Martin Krumbholz
«
Romanisten. Dialogblitze. Links-rechts. Der Pudding gut. Schnaps. Rechts-links.
[. . .] Die 1. Erektion, in die Hand, das Lied, Pfänderspiel und mein
Schwänzchen brennt. Abknutschen. Ich hielt mich zurück, dann wurde
ich böse, hätte gleich allen das Fleisch in die Fresse geschmissen,
ich servierte und frass allein in der Küche, das dürfe ich nicht,
Ketchup sei primitiv. Die Paare gingen, zurück blieben die Unbefickten,
müde, schal, am Ende noch der Nachklang vom Hauptthema Altersversorgung.
Wo bin ich? Altersversorgung? Ich schaff nicht mal den Tag heute, die Nacht,
muss mich um meinen eigenen Schwanz bescheissen.»
Man merkt schon: Die hohe Schule sublimer Rhetorik ist das nicht; warum auch,
es handelt sich ja um ein Tagebuch, notiert sind die Sätze am 9. 12.
77 unter der Überschrift «Das Totenessen». Nach den ersten
beiden Schleefschen Tagebuchbänden war bereits klar, dass hier ein Berserker,
ein genialer Selbsthasser, ausgestattet mit einem fulminanten Gedächtnis,
buchstäblich Schritt für Schritt sein eigenes Leben protokolliert;
nicht lückenlos (es gibt durchaus Chronologie-Sprünge), aber akribisch
im Erfassen minimaler Impulse und Bewusstseinsreflexe, Triebregungen, Kränkungen,
Demütigungen, angeödet vom bürokratischen Gleichschritt der
Durchschnittsmenge Mensch um sich herum («Altersversorgung»),
dabei masslos ehrgeizig, erfolgsgeil, überhaupt geil natürlich:
ein Dreiunddreissigjähriger inzwischen, der sich zu seinem eigenen Coach
macht, sich mit sozusagen ins eigene Ohr gebrüllten Befehlen permanent
aufputscht (nicht umsonst ist «Droge» ein Schlüsselwort
im Schleef-Kosmos), sich fit macht für den Künstleralltag als ein
Entwurzelter, ein herzlich unpolitischer DDR-Dissident; eingebettet das alles
in das Lamento furioso eines heftig Sprechgehemmten, dabei Sprachbegabten,
Hunderte, vermutlich Tausende von Seiten lang. Tagebuch als pausenlos zischendes
Affektventil.
Suhrkamp und Burgtheater
Dass Schleefs (Theater-)Kunst viele abstossen musste, zu Lebzeiten des Autors
wie auch danach, ergibt sich daraus fast von selbst. Auch dass ihn selbst
das nicht kümmern konnte. Einer wie er wird seine Ausdrucksmittel niemals
filtern, seine offenbar masslosen Anstrengungen zielen auf Durchsetzung,
nicht auf Anpassung. Zurückgelassen in der DDR hat er weniger ein System
als eine Person, Gertrud, sein Muttertier. Aus ihr wird ein ebenso massloses
episches Werk, «Gertrud». Schleef berichtet von einem Treffen
mit der Lektorin Elisabeth Borchers in Frankfurt: «wieder in einem
Lokal, diesmal nobelst, sie isst einen Fisch, der über den Tellerrand
reicht, ich wenig, ich erkläre ihr die Seite 304. [. . .] Im Verlag
berichtet sie von einem verrückten Autor, der ihr seine Seite 304 überzeugend
vermittelt habe, das ist mein Einstieg bei Suhrkamp.»
Der Einstieg bei Suhrkamp: Das ist, ebenso wie später das Début
am Burgtheater, der Triumph für einen gefühlten Underdog, der seine
Ziele gar nicht erhaben genug formulieren kann. Aber: Kreide frisst er nicht.
Das «Friss oder stirb» gilt für die anderen, für die «nobelsten» Repräsentanten
des West-Systems, die Herren Unseld oder Golo Mann. «Lieber Herr Schleef»,
schreibt dieser am 11. 1. 79. «Ich habe mich entschliessen müssen,
Ihre Sache in der Ponto-Stiftung nicht weiter zu betreiben. Ihr Roman zeigt
für mein Gefühl eine starke und originelle Begabung, wie auch grosse
Redlichkeit [. . .]. Aber für die Jürgen-Ponto-Stiftung, so wie
sie nun einmal ist, ist es wirklich nichts. Und dies keineswegs aus Gründen.
Sondern rein aus ästhetischen. [. . .] Wir wollen kein Stipendium geben
auf Grund eines Manuskriptes, das dem ermordeten Jürgen Ponto widerwärtig
gewesen wäre. Und genau das trifft bei Ihrem Manuskript zu.» Golo
Mann räsoniert dann noch darüber, ob «starker Naturalismus» «Gegenstand
der Kunst» sein dürfe oder nicht. «Schiller hätte die
Frage verneint, sogar Sartre hätte sie in diesem Fall vielleicht noch
verneint»; dessen Lebensgefährtin (die Beauvoir) hätte sie
dagegen bejaht, «und Zola würde sie bejahen, wenn er heute lebte».
Sand im Getriebe
Also: unentschieden. Aber dennoch, Tendenz: ablehnend. Golo Mann, der erklärtermassen
froh darüber ist, «kein Literaturkritiker» zu sein, hat
mit diesen Bemerkungen im Grunde den ganzen Einar Schleef definitiv rezensiert.
Zu starker Naturalismus, keine politischen Bedenken, aber ästhetische,
und festgehalten aus Gründen und im Namen der Pietät: Was einem
Märtyrer des freiheitlich-demokratischen Systems wie dem Bankier Jürgen
Ponto zuwider gewesen wäre, kann ein rechtschaffener Bürger und
Vertreter des «common sense» nicht gutheissen. Es spricht für
den liberalen Geist eines Golo Mann, dass er sich überhaupt ernsthaft
mit Schleefs Werk auseinandersetzt; zugleich wird aber deutlich, dass ein
solches Werk niemals in die Mitte der bürgerlichen Gesellschaft gelangen
kann, es wird immer Sand im Getriebe bleiben. – Unter der Überschrift «Begegnung
Zürich» notiert Schleef im März 77: «3 Tage zurück.
Schweiz. Frieden. Am Bahnhof sieht es aus wie Halle an der Saale. Ein Potpourri
von DDR-Provinzstädten. An jeder Ecke, das kenne ich doch.» Und
dann eine Begegnung mit dem Ehepaar Bondy, «Paris, USA». «Für
sie ist ihr Sohn [Luc] der Grösste, wie für Mutter, die mit meinen
Zeugnissen zum Fleischer ging, sie auf den Ladentisch legte: Tach Frau Kraft,
das ist unser Junge, 13 Einsen! Meine 5 in Betragen und meine Disziplinstrafen
gab es nicht, sie zählte Einsen und im nächsten Jahr waren es 14.
Vierzehn Frau Kraft!»Einar Schleef: Tagebuch 1977–1980. Wien,
Frankfurt am Main, Westberlin. Herausgegeben von Winfried Menninghaus, Sandra
Janssen und Johannes Windrich. Mit Abbildungen. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt
am Main 2007. 473 S., Fr. 49.70.
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