Katholische Zeitung für Politik Gesellschaft und Kultur

Feuilleton - Ausgabe Nummer 84 vom 16.7.2009

Von Ingo Langner

Wäre unser Bild von Adolf Hitler heute ein anderes, wenn Andy Warhol „den Führer“ in die Reihe seiner weltweit so beliebten grellbunten Porträts aufgenommen hätte? An der Abscheu vor Massenmördern kann Warhols Abstinenz nicht gelegen haben. Denn um Mao-Tse-Tung hat der amerikanische Popartist keinen Bogen gemacht. Passend zu den unterschiedlich geschätzten 40 bis 80 Millionen Opfern hat Warhol dem Schlächter des chinesischen Volkes sogar ein besonders großes Format gewidmet. Das Bild gilt als ein Herzstück der „Sammlung Marx“ und hängt heute im „Hamburger Bahnhof“ in Berlin – und nach der Selbsteinschätzung dieses „Museums für Gegenwart“ kann „insbesondere der große ,Mao‘ geradezu als Signet des Museums gelten“.

Warum ein Pop-Art-Hitler in der vom Tabubruch lebenden, nach dem Tabubruch lechzenden Moderne auch heute noch ein Tabu ist, das ist die Frage. An der Menge seiner Opfer kann es nicht liegen. Denn im quantitativen Ranking der Massenmörder aller Zeiten nimmt A.H. hinter Mao und Stalin einen dritten Platz ein. Doch wie immer, wenn es ums Große und Ganze der Causa Germaniae geht, ist der apokalyptische Reiter aus Braunau am Inn auch ohne ein Warhol-Porträt im „Hamburger Bahnhof“ präsent. Die riesigen, analogietrunkenen Bilder von Anselm Kiefer etwa sind ohne das schaurige Ende des europäischen Weltenbrandes im zertrümmerten Kern der deutschen Reichshauptstadt nur verworrene Zeichen auf düsterem Grund.

Doch mit der Erinnerung an jene vermaledeiten zwölf deutschen Jahre werden Kiefers Hervorbringungen als „Kunst einer traumatisierten Nation“ gedeutet, und die Juroren der japanischen „Praemium Imperiale“ sind sogar davon überzeugt, dass dessen Werke „einer irritierten, geteilten Welt Heilung bringen könnte“. Denn, so die Japaner wörtlich: „Nur wenige zeitgenössische Künstler haben einen so ausgeprägten Sinn für die Verpflichtung der Kunst zur Beschäftigung mit der Vergangenheit und ethischen Fragen der Gegenwart, und sind in der Lage, die Möglichkeit auszudrücken, Schuld durch menschliche Anstrengung zu tilgen.“

Besser lässt sich die – in diesem Falle wohl unfreiwillige – Deutung der postchristlichen Kunst als Religions- und Heilsersatz nicht auf den Punkt bringen. Kiefers Rekurs auf die germanischen Mythen ist allerdings bekanntlich alles andere als neu. Der Inbegriff ihrer Fortschreibung und Neuverdichtung ist bis heute das Werk Richard Wagners. So nimmt es nicht Wunder, dass Kiefers berühmtes Flugzeug aus Blei im Kopf des Betrachters erst dann abhebt, wenn man es geistig mit Hans Jürgen Syberbergs Winifred Wagner-Film verbindet. Dieser Mosaikstein aus dem Syberberg Opus ist im „Hamburger Bahnhof“ erst kürzlich hinzugefügt worden. Er zeigt fünf Stunden lang keine geringere als Winifred W. – Richard und Cosima Wagners englischstämmige Schwiegertochter und ihnen als Herrin auf dem Grünen Hügel nachgefolgt – die uns in nicht endenwollenden Wortkaskaden ihre Version vom Aufstieg und Fall der Bayreuther Festspiele im „Tausendjährigen Reich“ übermittelt.

