Achse des Guten

 

Dr. Wolfram Weimer (Gastautor) 09.10.2009 11:29 +Feedback

Ein Nobelpreis gegen das Vergessen

Der Nobelpreis an Herta Müller ist nicht bloß ein Glücksfall für die deutsche Literatur. Er wirkt auch wie ein Donnerschlag für unser historisches Bewusstsein. Denn diese Ehrung hält uns Europäern einen Spiegel vor mit der Forderung: Hört endlich auf mit der Verniedlichung des sozialistischen Unrechts.

Herta Müller quält sich in all ihren Büchern mit ihren Erinnerungen an Folter und Angst, an Demütigungen und Entrechtung, an die Verbrechen, die der “real existierende” Sozialismus immer zu verantworten hat. Und sie quält uns damit. Denn ihr Werk steht schroff wie ein einsamer Felsen in der Zeitgeist-Brandung des Vergessens und Verharmlosens. Doch mit dem Nobelpreis ist pünktlich zum zwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls dieser Felsen gewaltig groß geworden.

Plötzlich wird uns klar, dass die historische Weichzeichnung der europäischen Linken oft ein schamloses Spiel ist, um die inhumane Brandspur der sozialistischen Geschichte zu verwischen. Hat vor diesem Nobelpreis noch irgendjemand von den Mauertoten und den Gefolterten von Bautzen geprochen, vom großen Diebstahl an einer ganzen Generation, von den Tränen vieler Nationen? Über die Folterkeller der Gulag-Gesellschaften legte sich ein Mantel des Schweigens. Bürgerrechtler und Opferverbände fühlten sich zusehends wie Nervensägen der Erinnerung. Es gab kein waches Bewusstsein mehr, dass die sozialistischen Diktaturen Abermillionen in grausame Tode geschickt haben. Stattdessen konnten wir in Osteuropa, in Russland, in China, aber auch in Ostdeutschland ein Fanal des Vergessens verfolgen. Beim Hineinstürmen in das neue Europa galt allenthalben die Erinnerung an die Tragödie der kommunistischen Diktaturen nur als lästig, als Störfaktor der Wendehalskultur. Man suchte ein Morgen ohne Gestern.

In Deutschland sollte die Linkspartei – immerhin die direkte Nachfolgerin der SED – regierungsfähig gemacht werden, Stasi-Vergangenheiten wurden ignoriert, Putin ließ in Russland sogar die physisch letzten Überreste der Gulag-Lager schleifen, Tschechien wollte von Vertreibungen nichts mehr hören, China feierte den Massenmörder Mao ungerührt als omnipräsenten Vater einer Nation, die längst in den Hyperkapitalismus aufgebrochen ist. Wir schienen offensichtlich unfähig zu trauern mit den Opfern, wir legten uns ein steinernes, kaltes Herz zu. Doch nun ist etwas anders geworden.
Der große Preis für eine kleine, schüchterne Frau verändert den Blick in die blutrote Vergangenheit des sozialistischen Zeitalters. Fortan werden diese verstörenden Texte von Herta Müller stören. Sie werfen Fragen auf nach Schuld und Sühne und nach der quälenden, aber notwendigen Befreiung durch historische Selbstkritik. Mit diesem Nobelpreis kehrt im Osten die Geschichte zurück. Und eines Tages wird eine neue Generation von Müller-Lesern die Eltern fragen, was in den Gulags wirklich passierte, wieso man Mao feiert statt ihn zu verachten und wieso denn Stasi-Schergen von einst heute wieder regieren sollen.

Für die politische Kultur in Deutschland wirkt Herta Müller damit wie der krasse Gegenentwurf zu Günter Grass, dessen Flirts mit sozialistischen Utopien den intellektuellen Mainstream lange Jahre stark beeinflusst haben. Nun steht dem selbstgewissen Zeigefinger, dem polternden Ankläger mit Nobelpreisnimbus eine zerbrechliche Frau gegenüber, der die Sozialisten die Zeigefinger gebrochen haben. Für das deutsche Jubeljahr des Mauerfalls könnte die literarische Spannungskurve im Blick zurück auf das totalitäre 20. Jahrhundert kaum würdiger angelegt worden sein.
„Der Sozialismus ist keine Utopie. Er ist eine Tragödie“, unkte einst Winston Churchill. Er hatte Recht. Und wer es nicht glauben will, der lese Herta Müller.

