in der Würzburger "Tagespost" ist eine ausführliche Rezension Ihres Buchs erschienen. Eine Kopie ist per Post unterwegs an Sie. Der Rezensent war offensichtlich sehr inspiriert von Ihrem Werk. In einer Mail schrieb er mir: "... geht mein 'Syberberg-Einstieg' auf seinen Hitler-Film zurück. Den wir am Staatstheater Kassel, wo ich damals Regieassistent gewesen bin, 1978 auf der Bühne des Schauspielshauses vorgeführt haben. Das muß eine der ersten Vorführungen des Films überhaupt gewesen sein." (Ingo Langner)

Endlich daheim
Hans Jürgen Syberberg geht den Weg durch die deutsche Geschichte zu sich selbst
DT vom 02.08.2008
Von Ingo Langner

Nossendorf. Staat: Deutschland. Bundesland: Mecklenburg-Vorpommern. Landkreis: Demmin. Koordinaten: Länge: 12.95/E 12° 57 0. Breite: 53.9667/N 53° 58 0. Diese nüchternen Angaben zu Nossendorf stellt uns ein Routenplaner im Internet zur Verfügung. Doch mit Nüchternheit kommt man einem so mythosbeladenen Menschen wie Hans Jürgen Syberberg nicht bei. Schon der Klang seines Nachnamens ist, spricht man ihn langsam, laut und mit Bedacht, ein einziges welträtselhaltiges Raunen.

Allenfalls Hölderlins heilig-nüchternes Wasser wäre widerzuspiegeln möglicherweise vergönnt, was Nossendorf einem Syberberg einmal war und was ihm dieses Nossendorf, seit Beginn des dritten Jahrtausends nach Christi Geburt, wieder geworden ist. Denn wie im hölderlinschen Gedicht „Hälfte des Lebens“, waren die frühen Jahre auch Syberberg eine Welt „mit gelben Birnen und voll mit wilden Rosen“.

Die Orte glücklicher Kindheit und erfüllter Jugend bleiben uns für immer und ewig und vergehen nie – und sei es auch nur nicht in unseren Träumen. Doch wenn man, wie Syberberg, aus diesem Reich der frühen Jahre von Kommunisten mit staatlich sanktionierter roher Gewalt für immer vertrieben wird, dann begräbt ein von den Musen Geküsster sein Herz nicht an der Biegung eines x-beliebigen Flusses, sondern begibt sich, wie es seine Natur ihm befiehlt, auf die Suche nach der verlorenen Zeit.

Im Glücksfalle wird aus so einer Suche das, was man das Lebenswerk eines Künstlers nennt. Auf Syberberg angewandt umfasst so ein Lebenswerk, wenn wir richtig gezählt haben, einundzwanzig Filme, darunter der monumentale „Hitler, ein Film aus Deutschland“, sechs Theaterproduktionen, hier möchten wir nur an „Die Marquise von O?“ erinnern, und neun Installationen, deren erste, „Parsifal“, 1982 auf der Kasseler „dokumenta“ und deren bislang letzte unter dem Titel „Syberberg/Clever. Die Nacht. Ein Monolog“ in diesem Jahr in der Kunsthalle Wien gezeigt worden ist.

Aus diesem Wiener Kunsthallenprojekt ist zudem eine Installation ganz eigener Art hervorgegangen. Denn mit dem Wort „Buch“ lässt sich bloß annäherungsweise bezeichnen, was unter dem Titel „Film nach dem Film“ im „Verlag für moderne Kunst“ (336 Seiten, ISBN-13: 978-3940748126, EUR 38,–) jüngst erschienen ist. Dort ist auf hellsichtige Art gesagt und doch nicht ausdrücklich gesagt, was die innere Wahrheit eines Lebens ausmacht, wenn der Mensch, der dieses Leben austrägt, Hans Jürgen Syberberg heißt.

Die Installation auf bedrucktem Papier hätte aber auch „Nossendorf“ heißen können – oder „Edith Clever“, deren schönes Gesicht wohl das am meisten gezeigte von allen ist. In großen Partien des syberbergschen Werks verkörpert diese Ausnahmeschauspielerin alles, was ihr Regisseur noch besaß, als er Nossendorf nicht mehr besaß. Heimat, sagen wir Deutsche dazu. Für Hans Jürgen Syberberg war seine Heimat seit 1947 durch einen Todesstreifen von ihm geschieden. Als er das Gutshaus seines Vaters nach der Neuvereinigung Deutschlands wieder aus eigenem Recht betreten durfte, fand er es in einer vom Sozialismus verheerten Landschaft, nämlich fast baumlos und voller Brachen und die Türen und Fenster zugemauert.

Eine Photographie, die diesen erschütternden Zustand zeigt, bildet denn auch den Auftakt zu vielen anderen Bildern, die in traumumflorten grau-grünen Farben und raffiniert collagiert und mit Textfragmenten versehen, uns erzählen wollen, was Syberberg war und ist: ein rares Zwitterwesen, kreiert wie von Dionysos und Apoll und wie die beide griechischen Götter mit Delphi verbunden.

