„Der zerbrochne Krug“ oder Die Bildungsfalle

Peter Stein inszeniert Kleist am Berliner Ensemble

von Ingo Langner für Die Tagespost (18.9.2008)

Heinrich von Kleist ist in keinem anderen seiner Stücke für das Theater so sehr bei sich, wie in seinem Lustspiel „Der zerbrochne Krug“. Dieser Satz fordert zum Widerspruch heraus. Seiner Natur gemäß, wäre ihm Kleist selbst am Entschiedensten entgegengetreten. Gleichwohl ist der Satz wahr. Denn in ihm kommt zum Ausdruck, daß in den Kategorien Lust und Spiel schon alles enthalten ist, wonach Kleist sich immer gesehnt hat. Deren Versprechungen ihm sich aber nie erfüllen sollten. In unseren Augen ist Kleists Rutschbahn zum Lethefluß hin eine bewußte Entscheidung gewesen und kein unwiderrufliches Fatum.

Bekanntlich hing der preußische Dichterkönig der Fiktion an, daß ihm hier auf Erden nicht zu helfen sei. Wie um dies bittere Fazit zu beglaubigen, spiegeln seine großen Theaterfiguren die Kleistsche Seelenlage getreulich wider. Das sind Grenzgänger auf einem rasiermesserschmalen Grat, die das Wort Realität nicht wohl recht hören mögen; denen die wirkliche Wirklichkeit wie ein Alb auf der Brust sitzt. Prinz von Homburg taumelt träumend am Grab entlang. Penthesilea tötet in Trance. Jupiter ist ein einsamer unglücklich liebender Gott, das Käthchen von Heilbronn eine von einem Cherub erkannte Somnambule.

Wir nennen Kleists Satz von der Erde aus seinem kurzen Abschiedsbrief zum langen Doppelselbstmord am Kleinen Wannsee trotzdem eine Fiktion, weil im „Zerbrochnen Krug“ eine künstlerische Option aufscheint, die der dunklen Seite des Mondes, auf die Kleist seinem eigenen Dafürhalten unaufhaltsam zustürzen mußte, entgegengesetzt ist. In diesem „Krug“ ist etwas enthalten, was für ein langes Leben als großer Wortkünstler weit hätte reichen können. Aber leider eine nicht weiter genutzte Möglichkeit blieb, weil Kleist sich vom Unglück auf eine Todesbahn locken ließ, von der er dann nicht mehr abweichen wollte.

In seiner Schrift „Über das Marionettentheater“ steht der Satz: „Mithin müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen.“ Für Kleist war dies „das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt“, und in der Komödie vom Dorfrichter Adam, der auf dem glatten Boden der eigenen Gerichtsstube sich selbst zu Fall bringt, exemplifiziert Kleist zwar, wie in allen seinen Werken, die von Menschenhand nicht aufhebbare Gebrechlichkeit der Welt. Aber er zeigt auch, daß es sich trotz alledem und alledem darin leben läßt. Allerdings muß man bereit sein, der Versuchung zu widerstehen, das Paradies schon hier auf Erden errichten zu wollen.

Peter Stein, einer der Regiekönige des Theaters, dessen schon Geschichte gewordener Ruhm sich in jüngster Zeit mit seinen epochalen Aufführungen von Goethes „Faust“ und Schillers „Wallenstein“ wieder auf das Glücklichste erneuert hat, weiß alles, was es über Heinrich von Kleist zu wissen gibt. Denn schon wie in den alten sagenumwobenen Berliner Schaubühnenzeiten zeugt allein das Programmheft seiner Neuinszenierung des „Zerbrochnen Krugs“ davon, daß sich Stein auch hier wieder mit einem wissenschaftlich zu nennenden Ernst auf seine Arbeit am „Berliner Ensemble“ vorbereitet hat. Aber wie schon ab und an bei seinen früheren Arbeiten ist es Peter Stein beim „Krug“ nicht zur Gänze gelungen, seinem luziden Konzept all die Erdenschwere zu nehmen, die eine intellektuelle Herangehensweise - ihrer luftigen Natur zum Trotz - nun einmal stets mit sich bringt.

