17. April 2008, 07:51, NZZ Online
Vom Trockenen und vom Feuchten
Jonathan Littells Versuch über den faschistischen Charakter

 

 

 

Nach der so voluminösen wie umstrittenen «Autobiografie» des SS-Mannes Max Aue (NZZ: «Die Wohlgesinnten») legt Jonathan Littell jetzt einen kurzen, dafür reich bebilderten Essay über einen anderen, diesmal realen SS-Mann vor, der es, wie sein fiktiver Kamerad Aue, bis in den Rang eines Obersturmbannführers brachte und als Chef der «Legion Wallonien» ein – in den Augen Hitlers – «glorreiches» Kapitel in der Geschichte des Russlandfeldzugs schrieb: Léon Degrelle.

 

 

Ein «Rexist»
Gründer und Leitfigur der vormals streng katholisch inspirierten, dann zur belgisch-wallonischen Spielart des Faschismus mutierenden Bewegung des «Rexismus» (von «Christus Rex»), hatte Degrelle schon vor dem Zweiten Weltkrieg auf sich aufmerksam gemacht, als die Rexisten 1936 mit 21 Abgeordneten ins Brüsseler Parlament hatten einziehen können. Mit seiner offen bekundeten Sympathie für Hitler und den Nationalsozialismus schwächte Degrelle seine Position allerdings erheblich, und nach 1940 und dem Einmarsch ins Königreich Belgien begegneten auch die deutschen Machthaber seiner Begeisterung für ihre Ideale nur mit Zurückhaltung.

Degrelles Stunde schlägt erst nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941. Er engagiert sich als einfacher Soldat in der «Legion Wallonien» und erlebt an der Ostfront einen rasanten Aufstieg. Im Februar 1944 gelingt ihm – seine «Heldentat» – der Ausbruch aus dem Kessel von Tscherkassy (Korsun); er wird zweimal von Hitler empfangen, der ihm, so Degrelle später, anvertraut habe, dass er sich jemanden wie ihn als Sohn gewünscht hätte. – Und im Mai 1945 gelingt Degrelle per Flugzeug die Flucht nach Spanien. Dem Nationalsozialismus bleibt er treu, er lässt sich auch im hohen Alter noch im vollen Ornat eines Offiziers der Waffen-SS ablichten und stirbt im März 1994 in Málaga.

So weit zur «äusseren» Biografie dieses Täters, die Littell kurz skizziert, um dann zum Eigentlichen vorzustossen: Er unterzieht Degrelles 1949 erschienenen, heute nur noch im einschlägig anrüchigen Versandhandel disponiblen Memoirenband «La campagne de Russie» einer Art von «close reading», um die mentalen Strukturen der faschistischen Persönlichkeit freizulegen. Methode und Inspiration borgt er sich bei Klaus Theweleits weiland berühmter Dissertation «Männerphantasien» aus dem Jahre 1978 (die er in amerikanischer Übersetzung gelesen hat) – wofür Theweleit (der Littell auch nicht im Original gelesen hat) sich mit einem sehr freundlichen Nachwort zu Littells Essay bedankt.

Vor diesem Hintergrund sind Littells Ergebnisse wenig überraschend: Dem Faschisten sei die Trennung von der Mutter niemals ganz gelungen, er sei der nicht vollständig Geborene. Er bilde seine Persönlichkeit nicht im freudschen Widerstreit von Es und Über-Ich aus; er erfinde sich als «soldatischer» Mann und lege sich eine undurchdringliche Aussenhaut zu, einen Panzer. Sein Element sei das Harte, das Trockene. Er bevorzuge die Vertikale, das Stehende, kurz: das Phallische. Und sein Feind sei alles Weiche, Feuchte, Schlammige, Klebrige, Liegende und also, so wird uns nahegelegt, das Weibliche. Diese klassischen (aber deswegen nicht unbedingt überzeugenden) Oppositionen verfolgt Littell an Degrelles Erinnerungs- und Rechtfertigungsbuch bis in den sprachlichen Ausdruck hinein.

Nun ja. Die Opposition zwischen Weichem und Hartem, Feuchtem und Trockenem, zwischen Rohem und Gekochtem ist, wie wir seit Lévi-Strauss wissen, älter als der Faschismus. Mit solchen Kategorien lassen sich auch noch, wenn man will, Athener und Spartaner auseinanderhalten, Zivilisierte und Barbaren, Künstler und Kaufleute oder was auch immer. Wirklich zwingende Erklärungsmuster für den faschistischen Charakter aber liefern, wie Littell selbst einsehen muss, solch handliche Reduktionen nicht. Bei einem Degrelle, der das Handwerk des Schreibens gelernt hatte und seine kulturellen Referenzen kannte (und bemühte, wenn er vom «roten Sumpf» sprach und von der drohenden «Versumpfung» des «trockenen» Abendlands), mag eine sprachkritische Interpretation, wie Littell sie vorschlägt, greifen. Schon ein Bürokrat wie Adolf Eichmann allerdings – und mit ihm alle «Eichmänner», die das Funktionieren des Systems erst ermöglichten, derweil sie sich an ihren Schreibtischen um Trockenes und Feuchtes wenig kümmerten – fällt durch die Raster einer solchen rein metaphorologisch-psychologisch verfahrenden Faschismus-Lektüre hindurch.

Max Aues Urbild?
Littell hat seinen Essay über Degrelles Sprache im Zuge seiner Dokumentation für die «Wohlgesinnten» schon im Jahre 2002 geschrieben. Wenn er ihn jetzt an die Öffentlichkeit bringt, darf man darin eher einen Materialienband zu seinem Roman sehen als einen eigenen Beitrag zur Geschichte oder Psychogenese des Faschismus oder Nationalsozialismus. In den «Wohlgesinnten» wird Degrelle nur kurz erwähnt. Aber offenbar hat er zur Konzeption des Max Aue einiges beigetragen. Nicht aber zu dessen Homosexualität. Hier überrascht uns Littell übrigens mit einer seltsam kruden Vorstellung, die auf direktem Wege dem Offizierskasino abgelauscht scheint: Zur Menschwerdung, zur Öffnung des Panzers, habe dem Faschisten Degrelle nämlich gefehlt, es einmal «ordentlich von hinten besorgt zu bekommen». (Im Original hört sich's noch schlimmer an.) Daran fehlt es Dr. Max Aue nun wahrlich nicht. Ob er darob menschlicher erscheint, sei dahingestellt. Sicher aber ist, dass auch Jonathan Littell sich bestens in Männerphantasien zurechtfindet.

Jürgen Ritte

Jonathan Littell: Le sec et l'humide, Postface de Klaus Theweleit. Gallimard, Paris 2008. 142 S., € 15.50.