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Tagespost


Katholische Zeitung für Politik Gesellschaft und Kultur

Feuilleton - Ausgabe Nummer 121 vom 10.10.2009

Fiebrige Prosa von ungeheurer Dichte

Die neue Nobelpreisträgerin Herta Müller erzählt in ihren Romanen von der Diktatur in Rumänien, dem Leiden, dem Hunger. Literatur besteht für sie insgesamt aus Beschädigungen.

Von Ilka Scheidgen

Das Nobelpreiskomitee zeichnete am Donnerstag Herta Müller mit dem Literaturnobelpreis aus für ihr sprachlich überzeugendes Werk, das „mittels der Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit“ zeichnet. Am Tag der Bekanntgabe konnte die scheue Autorin noch gar nicht fassen, was da geschehen war. „Ich kann noch gar nicht darüber reden, es ist irgendwie noch zu früh“, bat Müller auf der Pressekonferenz in Berlin um Verständnis.

Herta Müller wurde am 17. August 1953 in Nitzkydorf, im deutschsprachigen rumänischen Banat geboren. Sie studierte Germanistik und Romanistik in Temeswar und arbeitete als Übersetzerin und Deutschlehrerin in Rumänien, verlor aber ihren Arbeitsplatz 1979, weil sie sich weigerte, mit dem rumänischen Geheimdienst „Securitate“ zusammenzuarbeiten. Danach verdiente sie sich ihren Lebensunterhalt als Kindergärtnerin und private Deutschlehrerin. Ihr erstes Buch „Niederungen“ erschien 1982 in Bukarest, allerdings in einer zensierten Fassung, ebenfalls das folgende „Drückender Tango“ (1984).

Herta Müllers Romane schildern das bedrückende Leben der deutschen Minderheit im diktatorisch regierten Rumänien in einem lakonischen Stil und in atmosphärischer Dichte. Ihre eigenwilligen Gedichtkompositionen von Text-Bild-Collagen sind von bizarrem Reiz.

Die Ankunft im Westen

Ihre Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Sie erhielt für ihr Werk viele renommierte Preise. Seit 1987 lebt die Schriftstellerin in Deutschland. Sie hat ihre Heimat trotz politischer Verfolgung unter der Diktatur Ceausescus nicht verlassen wollen. Auch als ihr nach ihrem viel beachteten Debüt und den darauf folgenden Preisen ab 1984 bereits Auslandsaufenthalte genehmigt wurden, kehrte sie immer wieder zurück nach Rumänien, in das Land, in dem ihre Vorfahren seit 300 Jahren lebten. Sie nutzte nicht die Gelegenheit, um sich davonzustehlen aus einem Staat, in dem sie und ihre Freunde und alle, die sich nicht aus Opportunismus dem Regime anpassten, verhört, gefoltert und auch getötet wurden. „Ich wollte mir von denen nicht meine Menschenwürde nehmen lassen, meine Entscheidungsfreiheit, wenn ich gehen würde, diesen Zeitpunkt selbst zu bestimmen“, sagt sie.

Erst als das Leben nicht mehr zu ertragen war mit allen Repressalien wie Berufsverbot, Veröffentlichungsverbot, Schikanen, Verhören bis hin zu Morddrohungen, stellte sie 1987 einen Ausreiseantrag und zwar ausdrücklich nicht als Deutsche im Rahmen der Familienzusammenführung, sondern als politisch Verfolgte. Dass die Ankunft im Westen, in einer Demokratie, in der Freiheit ganz anders war, als sie gedacht hatte – davon und von den schweren Jahren davor, hat die Autorin dieses Beitrags viel in dem Gespräch erfahren, das sie mit Herta Müller in deren Berliner Wohnung führte.

Herta Müllers Werk – ihre Gedichte, Erzählungen und Romane – ist ein in vielerlei Hinsicht einmaliges Werk. Ihre collagenhaft zusammengefügten Poeme erzählen verdichtet von dem, wovon auch ihre Romane handeln: Angst, Bedrohung, Tod und Fremdsein, Verlust und Einsamkeit. Ins Bild gesetzte Risse, Brüche, noch in sich zerstückelte Worte sprechen von einer Biografie, der alles Selbstverständliche abhanden gekommen ist. Sie erinnern – sicher nicht zufällig – an die bewusst herbeigeführte Anonymität von Flugblättern oder Erpresserbriefen, bei denen weder an der Handschrift noch an den Typen einer Schreibmaschine der Absender erkannt und zurückverfolgt werden kann.