Denn Syberbergs wahre Sprachform ist die des Orakels. Seine Pythia hatte er Anfang der achtziger Jahre in Edith Clever gefunden. Die Clever: In der Tat eine Diva, ein Sprachwunder – denn die zaubert dir einen wild sprudelnden Fluss mit dem Schnips ihres kleinsten Fingers! – und eine Wahr-Sagerin von hohen und höchsten Graden. Dem Mythos zufolge ließ Zeus zwei Adler von je einem Ende der Welt aufsteigen, die sich in Delphi trafen. Deshalb galt den antiken Griechen der Ort am Fuß des Parnassós als Mittelpunkt der Welt.

Syberbergs Omphalos, sein Nabel der Welt, liegt in Nossendorf in spröd-lieblicher vorpommerscher Landschaft. Als er vom angestammten Gutshaus wieder Besitz nehmen konnte, hat er zuerst jenes Fenster originalgetreu wieder herstellen lassen, aus dem er als kleiner Junge in die Welt hinaussah und sein erwartungsvoll forschender Blick vis-a-vis auf der Scheune das Storchennest fand, in das die afrikareisenden Vögel Jahr für Jahr heimkehrten, um in Nossendorf für den Fortbestand ihrer Art zu sorgen.

Bald darauf hat Syberberg dann auch den Weg mit dem Katzenkopfpflaster wieder in jenen Urzustand zurückversetzt, auf dem er erst in die Schule und dann ins Leben hinausging. So wurde die von Zerrbildern wirklicher Arbeiter und Bauern mit ihrem Auswurf bedeckte Spur wieder freigelegt, die einst hinaus ins Offene führte, dann für immer versunken schien und heute – welch ein Geschenk – wieder Syberbergs Nossendorf mit der Welt verbindet.

Hölderlins Lebenssorge: „Weh mir, wo nehm ich, wenn es Winter ist, die Blumen, und wo den Sonnenschein, Und Schatten der Erde?“ trieb auch den im Dezember 1935 Geborenen um. In Heinrich von Kleist fand er den Dichter, dessen Traumpreußen auch für Syberberg zum Synonym für ein in Staub liegendes Paradies werden konnte. In Richard Wagner dagegen erkannte Syberberg jene Kraft, die in Deutschland stets das allein selig machende Kunstwerk will und damit wie einen nicht abzustreifenden Unwert das Böse schafft.

Daher rührt Syberbergs extensive Beschäftigung mit Nietzsche und dem wagnerschen Werk und sein exzessives Ringen mit dem Phänomen Hitler. Unter dem Titel „Wini und der Wolf – und die Folgen“ zeigt er Filmbilder, die den mörderischen Reichskanzler im leichten Sommeranzug, mit weichem Hut auf dem Kopf und in heiter vertrautem Umgang mit der Herrin von Bayreuth zeigen. Sie sind einem Film entnommen, den Wolfgang Wagner selbst aufnahm und der über einen japanischen Umweg seinen Weg auf Hans Jürgen Syberbergs Schneidetisch fand.

Mit den Bildunterschriften „Hier gilts der Kunst“ und „Der Pakt“ fügt Syberberg dann auf einer Photoseite zusammen, was „Meistersinger“ und „Faust“, was Wagner und Goethe in den Zeiten der Totschläger und Endlöser miteinander verbindet: Denn als ob er die berühmte Szene mit Mephistopheles-Darsteller Gustaf Gründgens kopieren wollte, unterschreibt Adolf Hitler auf dem Rücken von Wolfgang Wagner einen Wisch, in dem er dem wagnerschen Gesamtkunstwerk ewige Treue schwört. Auf perfide Weise hat der Führer der Deutschen Wort gehalten. Sein Blut und das Blut, das die vielen für ihn vergossen haben, werden wohl für alle Zeiten an Richard Wagner kleben.

Jenseits der Götterdämmerung lebt Hans Jürgen Syberberg heute in Nossendorf seinen Traum. Wer will, kann ihn unter www.syberberg.de dort jederzeit virtuell besuchen. Im Internet gibt ein Tagebuch über den Fortgang der Dinge Auskunft. Darin hat alles, was Hans Jürgen Syberberg dachte und schuf, seinen Platz. Syberberg ist in Erfüllung gegangen, was Heinrich von Kleist seinen Prinzen von Homburg hymnisch beschwören lässt: „Ich will auf meine Güter gehen am Rhein, Da will ich bauen, will ich niederreißen, Dass mir der Schweiß herabtrieft, säen, ernten, als wärs für Weib und Kind, allein genießen, Und in den Kreis herum das Leben jagen, Und wenn ich erndtete, von Neuem säen, Bis es am Abend niedersinkt und stirbt.“

Syberberg hat diese prinzlichen Zeilen, zusammen mit Szenenbildern von Oskar Werner, dem Unvergleichlichen, der 1983 noch einmal den Homburg gab, seiner Lebensbuchinstallation hinzugefügt. Sie sind wohl nicht nur das geheime Zentrum des Buches selbst, sondern auch das eines Mannes, der zu den allergrößten Künstlern hierzulande zählt, doch wie so manch anderer vor ihm, zu Lebzeiten nur von wenigen als solcher erkannt und gewürdigt wird.