uf das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe (Bild: AP Archiv)
Die Grundlage jeder Freiheit
Mit dem "Lüth-Urteil" stärkte das Bundesverfassungsgericht 1958 die Meinungsfreiheit
Von Horst Meier
Das Bundesverfassungsgericht fällte vor 50 Jahren ein bedeutendes Grundsatzurteil, das die Redefreiheit als "Grundlage jeder Freiheit überhaupt" ausdrücklich stärkte. Hintergrund war eine Klage des NS-Regisseurs Veit Harlan gegen einen Boykottaufruf des Journalisten Erich Lüth im Jahr 1950, die Lüth zum Anlass nahm, in Karlsruhe für seine Meinungsfreiheit zu kämpfen. Bis zum Urteil sollte es acht Jahre dauern.
Erich Lüth: Das moralische Ansehen Deutschlands in der Welt darf aber nicht von robusten Geldverdienern erneut ruiniert werden. Denn Harlans Wiederauftreten muss kaum vernarbte Wunden wieder aufreißen und abklingendes Misstrauen zum Schaden des deutschen Wiederaufbaus furchtbar erneuern.
Erich Lüth, Pressechef der Freien und Hansestadt Hamburg, rief im Oktober 1950 dazu auf, einen neuen Film des Regisseurs Veit Harlan zu boykottieren. Harlan hatte unter dem Naziregime Karriere gemacht und zeichnete verantwortlich für den Spielfilm "Jud Süß", der 1940 in die Kinos kam und zwanzig Millionen Zuschauer anzog.
Ein antisemitischer Film, wie wir ihn uns nur wünschen können,
notierte Goebbels in seinem Tagebuch.
Lüth: Es ist aus allen diesen Gründen nicht nur das Recht anständiger Deutscher, sondern sogar ihre Pflicht, sich im Kampf gegen diesen unwürdigen Repräsentanten des deutschen Films über den Protest hinaus auch zum Boykott bereitzuhalten.
Dass Harlan ohne jede Selbstkritik an seine frühere Popularität anknüpfte, reizte den streitbaren Journalisten Lüth:
Was die Angriffslust anlangt, so bin ich im Grunde doch wohl mehr schüchtern und ängstlich. Aber ich protestiere manchmal. Und wenn ich protestiere, wird immer dann ein großer Eklat daraus.
Harlan verklagte Lüth. Dieser müsse, urteilten die Hamburger Gerichte, seinen "sittenwidrigen" und geschäftsschädigenden Boykottaufruf unterlassen. Zivilrechtlich, nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900, ging es um das Recht auf die ungestörte Ausübung von Beruf und Gewerbe. Doch verfassungsrechtlich, nach dem Grundgesetz von 1949, ging es um die Frage, welche Bedeutung die Grundrechte bei der Anwendung des sogenannten einfachen Rechts haben. Also ging Lüth den damals noch ungewöhnlichen Weg nach Karlsruhe. Und fand in Adolf Arndt, dem Kronjuristen der SPD, den richtigen Mann für seine Sache. Doch seine Verfassungsbeschwerde blieb jahrelang liegen: Der Erste Senat war heillos überlastet.
Das war die härteste Erfahrung in meinem Leben.
Ich wurde in allen Instanzen verurteilt. Und dann nach sieben Jahren, nach dem alle Leute mir schon den Rücken gekehrt hatte(n), erhielt ich vor dem Bundesverfassungsgericht ein obsiegendes Urteil.
Die Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat; in (ihnen) verkörpert sich aber auch eine [...] verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts. [...] Der Zivilrichter kann durch sein Urteil Grundrechte verletzen, wenn er (ihre Ausstrahlung auf das Zivilrecht) verkennt.
heißt es in den Leitsätzen des Lüth-Urteils:
Die "allgemeinen Gesetze" (welche die Meinungsfreiheit beschränken können - etwa solche des Zivilrechts) müssen im Lichte der besonderen Bedeutung des Grundrechts [...] ausgelegt werden. (Ein Boykottaufruf) kann bei Abwägung aller Umstände des Falles [...] gerechtfertigt sein.
