29. Januar 2007, Neue Zürcher Zeitung
Korallenriff im nährstoffarmen Meer
Ein Gespräch mit dem Autor, Filmemacher und Rechtsanwalt Alexander Kluge über die «Suhrkamp-Kultur»
Seit 35 Jahren publiziert Alexander Kluge bei Suhrkamp. Joachim Güntner sprach mit ihm über seine Stellung als Autor dort, das Besondere an diesem Verlag und die Macht der Bücher.
Sie haben mir einmal gesagt, eigentlich seien Sie im Suhrkamp-Verlag ja doch nur eine Randfigur.
Alexander Kluge: Das hat sich ein bisschen geändert. Seinerzeit dank Christoph Buchwald und jetzt, weil mich Wolfgang Kaussen als Lektor betreut. Dadurch ist doch so etwas wie Patriotismus in mir entstanden. Ich war aber früher eine Randerscheinung, weil meine Texte ja überhaupt nur in der von Günther Busch herausgegebenen «edition suhrkamp» vorkamen. Als Busch entlassen wurde, gehörte ich zu der Fronde - der auch Habermas angehörte -, die das nicht gut fand.
Aber Jürgen Habermas hat nicht wie Sie damals zum Verlag Zweitausendeins gewechselt.
Nein. Doch auch mich fing die Gravitation, die ein Verlag wie Suhrkamp hat, später wieder ein. Inzwischen fühle ich mich dem Verlag zugehörig. Mein Lektor ist einfach von einer philologischen Zuverlässigkeit, wie man sie andernorts nicht so leicht bekommt.
Erst durch Christoph Buchwald, der Ende 1997 von Luchterhand zu Suhrkamp kam, drei Jahre als möglicher Nachfolger des Verlegers Siegfried Unseld galt, dann aber gehen musste, sind Sie Autor im Hauptprogramm geworden. Es hat Jahrzehnte gebraucht.
Mein erstes Buch im Hardcover, «Chronik der Gefühle», kam dank Buchwald heraus. Im Jahr 2000 war das. Ganz ursprünglich war ich mal bei Goverts, dann bei Walter in Olten, dann bei Piper, schliesslich seit Ende der sechziger Jahre fast kontinuierlich bei Suhrkamp.
Beziehungspflege
Wie passt denn zu Ihrem Status als Nebenfigur, dass Siegfried Unseld Sie zusammen mit Hans Magnus Enzensberger, Jürgen Habermas, Adolf Muschg und Wolf Singer in den Stiftungsrat berief, der als ideologischer Garant für die Bewahrung der Suhrkamp-Kultur fungieren sollte?
Siegfried Unseld hat immer sehr kontinuierlich Beziehungen gepflegt. Ausgeguckt hatte er mich noch zu meiner Zeit in der Gruppe 47. Er hielt mich für weltläufig. Nicht, dass er meinte, ich genüge seinen literarischen Ansprüchen. Sondern, dass ich eine bestimmte Art Verstand besässe, mit Machtverhältnissen, Weltverhältnissen umzugehen. Das fand er eine für ihn interessante Mischung. Bei Adorno war das genauso. Der betrachtete meine literarischen Bemühungen als etwas, das ich auch ruhig unterlassen könnte. Aber als Hausjuristen des Instituts für Sozialforschung fand er mich erstklassig. Er hat mich eigentlich zu Fritz Lang geschickt zu Abgewöhnungszwecken.
Lang drehte damals «Der Tiger von Eschnapur», und Sie absolvierten ein Volontariat.
Ich sollte an einem besonders schrecklichen Beispiel lernen, dass Kunstproduktion in der Mitte des 20. Jahrhunderts das Überflüssigste überhaupt ist - wo es doch Proust schon gab. Adorno wollte mir mit Film die Literatur austreiben und vertraute darauf, dass ich beim Film, jedenfalls dem von Fritz Lang, gar nicht erst anbeissen würde. Da irrte er. Aber als Juristen fand er mich tauglich.
Warum lachen Sie?