Vielleicht könnte man mit einigem Recht sagen, daß diesem vermutlich Klügsten aller bedeutenden Regisseure des 20. Jahrhunderts seine evangelische Herkunft hier und da einen Strich durch die nur auf dem Papier immer saubere Rechnung gemacht hat. Vom lutherischen „Wort, sie sollen lassen stahn“ glaubt man bei Stein immer ein fernes Echo zu hören – und eine Wortgerechtigkeit, gespeist aus einem protestantischen Entweder-oder, verstellt den Blick für das katholische Sowohl-als-auch. Wohl seinem preußischen Naturell geschuldet, suchte der 1937 in Berlin geborene Stein nie den gänzlich ungesicherten Drahtseilakt hoch oben in der Manege. Theater ohne Netz und mit verrutschten Masken – wie das von George Tabori, Peter Zadek oder Klaus Michael Grüber - war seine Sache nicht. Wenn bei Stein mal einer lacht, ist es immer der Weißclown im edlen Paillettenkostüm und nie der dumme August mit seinen erbärmlich schlotternden Hosen. Stein wollte immer perfekt sein. Aber das haben die Götter nicht gern.

Anfang der Siebziger Jahre, als Peter Stein noch Kommunist war, wollte er mit der „Schaubühne am Halleschen Ufer“ die Welt verändern. Das Theater als Arbeit an der roten Utopie vom Neuen Menschen also. Zum Leidwesen der Anhänger der reinen Lehre, verführte Steins politisches Prä ihn allerdings nie dazu, sich in die Sackgasse des Agitprop zu begeben.

Als der sozialistische Traum schließlich ausgeträumt war, geriet der weltweit gefeierte Regiestar in eine Orientierungskrise, aus der er sich künstlerisch wohl zu befreien wußte. Allerdings hat sie ihn ums eigene Haus und ein Ensemble gebracht, das seinesgleichen suchte. Nach der Scheidung von seiner „Schaubühne“ hatte Stein eine Heimat verloren. Womöglich für immer.

Steins Regiekunst vollbringt auch beim „Zerbrochnen Krug“ wieder wahre Wunder. Seine Schauspieler, allen voran Klaus Maria Brandauer als Dorfrichter Adam, sind durch die Bank exzellent. Sie beherrschen Körper und Zunge so, wie man es von Steins großen Erfolgen – wie „Peer Gynt“, „Sommergäste“, „Drei Schwestern“ et tutti quanti - her kennt. Mit einem Bühnenbild, daß exakt jenem 1782er Kupferstich „Le juge, ou la cruche cassée“ von Jean Jacques Le Veau nachempfunden ist, dessen Ansicht Heinrich von Kleist 1801 zu seiner Komödie inspirierte, ist die Bahn frei für einen zeichenhaften Realismus, der alles an Schauspiel- und Sprachkunst freisetzt, was zu einer Darbietung eines Gewebes aus Lust und Spiel gehört.

Kleists Adam ist, wie der Satan, ein Lügner von Anfang an und verfertigt seine Gedanken beim Reden. Für ihn ist die Wahrheit ein Ding, das man so oder so oder auch anders sehen kann - und einen klumpigen Pferdefuß hat der Mann auch. Adam ist Zecher und Faun. Er liebt Braunschweiger Wurst, Limburger Käse und Niersteiner vom Rhein. Und Eve, Dorfmädchen und ungeschorenes Lamm, will er an die Wäsche. Als Gegenleistung bietet er ein Attest für Eves Verlobten, mit dem sie diesen vom bevorstehenden Eintritt zur Landmiliz auslösen kann.

Als Eve in ihrer Kammer ihre Jungfräulichkeit tapfer und erfolgreich verteidigt, geht ein irdener Krug kaputt. Diese symbolhafte Causa wird unter Aufbietung aller nur denkbaren Verwicklungen ausgerechnet ein jenem Tag vor Adams Richterstuhl verhandelt, an dem der Herr Gerichtsrat Walter aus Utrecht zur strengen Visitation im niederländischen Huisum erscheint, wohin Kleist seine Umkehrung des sophokleischen „Oedipus“ verpflanzt hat.