Ein epochales Urteil mit praktisch weitreichenden Folgen. Seitdem muss sich jede richterliche Interpretation des Gesetzes, also jedes Urteil, an den Bürgerrechten messen lassen. Der Meinungsfreiheit gebührt dabei ein besonderer Rang, so die Richter:
Für eine Demokratie ist das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung "schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist."
Und mit Blick auf den Supreme Court der USA setzen die deutschen Verfassungsrichter hinzu:
(Die Redefreiheit) ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt.
Erich Lüth, dem ein Stein vom Herzen fiel, begegnete nach der Verkündung des Karlsruher Urteils einem hohen Hamburger Richter:
Und der ging nun mit offenen Armen auf mich zu und packte mich an den Schultern und sagte: "Nun wissen wir wenigstens, wie wir in Zukunft uns verhalten sollen in solchen Prozessen!" Und da hab ich zu ihm gesagt: "Also, tut mir leid, aber das hab ich von Anfang an gewusst!"
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Martin Krumbholz
« Romanisten. Dialogblitze. Links-rechts. Der Pudding gut. Schnaps. Rechts-links. [. . .] Die 1. Erektion, in die Hand, das Lied, Pfänderspiel und mein Schwänzchen brennt. Abknutschen. Ich hielt mich zurück, dann wurde ich böse, hätte gleich allen das Fleisch in die Fresse geschmissen, ich servierte und frass allein in der Küche, das dürfe ich nicht, Ketchup sei primitiv. Die Paare gingen, zurück blieben die Unbefickten, müde, schal, am Ende noch der Nachklang vom Hauptthema Altersversorgung. Wo bin ich? Altersversorgung? Ich schaff nicht mal den Tag heute, die Nacht, muss mich um meinen eigenen Schwanz bescheissen.»
Man merkt schon: Die hohe Schule sublimer Rhetorik ist das nicht; warum auch, es handelt sich ja um ein Tagebuch, notiert sind die Sätze am 9. 12. 77 unter der Überschrift «Das Totenessen». Nach den ersten beiden Schleefschen Tagebuchbänden war bereits klar, dass hier ein Berserker, ein genialer Selbsthasser, ausgestattet mit einem fulminanten Gedächtnis, buchstäblich Schritt für Schritt sein eigenes Leben protokolliert; nicht lückenlos (es gibt durchaus Chronologie-Sprünge), aber akribisch im Erfassen minimaler Impulse und Bewusstseinsreflexe, Triebregungen, Kränkungen, Demütigungen, angeödet vom bürokratischen Gleichschritt der Durchschnittsmenge Mensch um sich herum («Altersversorgung»), dabei masslos ehrgeizig, erfolgsgeil, überhaupt geil natürlich: ein Dreiunddreissigjähriger inzwischen, der sich zu seinem eigenen Coach macht, sich mit sozusagen ins eigene Ohr gebrüllten Befehlen permanent aufputscht (nicht umsonst ist «Droge» ein Schlüsselwort im Schleef-Kosmos), sich fit macht für den Künstleralltag als ein Entwurzelter, ein herzlich unpolitischer DDR-Dissident; eingebettet das alles in das Lamento furioso eines heftig Sprechgehemmten, dabei Sprachbegabten, Hunderte, vermutlich Tausende von Seiten lang. Tagebuch als pausenlos zischendes Affektventil.
Suhrkamp und Burgtheater
Dass Schleefs (Theater-)Kunst viele abstossen musste, zu Lebzeiten des Autors wie auch danach, ergibt sich daraus fast von selbst. Auch dass ihn selbst das nicht kümmern konnte. Einer wie er wird seine Ausdrucksmittel niemals filtern, seine offenbar masslosen Anstrengungen zielen auf Durchsetzung, nicht auf Anpassung. Zurückgelassen in der DDR hat er weniger ein System als eine Person, Gertrud, sein Muttertier. Aus ihr wird ein ebenso massloses episches Werk, «Gertrud». Schleef berichtet von einem Treffen mit der Lektorin Elisabeth Borchers in Frankfurt: «wieder in einem Lokal, diesmal nobelst, sie isst einen Fisch, der über den Tellerrand reicht, ich wenig, ich erkläre ihr die Seite 304. [. . .] Im Verlag berichtet sie von einem verrückten Autor, der ihr seine Seite 304 überzeugend vermittelt habe, das ist mein Einstieg bei Suhrkamp.»
