von anderen Bildern auf ewig begleitet, den toten Kindern von jüdischen Waffen in einem Getto enstanden. Die jetzt Regierenden und ihre Wähler haben es selbst verloren. Das deutsche Fernsehen lebte davon bis zu Walsers Aufschrei täglich auf allen Kanälen der Staatsräson, die die Kanzlerin aus dem Osten fleissig bis zur Bewegungslosigkeit gegenüber den Schuldigen von heute gelernt hat. Eine Diskussion zu Gaza setzten sie jüngst schnell ab, aus Angst, was da gesagt werden könnte. Ersatzthema: Selbstmord - in deutschen Kliniken.