Der König von Theben weiß nicht, daß er über sich selbst zu Gericht sitzt, als er denjenigen sucht, dessen Blutschuld die Olympier ungnädig mit Pest und Schwefel bestrafen. Erst nachdem der schuldlos schuldige Oedipus Rex sich die Augen aussticht, ist er sehend geworden. Der Dorfrichter Adam jedoch kennt die Wahrheit schon am Morgen danach, wenn er waidwund an Kopf und Bein ächzend aus seinem Bett steigt. Weil aber die Wahrheit identisch mit seinem Sündenfall ist, sucht er seine Schuld hinter dem Berg zu halten und zieht wie ein Zauberer Schleier auf Schleier hervor, um die Wahrheit vor Dorf und Welt zu verbergen.

Heinrich von Kleist spielt mit Genesis und Antike wie ein Rastelli. Wer beim Inszenieren der Versuchung nicht widersteht, das alttestamentarische und antike Beziehungsgeflecht besonders hervorzuheben, der hat schon verloren. Diesen Fehler begeht Peter Stein nicht. Aber er hat, verführt von wem oder durch was auch immer, die erste Stückfassung Goethes in Weimar „wiederentdeckt“, der den „Zerbrochnen Krug“ am dortigen Hoftheater am 2. März 1809 uraufgeführt und leider und zu Kleists Unglück einen veritablen Mißerfolg auf die Bretter stemmte.

Gerade weil das ein Mißerfolg wurde, hat Kleist sein Lustspiel gekürzt. Was unbedingt zu begrüßen ist. Denn wenn der Dorfrichter aus seinem Paradiesgärtlein aufs schneeverwehte freie Feld hinaus flieht, weil seine Schuld offen vor aller Augen liegt, wenn also der Lügner von Anfang an die Szene räumt, dann hat das in einer Komödie verpuppte Drama seinen Widersacher verloren, der bisher wie ein Magnet alle Späne an sich zog. Wer circensisch denkt, der macht jetzt ganz schnell Schluß. Wer aber noch Eve umständlich darlegen läßt, was alle auf und vor der Bühne bereits lange wissen, der hat das Ende verhunzt.

Aber noch ein weiterer Mangel muß hier zur Sprache kommen. Peter Steins Eve heißt Marina Senckel. Sie ist eine gute junge Schauspielerin, die zu vielen Hoffnungen für die Zukunft Anlaß gibt. Aber sie ist in kaum einem Augenblick das uns anrührende Unschuldslamm, dessen drohender Opferung wir mit Bangen zuschauen, und auf deren Rettung wir zwei Stunden lang innig hoffen. Marina Senckel ist virtuos. Aber sie erreicht nicht unser Herz. Hier liegt das Hauptproblem eines hoch zu rühmenden Theaterabends, der aber genau deswegen kein olympischer ist.

Denn weil wir nicht in jeder Sekunde um Eve zittern, fehlt ihrem Adam jener nicht nur moralische, sondern nachgeradezu existentielle Gegenpol, den auch ein so großartiger Virtuose wie Klaus Maria Brandauer braucht wie die Luft zum Atmen. Denn nicht nur ist er ohne dies Gegengewicht zum Solisten verdammt, auch seine Jagd auf den Hymen des Mädchens, also die Untat selbst, wird uns nicht recht einsichtig gemacht.

Und noch ein Weiteres muß gesagt sein: Wenn alles vorbei zu sein scheint, tritt Eves Mutter, Frau Marthe Rull aus dem Dunkel hervor, in dem sie lange geschwiegen und spricht den Gerichtsrat an: „Sagt doch, gestrenger Herr, wo find ich auch den Sitz in Utrecht der Regierung? Walter: „Weshalb, Frau Marthe?“ Frau Marthe empfindlich: „Hm! Weshalb? Ich weiß nicht – soll hier dem Kruge nicht sein Recht geschehn?“ Walter: „Verzeiht mir! Allerdings. Am großen Markt, und Dienstag ist und Freitag Session.“ Frau Marthe: „Gut! Auf die Woche stell ich dort mich ein.“ Alle ab. Ende.“

So schließt der „Zerbrochne Krug“. Bei Heinrich von Kleist. So holt der große Preußendichter die Causa seines Spiels – und unsres ganzen Lebens! – dahin zurück, wo diese Causa ihren allerersten Anfang nahm: bei einer Handvoll Lehm. Doch um eines scheinbar großen Schlußbildes willen, in dem er den fliehenden alten Adam apotheotisch (Achtung! Symbolik! „Gerichtet! Gerettet!“ – wir denken an Goethes „Faust“) in den Schnürboden auffahren läßt, streicht Stein einen der schönsten Schlußdialoge, die das Theater der Welt kennt und tappt in seine eigene Bildungsfalle. Was mehr als schade ist.