Herta Müller hat sich bis in die jüngste Zeit heftig dagegen gewehrt, die Abscheulichkeiten in Diktaturen zu verharmlosen, die in ihrer Heimat Rumänien, aber auch die in der ehemaligen DDR. Berlin war für Herta Müller, als sie 1987 dort hinzog, auch problematisch wegen der Mauer. „Berlin war ja nur der halbe Westen, weil es so stark an den Osten gelehnt war durch die unmittelbare Nähe der Mauer“, erzählt sie. „Und wenn man wie ich mit den Erfahrungen im Kopf hergekommen ist, so war das schon sehr zum Grausen und beängstigend, was man da sehen konnte: die toten Bahnhöfe, durch die man fuhr, der Todesstreifen, die Hunde und Grenztruppen, die dort patrouillierten.“ Die Todesangst begleitete Herta Müller auch noch nach ihrer Ankunft im Westen. Sie erhielt auch hier Morddrohungen von der „Securitate“, und sie wusste, dass diese eng mit der Stasi zusammenarbeitete. „Moral ist das hart bezahlte Gegenteil von politischem Opportunismus. In der Versachlichung des Lebens auf den Formularen kommt sie nicht vor“, schreibt Herta Müller in einem Essay und erläutert im Gespräch ihr Ringen um moralische Integrität: „Ich wollte mein Umfeld verändern. Ich wollte nicht Dinge tun, die ich nicht verantworten konnte.“

Man muss Herta Müllers Bücher lesen, ihre Erzählungen und Romane, die neben der Schilderung einer freudlosen Kindheit im banat-schwäbischen Dorf immer wieder neu die Auswirkungen eines totalitären Regimes auf das Leben der Menschen behandeln, so in den Romanen „Der Fuchs war damals schon der Jäger“, „Herztier“ und „Heute wär ich mir lieber nicht begegnet“. Elementar spürt man darin eine Welt der Gefährdung und Bedrohung. Das Stakkato der kurzen Sätze schmerzt beinahe physisch. Abläufe werden nicht durchgehend erzählt, sie werden zerschnitten, so wie auch häufig die Metaphern „schneiden“, „zerreißen“, „zerbrechen“ auftauchen. Zwischen den Menschen herrschen Misstrauen und Beziehungslosigkeit. Angst ist das alles beherrschende Grundgefühl, das kein Vertrauen, keine Hoffnung, kein Glück entstehen lässt. Frost, Kälte und Leere, Dunkelheit und Schatten sind keine Symbole. Sie sind real wie der Hunger, wie Verzweiflung und Ausweglosigkeit, die sogar schon für Kinder gelten. „Dann arbeiten auch diese Kinder hier in der Fabrik. Haben nie den Wunsch danach. Sie kommen hierher, weil sie nicht weiter wissen. Sie stoßen ... nie auf einen Weg, weil keiner offen ist.“ Oder: „Ein Winter, in dem die Jungen sich wie Unglück hassen müssen, wenn zwischen ihren Schläfen der Verdacht des Glücks aufkommt. Und dennoch mit den kahlen Augäpfeln ihr Leben suchen.“

Herta Müller verlangt viel von ihren Lesern. Was sie erzählt und vor allem, wie sie es tut, lässt keine Distanz zu. Die Brutalitäten des Geheimdienstes, das Misstrauen selbst unter Freunden, der Verrat; der Himmel, der leer ist, und die Donau, die Flüchtende in die Tiefe zieht – all die vielen subtilen Verästelungen des Machtapparates bis hinein ins Allerprivateste, bohren sich tief hinein in den Kopf des Lesenden, der nicht unbeteiligt und kühl bleiben kann, dem plötzlich alle scheinbare Sicherheit abhanden kommt.

