Literatur: Spiel mit der eigenen Biografie
Über das "Nike-Kappen-Prinzip" oder das Ende des "literarischen Zeitalters". Die Autoren ziehen gegen das Feuilleton los. Notwehr oder Heuchelei?

Erst im letzten Jahrhundert beginnen die Schriftsteller, ihr eigenes Leben so ernst zu nehmen, dass sie darüber schreiben. Noch im 19. Jahrhundert hätte ein Autor sein Dasein für belanglos gehalten, er saß die meiste Zeit am Schreibtisch. Spätestens ab 1945 beginnen die Selbstbefragungen, Selbstschilderungen, auch die Selbstanklagen: Max Frisch ging damit im deutschen Sprachraum voran. Lars Gustafsson schrieb einen Roman mit dem Titel Herr Gustafsson persönlich. Der Amerikaner Philip Roth hat eine ganze Karriere auf Schriftstellerfiguren wie Nathan Zuckerman aufgebaut.
Was bei all den Schilderungen der "Seelenerschütterungen" in dieser intimistischen Literatur, bei all dem Spiel mit der eigenen Biografie, auch bei der Verulkung intellektueller "Stadtneurotiker" , bisher noch kaum angezweifelt wurde, ist das Schreiben als solches: der Sinn sprachlicher Welterfassung und Weltneuschöpfung. Selbst in Hollywoodfilmen sitzt der Schriftsteller bei Gelegenheit am Computer, und er wird dort gewiss doch Bedeutendes schreiben.

Neuerdings muss man sich aber fragen: Folgt nach der Analyse des Dichters durch den Dichter nun dessen Selbstdemontage? Oder ist es eine Gegenwehr? Wen persifliert Handke, durchaus selbstzerstörerisch, wenn er in einer Fernsehsendung sein Werk als "meine Scheißbücher" bezeichnet? Was bedeutet es, dass Wilhelm Genazinos Figuren – Intellektuelle – sich ständig nach ihrer "Lebenserlaubnis" fragen? Welche Kapitulation – und gegenüber wem oder was – geht solchen Selbstverunglimpfungen oder aber ironischen Übernahmen eines "Common Sense" der Marktgesellschaft ("Scheißbücher" ) voraus?

Die Kapitulation des Intellektuellen und das befürchtete Erlöschen seiner Individualität sind das Thema. Botho Strauß lässt eine Figur in Die Unbeholfenen (2007) über das World Wide Web sagen: "Zu dessen Überlegenheit zählt (...) die soziale oder auch Schwarm-Intelligenz. Dabei handelt es sich allem Anschein nach um ein evolutionäres Produkt, das innerhalb der Informationskultur einen geistigen Überlebensvorteil gegenüber dem entfalteten Bewusstsein eines einzelnen Menschen besitzt." Strauß’ Intellektuelle, die "Unbeholfenen" eben, konstatieren das Ende der "subjektiven Unmittelbarkeit" , die einst lebens- und geschichtsdeutend war.

Geschichte ereignet sich, doch an die Stelle "des historischen Sensoriums ist weitgehend die mediale Öffentlichkeit getreten" . Und diese sei "eine mittelnde und mäßigende Instanz, die jedes Ereignis der Seele entschärft und dem Gehabten eingliedert" (Strauß). Das Gehabte ist natürlich das, was wir auf den ersten Blick erkennen. Das Gehabte ist "real life" .

In einem Feuilleton kann das folgendermaßen aussehen: Wir lesen eine ganze Seite über das Leben eines Autors – Flucht aus dem Osten, tragischer Unfall, Marotten wie das Tragen einer Nike-Kappe. Wir lesen, in welchem Café, mit welcher Feder und unter Zuhilfenahme welcher Getränke er schreibt. Unten links, in einem sogenannten Kasten, der etwas modifizierte Pressetext über den soeben erschienenen Roman des Autors. Es folgt ein Hinweis: Der Autor tritt – mit Nike-Kappe! – heute Abend im Literaturclub Soundso auf.

Ich wette: Dieser Autor empfindet diese Präsentation als entwürdigend. Ohne sein aufregendes Leben und seine Schrullen, keine Erwähnung des Romans. Ohne Lesung, kein Artikel – da kein "Ereignis" vorhanden ist. Der Roman selbst, an dem der arme Schreiber fünf Jahre lang gearbeitet hat, ist kein Ereignis, denn Romane gibt es viele – die Zeitschriften vergeben längst schon Sternchen dafür. Ich wette auch: Dieser Autor wird sich kaum beschweren ("Was will der eigentlich, wir haben ihm eine ganze Seite gegeben, mit Foto!" ), ich täte es an seiner Stelle auch nicht. Die Spielregeln bestimmen nicht die Schriftsteller.

Worüber beklagen sie sich?

Einige können es sich aber leisten, zu rebellieren. Sie akzeptieren das Verdikt der "medialen Öffentlichkeit" nicht. Darum dreht sich beinahe ausschließlich Philip Roths letzter Roman Exit Ghost. Da will ein Literaturwissenschafter das Werk eines großen, vergessenen Autors wieder ins Zentrum der Öffentlichkeit rücken. Er macht das genau nach dem "Nike-Kappen-Prinzip" , nur weiß er: Für eine aufsehenerregende Biografie braucht es mehr als Marotten. Der von Roth sarkastisch porträtierte junge Mann will einen Inzest des Autors mit seiner Schwester offenbaren. Nicht nur das: Er will das ganze Werk des Autors im Lichte dieses Inzests deuten.