Ja, recht eigentlich betrachtet, bringt erst dieser von Syberberg raffiniert puristisch montierte Originalton einer vom Führer Verführten (halb zog er sie, halb sank sie hin) die erdschweren Verhältnisse im Kieferkunstraum zum Tanzen. Dieser Ton erzeugt gemeinsam mit den Totenmasken von Paul Wegener, Luise Königin von Preußen, Johann Wolfgang von Goethe, einer Unbekannten aus der Seine, Anton Bruckner, Franz Liszt, zwei namenlosen Afrikanern, Heinrich von Treitschke, einer Gipskopie der sogenannten Sklaven von Michelangelo und einer Fotografie von Thomas Struth, die Venedigtouristen in San Zaccaria vor Giovanni Bellinis alles überstrahlender „Madonna mit Kind und vier Heiligen“ präsentiert, ein so nie gesehenes Ensemble. Es gestattet – wie ein archäologischer Schnitt durch ein Vergangenheit bergendes Erdreich – hellsichtige Einblicke in die Tiefen und Höhen der Menschenseele.

Das von Struth fotografierte Interieur der dem heiligen Priester Zacharias geweihten venezianischen Kirche, der als Vater von Johannes dem Täufer einen Ehrenplatz im Neuen Testament innehat und dessen Gebet zur Beschneidung seines Sohnes als Benedictus zum Lobgesang der Römisch-Katholischen Kirche wurde und in den Laudes das liturgische „Gegenstück“ zum marianischen Magnificat der Vesper bildet, ist möglicherweise sogar die heimliche Herzkammer in einem dem Temporären geweihten Museum – und das wahre, freilich unerkannte, Signet des „Hamburger Bahnhofs“, der – Nomen est Omen – an der Berliner Invalidenstraße liegt, mithin nicht weit vom Invalidenfriedhof entfernt, wo so viele preußische Feldherren ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Oder um es mit dem Lobgesang des Zacharias zu sagen: „Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels! Denn Er hat Sein Volk besucht und ihm Erlösung geschaffen.“

Schaubühne: Jussi Wielers grandios solider Goethe

Weiter im Westen der Stadt, an der Schaubühne am Lehniner Platz (der direkt am Kurfürstendamm gelegen an die ehemalige Zisterzienserabtei Kloster Lehnin südlich von Potsdam erinnert und an die dortige romanisch-gotische Backsteinkirche St. Marien), hat Jossi Wieler Johann Wolfgang von Goethes „Iphigenie auf Tauris“ so auf die Bühne gestellt, dass man nicht nur die tatsächliche Handlung versteht, sondern Goethes herrliche Verse mit Anmut und Geist gesprochen werden. Was in längst versunkenen Zeiten die bare Selbstverständlichkeit war, gleicht bekanntlich heute bereits fast einem Wunder. Noch in den frühen Neunzigerjahren hätte man Jossi Wielers Einstudierung solide genannt, und sie wäre gerade an der Berliner Schaubühne, wo Regiegrößen wie Peter Stein, Klaus Michael Grüber und Luc Bondy Unvergessliches aufgeführt haben, vielleicht sogar als ein wenig zu uninspiriert kritisiert worden.

Aber weil unter der Intendanz von Thomas Ostermeier schon lange nur noch Zeitgeisthäppchen für die Wikipedia-Generation produziert werden, sind die Solidität und Ernsthaftigkeit höchst erfreulich, mit der sich Wielers Ensemble um die Geschichte von Agamemnons und Klytaimestras Tochter Iphigenie bemüht, die um des guten Windes für die Kriegsflotte nach Troja willen vom Vater auf dem Altar der Artemis geopfert wird. Der Fahrtwind braust auf und schwillt die griechischen Segel. Doch statt Iphigenie bleibt eine Hirschkuh auf dem Opfertisch zurück. Das Mädchen selbst wird von Artemis höchstpersönlich über das Meer hinweg in deren taurischen Tempel entführt. Wo sie solange das Land der Griechen mit der Seele sucht, bis ihr Bruder Orest nach dem Muttermord an Klytaimestra von den Erinnyen gehetzt und durch ein wie stets zweideutiges Orakel verwirrt, in Tauris anlandet und Iphigenie den um sie lange schon werbenden Barbarenkönig Thoas durch reine Menschlichkeit dazu bringt, zu verzichten und zu verzeihen, um dann mit dem Bruder wieder nach Griechenland heimzukehren.