Herta Müller hat eine Sprache, die einmalig ist in der deutschen Gegenwartsliteratur. Sie ist bedrängend, ja beängstigend, und ihrer Suggestivkraft kann man sich nicht entziehen. Ich kenne niemanden, der so schreibt, der so schreiben kann. Hunger ist keine Metapher, er kriecht hinein in den Leser, der den Hunger nicht kennt. Der Frost und die Kälte lassen ihn frieren. Und das fehlende Licht beraubt uns auf Sicherheit Bedachten aller Gewissheit. Was wir hier erfahren über die Möglichkeiten von Erniedrigung, Bestrafung, Bedrohung, über „Angst austeilen“ und „Friedhöfe machen“, muss uns erschrecken in unserer oberflächlichen Ruhe und Zufriedenheit. Worum es in Herta Müllers Büchern geht – um Freiheit, um Wahrheit –, wird nicht mit diesen Vokabeln benannt, die uns viel zu leicht über die Lippen kommen. Wahrheit wird bei ihr zu einem Kirschkern auf der Zunge. Man kann ihn ausspucken, man kann sich daran verschlucken. Und die Freiheit ist da, „wo die Donau das Land abschneidet ... Manchmal hört man von weitem Schüsse ... Nicht lauter, als wäre ein Ast abgebrochen. Nur anders, ganz anders.“

Herta Müller entwickelt den Handlungsstrom ihrer Romane in Fragmenten, in Einzelbildern von scharfer Genauigkeit. Risse, Brüche sind hier wie auch in ihren Gedichtcollagen substanzielle, ja existenzielle Notwendigkeit. Die Teile können aneinandergefügt werden, aber die Brüche werden für die Autorin immer da sein. Festhalten kann sie sich nur an der Genauigkeit im Detail: „Nur wie sich das Blinzeln der Angst summierte, konnte ich sehen: wie unruhig Augen waren, wie Hände zitterten, wie Ohren horchten, weil jeder Gegenstand erschrecken konnte. Wie Füße eilten, wenn es unerwartet knackte, raschelte oder quietschte.“

Eine bedingungslose Sprache

„Sie sind überall gestorben, an den Grenzen rundherum sind sie erschossen worden, von Hunden zerrissen, in der Donau von Schiffsschrauben zermahlen!“

Wenn Herta Müller von solchen Gräueln erzählt, wird ihr Erzählen noch nervöser, noch gehetzter als in der übrigen Zeit. Denn ein Grundtenor von Unruhe, ja Gehetztheit ist immer da. Sie spricht schnell und ohne Pausen. In den hart intonierten, sich aneinander aufreibenden Wörtern, dem hin und her wandernden Blick erkennt man auch jetzt noch die Beschädigungen, die die Tyrannei ihr zugefügt hat. „Meine Überzeugung ist, dass Literatur insgesamt aus Beschädigungen besteht“, sagt sie. Bei Herta Müller haben diese zu einer bedingungslosen Sprache geführt, zu einem unbeugsamen, wachsamen und mikroskopischen Blick auf Details. Bei ihr bedeuten Wörter wie Gürtel, Fenster, Nuss, Strick, Schere, Tür, Schrank, Koffer, Sack und Haar einen ganzen Kosmos von Zwang, Not, Erstarrung, Tod. Es ist eine fiebrige Prosa von ungeheurer Dichte, die krankmachende, todbringende Verhältnisse in knappster Form in einem Geflecht aus Erinnerungen, Gedanken und Assoziationen beschreibt. Die sich dieser Anforderung nicht entzieht und damit den Leser hineinnimmt in das grundsätzliche Fragen nach „Sein oder Nichtsein“. Und die sich unmissverständlich auf die Seite der Unterdrückten und Verfolgten stellt.

Herta Müller hat die angewandte Utopie der sozialistischen Diktatur schmerzlich erlebt, in der ein Paradies auf Erden versprochen wurde. „Das Ziel veränderte sich nie und seine Entfernung von uns auch nicht: Das Glück war nah und noch nicht erreicht. Zum Greifen nah war das Glück, aber davor stand lückenlos nur Unglück“, Deshalb ist für Herta Müller nicht von Bedeutung, was gewünscht, gehofft und versprochen wird, sondern ein Leben in kleinen Schritten, ein Festhalten an kleinen Gesten, nur im Jetzt. Und das Jetzt ist für Herta Müller ein zerbrechliches Etwas. „Das Zerbrechen ist immer erst zu merken, wenn es da ist“, sagt sie.

 

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