Darüber ist die Witwe des großen Vergessenen natürlich entsetzt. Sie schreibt einen langen Brief an die Times, in dem sie den Kulturjournalismus der Zeitung als "Boulevardgeschwätz" kritisiert: "Wie heißt der Prominente, was macht den Skandal aus? Welcher Vergehen hat sich der Schriftsteller schuldig gemacht, und zwar nicht im Hinblick auf die Anforderungen literarischer Ästhetik, sondern im Hinblick auf seine Tochter, seinen Sohn, seine Mutter, seinen Vater, seine Partnerin, sein Haustier?" Kurz vor dem Tod habe der große Vergessene seiner Frau gesagt: "Wir Menschen, die lesen und schreiben, sind am Ende – wir sind Geister, die das Ende des Zeitalters der Literatur erleben."

Peter Handke trifft, allerdings anhand der Sprache, in seiner Erzählung Die morawische Nacht, ganz ähnliche Feststellungen: "Die Seele loszusein: keine Probleme mehr. Vor allem keine Sprach- und Schreibprobleme. Arrangieren, das heißt: Die Sätze für gleich welchen Sachverhalt (...) stehen von vornherein zur Verfügung." Die Journalisten seien "inzwischen die Alleininhaber der Worte und Sätze" und würden "damit die Zeitungen gleichwie die Bücher" füllen. Nun, Handke tritt den Gegenbeweis an, und natürlich auch Philip Roth und Botho Strauß. Worüber beklagen sie oder ihre Figuren sich also?

Der Salzburger Schriftsteller Gerhard Amanshauser war überzeugt: Die Kunst kann nicht gedeihen, wenn es kein soziales Umfeld dafür gibt. Eines mit ästhetischem Gefühl, mit Sinn für das Schöne und Verquere, für das Regelmäßige und Abweichende. Die Schriftsteller merken: Die "mediale Öffentlichkeit" hat für ihre Werke kaum mehr Verwendung, für ihre Person aber schon. Da befragt einer im Fernsehen Martin Walser zu seinem Roman Ein liebender Mann: Was werden Frau Radisch und alle die Feministinnen sagen? Ist der Roman eine Replik auf die Kritik an Ihnen als "altem Bock" ? Was war denn Ihre letzte große Liebe, Herr Walser? (Und Martin Walser lässt es sich schmunzelnd bieten, so ist der Betrieb eben ...)

Die Schriftstellerklagen über "das Ende des Zeitalters der Literatur" sind wohl nicht unberechtigt – selbst dann, wenn sie aus dem Munde von Autoren kommen, die wissen, wie man die Öffentlichkeit mit schockierenden Ansichten und "real life" füttert. Es geht hier um mehr, nämlich um das Verschwinden literarischer, sprachlicher, ästhetischer Sensibilität. Es geht auch – und vielleicht überhaupt – um das Ende der Kritik, der Auseinandersetzung mit und der Vermittlung von Werken. Natürlich betrifft das "nur" die mediale Öffentlichkeit, doch diese prägt – man vergisst das zu leicht – das ästhetische Empfinden der Zuschauer und Leser maßgeblich.

Jeder Schriftsteller leidet darunter und wird dadurch auch verführt: Die Provokationen werden deshalb immer bizarrer, nur dann finden sie den Weg an die Öffentlichkeit. Es mag den Verkauf fördern, aber fördert es auch die Lektüre? Und: Wie lese ich ein Buch, wenn der Text überblendet ist vom Bild "des Miloševiæ-Fans" oder "dessen, der sich in Klagenfurt die Stirn aufgeschlitzt hat" ?

Ich höre schon: Die Klage über die journalistische Oberflächlichkeit ist nicht neu. Stimmt: Doch hier hat sich etwas grundsätzlich verändert – aus welchen angeblichen Marktgründen auch immer – im Verhältnis der Redakteure und Nicht-mehr-Kritiker zum Buch, zum Text, zur Literatur – und zum Publikum: Diesem traut man offenbar nicht einmal mehr im Feuilleton genügend Aufmerksamkeit und Konzentration zu, einen Text, der von einem Text handelt, zu lesen. Das Gehabte muss her in Form von Personalia und Indiskretionalia. Kulturredakteure sind zu People-Redakteuren geworden.

Man lese deshalb, zum Beispiel, die Kritik von Marcel Reich-Ranicki über Martin Walsers Ein fliehendes Pferd. Da wird gerichtet, aber begründet. Da wird gelobt, subjektiv, meinetwegen, aber auch dies mit Begründung. Man kann es sich kaum vorstellen, aber dieses Vorgehen war einmal Mode! Gefragt wurde nach der Umsetzung.

Und nicht: "Herr Walser, sind Sie selbst Yachtsegler? Haben Sie selbst einen Todfeind aus der Schulzeit, den Sie umbringen möchten? Trinken Sie, wie Ihr Held, das erste Glas Wein erst um fünf Uhr abends? Und, last, but not least: Tragen Sie diese Nike-Kappe eigentlich immer?" (Dante Andrea Franzetti, ALBUM/DER STANDARD, 12.07/13.07.2008)

Zitate aus: Botho Strauß, Die Unbeholfenen. Hanser, München, 2007 - Peter Handke, Die morawische Nacht. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2008 - Philip Roth, Exit Ghost. Hanser, München, 2008

Zur Person:
Dante Andrea Franzetti, Jahrgang 1959, lebt als Schriftsteller in Rom und Zürich. Zuletzt erschien von ihm im Haymon-Verlag "Passion. Journal für Liliane".