Das Land der Griechen mit der Seele suchend. Dies scheint auch das unausgesprochene Motto eines mehr als erstaunlichen Vorgangs zu sein, der wenigstens für die Dauer weniger Wochen aus der Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz einen Ort des Denkens und Nachdenkens gemacht hat. Dort, wo bislang vor allem ostalgisch greinend aufgetrumpft wurde – eine Disziplin, in der Volksbühnenintendant Frank Castorf der unangefochtene Meister ist – nun also, wie ein Deus ex machina, ein Zeichen aus einem gänzlich anderem Welten- und Kunstraum. Aber nicht im umbaubedingt geschlossenen Haus wird gespielt, sondern davor, in einem hölzernen Amphitheater, das aus der himmelsstürmenden klassizistischen Volksbühnenfassade mit der geschwungenen, nur milde ansteigenden Freitreppe besteht sowie aus aufgeschüttetem hellen märkischen Sand, der hier den Urgrund vertritt, aus dem abendländisches Theater vor zweieinhalbtausend Jahren erwuchs. Hier also nun, unter freiem Himmel, an dem hoch droben Mauersegler und Reiseflugzeuge ihre Bahn ziehen und immer mal wieder der Großstadtverkehr wie ein mechanisches Göttergrollen anbrandet, wird Größtes und Höchstes verhandelt.

Zunächst von Regisseur Werner Schroeter. Dem Ausnahmekünstler sind Oper, Film und Schauspiel gleichermaßen vertraut, und wie eine Summe als allen drei Genres ziehend sendet er seine vier Schauspielerinnen aus, um unter dem Titel „Alles ist tot – Formen der Einsamkeit“ eine Collage aus den sophokleischen Dramen Antigone und Elektra zu spielen, die vermutlich auch autobiografische Züge trägt. Denn Schroeter, schon viele Jahre von schwerer Krankheit geplagt und gezeichnet, ist nur noch ein bleiches Schilfrohr im Wind.

Gekleidet in herrlich fließende Seidenroben in changierenden matten Farben führen die vier Frauen – fulminant, eindringlich und meisterlich sparsam choreographiert – ein durch die schroetersche Verschmelzung neuentstandenes Trauerspiel auf, das in immer neuen Anläufen die Antipoden Liebe und Hass umkreist. Elektra, die Agamemnontochter, will Rache für den von der Mutter Klytaimestra ermordeten Vater und hofft dabei auf die tatendurstige Rückkehr ihres verschollenen Bruders Orest. Antigone hingegen möchte den zum Vaterlandsfeind gewordenen Bruder Polyneikes trotz eines Verbots ihres Königs Kreon begraben und so gegen die Staatsräson das uralte Göttergebot der Totenehrung vollziehen.

Antigone: „Zum Hassen nicht, zur Liebe bin ich.“ Darauf Kreon: „So geh hinunter, wenn du lieben willst, und liebe dort! Mir herrscht kein Weib im Leben.“ So endet die Liebesheldin als Märtyrerin, nachdem sie getan hat, was das für Menschen unantastbare Naturrecht von ihr verlangt. Ihr Tod jedoch zieht noch zahlreiche andere im Schlepptau mit. Denn, so der sophokleische Schlusschor: „Was der Götter ist, entweihe keiner, Überhebung büßt mit großem Falle“.