Die deutsche Premierenkritik, vielstimmig und dissonant wie meist immer, hat von all dem offenbar wenig bemerkt. Einer aus Frankfurt am Main lobt trotzig und wie um eine alte Schuld abzutragen. Andere in Berlin, die an den amtierenden Regiezwergen ihre Schreibübungen für ein paar Silberlinge verkauft haben, pochen mit aufgeblähten Backen darauf, bei dieser neuen Arbeit von Peter Stein nicht die Zukunft des deutschen Theaters gesehen zu haben. Welch ein Irrtum! Denn in dieser, wenn auch nicht hundertprozentig gelungenen Inszenierung, steckt in jedem Augenblick mehr Kunst, als bei den meisten Aufführungen des diesjährigen Berliner Theatertreffens, wo bekanntlich immer im Mai die Höhepunkte einer abgelaufenen Saison präsentiert werden. Deshalb heißt unser Schlußsatz: Da capo, Herr Stein – und bitte wieder in ihrer angestammten Theaterheimat, und das ist Berlin!

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Ingo Langner

das von EC vorgeschl.Foto aus dem ersten Teil der N. mit dem Text aber ganz eigener Art. Für dieses Zitat nicht geeignet und darum nicht gen.
Zur gleichen Zeit in Berlin -jetzt am 20. September einen Tag nach den Zofen in der VB- die Aufführung eines K.M.Grüber gewidmeten Films mit noch mal EC, dass sie damals gegen G. ihren berühmten Auftritt in den Bakchien durchgesetzt. Und was das hiess. Unversöhnt war sei seitdem im Innersten ohne Heimat an diesem Haus. Denn auch nachher erkannte G. nie was sie da wirklich getan und gemeint. das Archaische an sich. Die Schaub. nicht dumm nahm dies Bild davon als logo jahrelang: EC mit dem blutenden Kopf des getöteten Sohns über ihr im Wahnsinn lachendes Haupt in ganzer übergrosser Grösse, was die Schaub. eben nie erfüllt, aber wohl immer gesucht. G. und EC versöhnten sich anl. der Nacht in Paris(! da von P.Stein für die Schaub. abgelehnt, wie zunächst geplant!) mit seinem Urteil (G):es wäre das, was sie alle immer gewollt. Lieder hat er die Penthesilea dann nicht mehr gesehen, die nun wirklich nun in Berlin und Frankfurt und München das Archaische noch mal aufnahm, in kleistscher und unserer Form.
Das von mir vorgeschl. Foto aus der Nacht. RW Briefe im Blick

Das von B-N.vorgeschlagene Foto aus der N.

so sass die Olga nie und je bei Tschewov/Stein an der Schaub.

Perfiderweise beschreibt diesmal DIE WELT, anlässlich der berliner Premiere der Zofen das übergrosse Bild an der Wand der B. Neumann-Bühne nicht mehr als Zitat der Drei Schwester von der Schaubühne, da sich mittlerweil dem Prgrammheft entnehmen liess, woher es wirklich stammt (Die Nacht igitigit)und nachdem sich die FAZ und SZ und der Tagesspiegel anl. der Wiener Premiere blamierten, indem sie es gerne der Schaub. zuschrieben, alter Nostalgie und neuen Theater-Vergleichen von Ost-West Ästhetiken zu dienen, sondern als etwas, das ihn an die 3 Schwetsren erinnere. Um dann gleich wieder Tschechow als Schmerzensmann anzurufen, wissen müssend... usw., dass es RW ist, der hier den Text geliefert.

Klatsch, Betrieb, nein. Welten dahinter anderer Gedanken und Programme von dem, was ja und was nein, gut oder schlecht befunden und umkämpft.