Der Einstieg bei Suhrkamp: Das ist, ebenso wie später das Début am Burgtheater, der Triumph für einen gefühlten Underdog, der seine Ziele gar nicht erhaben genug formulieren kann. Aber: Kreide frisst er nicht. Das «Friss oder stirb» gilt für die anderen, für die «nobelsten» Repräsentanten des West-Systems, die Herren Unseld oder Golo Mann. «Lieber Herr Schleef», schreibt dieser am 11. 1. 79. «Ich habe mich entschliessen müssen, Ihre Sache in der Ponto-Stiftung nicht weiter zu betreiben. Ihr Roman zeigt für mein Gefühl eine starke und originelle Begabung, wie auch grosse Redlichkeit [. . .]. Aber für die Jürgen-Ponto-Stiftung, so wie sie nun einmal ist, ist es wirklich nichts. Und dies keineswegs aus Gründen. Sondern rein aus ästhetischen. [. . .] Wir wollen kein Stipendium geben auf Grund eines Manuskriptes, das dem ermordeten Jürgen Ponto widerwärtig gewesen wäre. Und genau das trifft bei Ihrem Manuskript zu.» Golo Mann räsoniert dann noch darüber, ob «starker Naturalismus» «Gegenstand der Kunst» sein dürfe oder nicht. «Schiller hätte die Frage verneint, sogar Sartre hätte sie in diesem Fall vielleicht noch verneint»; dessen Lebensgefährtin (die Beauvoir) hätte sie dagegen bejaht, «und Zola würde sie bejahen, wenn er heute lebte».
Sand im Getriebe
Also: unentschieden. Aber dennoch, Tendenz: ablehnend. Golo Mann, der erklärtermassen froh darüber ist, «kein Literaturkritiker» zu sein, hat mit diesen Bemerkungen im Grunde den ganzen Einar Schleef definitiv rezensiert. Zu starker Naturalismus, keine politischen Bedenken, aber ästhetische, und festgehalten aus Gründen und im Namen der Pietät: Was einem Märtyrer des freiheitlich-demokratischen Systems wie dem Bankier Jürgen Ponto zuwider gewesen wäre, kann ein rechtschaffener Bürger und Vertreter des «common sense» nicht gutheissen. Es spricht für den liberalen Geist eines Golo Mann, dass er sich überhaupt ernsthaft mit Schleefs Werk auseinandersetzt; zugleich wird aber deutlich, dass ein solches Werk niemals in die Mitte der bürgerlichen Gesellschaft gelangen kann, es wird immer Sand im Getriebe bleiben. – Unter der Überschrift «Begegnung Zürich» notiert Schleef im März 77: «3 Tage zurück. Schweiz. Frieden. Am Bahnhof sieht es aus wie Halle an der Saale. Ein Potpourri von DDR-Provinzstädten. An jeder Ecke, das kenne ich doch.» Und dann eine Begegnung mit dem Ehepaar Bondy, «Paris, USA». «Für sie ist ihr Sohn [Luc] der Grösste, wie für Mutter, die mit meinen Zeugnissen zum Fleischer ging, sie auf den Ladentisch legte: Tach Frau Kraft, das ist unser Junge, 13 Einsen! Meine 5 in Betragen und meine Disziplinstrafen gab es nicht, sie zählte Einsen und im nächsten Jahr waren es 14. Vierzehn Frau Kraft!»Einar Schleef: Tagebuch 1977–1980. Wien, Frankfurt am Main, Westberlin. Herausgegeben von Winfried Menninghaus, Sandra Janssen und Johannes Windrich. Mit Abbildungen. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2007. 473 S., Fr. 49.70.

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