Edith Clever scheitert an den Hymnen Friedrich Hölderlins

„Ungeheuer ist viel. Doch nichts Ungeheuerer als der Mensch.“ So reden die thebanischen Alten in der von Werner Schroeter verwendeten Übersetzung von Friedrich Hölderlin. Ausschließlich dem schwäbischen Sprachmagier geweiht, ist in demselben Amphitheater ein einmaliger Auftritt von Edith Clever. Die Clever ist in den Siebziger Jahren an der Berliner Schaubühne zur weit über Deutschlands Grenzen hinaus gefeierten Meisterspielerin geworden. Ein Jahrzehnt später stieß sie unter der Regie von Hans Jürgen Syberberg in theatralische Dimensionen vor, die den Rahmen selbst der bekanntermaßen extravaganten Schaubühne gesprengt haben. Ja, man muss sogar sagen, weit hinter sich ließen.

Was unter Peter Stein und Klaus Michael Grüber doch noch ein – wenn auch am Fuße des Olymps agierender – Theaterbetrieb war, wurde in dem weit ausholenden mythen- und schicksalsbeladenem Kosmos Syberbergs zu einem Ritt über den Bodensee. Denn wer wie Edith Clever bereit war, sich in bis zu sechsstündigen solistischen Exerzitien bis zum Äußersten hin zu offenbaren, der gehört in eine Kategorie ganz für sich allein.

Bei den syberbergschen Unternehmen geriet die Zeit im Wort- und im übertragenen Sinne aus den Fugen. Wer bei Edith Clevers Soloabend mit den späten Hymnen von Friedrich Hölderlin im märkischen Volksbühnenamphitheater Gleiches erwartet hatte, musste ungetröstet nach Hause gehen. Die Zuschauer wurden zu Zeugen eines Kampfes der vielleicht sogar letzten wirklichen Tragödin deutscher Zunge. Edith Clever kämpfte mit dem Ort des Geschehens, seiner Akustik, den unberechenbaren Nebeneffekten einer Freiluftbühne; ja, mit den Elementen schlechthin. Wo eindeutige Haltung erwünscht war, sah man Selbstzitat oder Pose. Wo der Wille und das Vermögen zur alles durchdringenden Klarheit erhofft war, ein Zaudern und Zagen. Kurzum: alles in allem betrachtet, ein Scheitern auf hohem Kothurn. Erst ganz am Schluss, mit dem Ausdruck kaum gezügelter Wut und nach einem berührend offen zur Schau gestellten Ausdruck des Scheiterns, erklang Hölderlins „Mnemosyne“: „Reif sind, in Feuer getaucht, gekochet die Frücht und auf der Erde geprüfet und ein Gesetz ist, dass alles hingeht, Schlangen gleich, prophetisch, träumend auf den Hügeln des Himmels. – Und immer ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Vieles aber ist zu behalten. Und Not die Treue. Vorwärts aber und rückwärts wollen wir nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie auf schwankendem Kahne der See.“

Den Griechen galt Mnemosyne als Göttin der Erinnerung. Als Tochter des Uranos und der Gaia gehörte sie zum Geschlecht der Titanen, und dem Zeus gebar sie am Olymp die neun Musen, denen wir die Geschichtsschreibung und die Tragödie, die Lyrik und den Tanz, die Komödie und das Flötenspiel, die epische Dichtung und die Rhetorik, die Philosophie und die Wissenschaft, ja sogar die Sternenkunde verdanken. Mnemosyne muss wie alle Götter unsterblich sein. Denn wenn der Menschheit an sich die Erinnerung fehlte, wenn ihr das kollektive Gedächtnis abhanden käme, hörte sie wohl auf, Menschheit zu sein. Die Griechen glaubten, dass derjenige, der aus dem Wasser der Lethe trinkt, seine Erinnerungen vergisst. Zum Glück für Berlin liegt die Stadt nicht am Unterweltfluss des Vergessens, sondern an der Spree, und hinter dem Glitter und Tand eines sich allmächtig gebenden Relativismus, dem alles gleich viel gilt und vieles nichts, birgt der märkische Sand doch auch noch Dinge und Menschen und Menschenkunst hervor, die aus ganz anderem Holz geschnitzt sind.