Die halten das alle von sich aus nicht für Literatur, was ich mache. Eines dabei muss man mal beachten. Es gibt eine Tradition, die fängt in der Antike an, bei Ovid, und geht über das ganze Mittelalter, Hieronymus im Gehäuse, über jeden Mönch, der etwas abschreibt. Und diese Stellung des Autors beruht auf Beobachtung, nicht auf Ich-Erzählung. Ovid hat sich keineswegs versteckt. Er sagt durchaus bisweilen «ich». Wenn er in Rom Dichtung vortrug, waren dies fünf Prozent eigener Text - und dann ex tempore. Da, im Kommentar, darf der Dichter seinen Auftritt haben. Aber in dem geschriebenen Text soll er zurücktreten.
Das Muster gibt es ja auch bei Ihnen, man nehme nur Ihr kürzlich erschienenes Buch «Tür an Tür mit einem anderen Leben». Sie erzählen zunächst jeweils eine Art Fallgeschichte, als Chronist, aber oft bleibt es nicht dabei, und es folgt noch ein Dialog, wie vor dem Vorhang gesprochen, der eine Deutung anbietet. Indes wächst sich dieser Dialog, dessen rhetorische und suggestive Züge mich an den platonischen Sokrates erinnern, nie zu einer systematischen Theorie aus. Ich sage das, um auf Ihren verqueren Ort in der Suhrkamp-Kultur zurückzukommen. Deren Hochphase fällt ja zusammen mit einer Zeit, da Theorie in der Bundesrepublik einen hohen Kurswert hatte; Suhrkamp war der Hausverlag der kritischen Theorie. Es war die hohe Zeit des Argument-Kults. Der Autor Alexander Kluge aber trägt in seinen Büchern gar nicht so sehr Argumente vor . . .
. . . als vielmehr Geschichten, ja. Und da ist jetzt der Punkt. Theoretiker halten das nicht für Theorie, und Erzähler - ich denke an Peter Handke oder ein Gespräch, das ich mit Martin Walser hatte - würden mich nicht für besonders literarisch halten. Ich bin anti-belletristisch. Ich glaube nicht an Hochkunst. Sondern an eine relativ triviale Art des Erzählens. Wie Helge Schneider die Thekengespräche im Ruhrgebiet nachmacht, so ähnlich habe ich den Ton eines Thekengesprächs in Halberstadt im Ohr, wenn ich etwas schreibe. Ich habe allerdings gleichzeitig eine andere Disziplin, nämlich die von Tacitus, Ovid, Montaigne. Auch wieder Autoren, die nach dem Verstand des späten 20. Jahrhunderts nicht viel mit Literatur zu tun haben.
Wie Qualität entsteht
Hat Ihnen der Begriff «Suhrkamp-Kultur» einmal etwas bedeutet?
Nein. Aber das Netz der Autoren, die sich dort versammelt haben, hat mir sehr viel bedeutet. Es ist eine eigenartige Mischung, auf die ich im Grunde innerlich auch stolz bin.
Hat es die Suhrkamp-Kultur je gegeben?
Ich glaube, nein. Es ist eine Überschrift für sehr verschiedene, zum Teil unvereinbare Autoren. Wofür sie stände, wäre eine Generosität, die zulässt, dass Brecht, Adorno, Hesse zueinanderfinden. Die Verbindung von Unwahrscheinlichem. Hier kommt zusammen, was von selbst gar nicht zueinanderstreben würde. «Grand-Hotel Suhrkamp» - das würde ich unterschreiben.
Reizvoller Begriff. Er würde im «Grand-Hotel Abgrund» residieren, hat Georg Lukács Adorno vorgeworfen, also privilegiert leben, aber die Negativität der Welt schwarz zeichnen. Plump gesagt: auf dem Balkon des Hotels Waldhaus sitzen und dabei über Kulturindustrie und Verfall nachdenken. Aber wie die Gäste im «Waldhaus» werden sich die Autoren bei Suhrkamp wohl kaum fühlen.
Das alles meine ich überhaupt nicht. Nicht Abgrund oder Abgründigkeit, sondern die Vereinigung von Gegensätzen durch unterirdische Gravitation - eine Gravitation, die nicht definiert ist. Und dabei entsteht Qualität. Siegfried Unseld hatte dafür einen Sinn. Aber er vereinte seine heterogenen Autoren mehr so wie ein Hirte seine Herde. Ein Hirte schlachtet ja auch Schafe. Es ist nicht so, dass es auf eine gütige Weise geschieht. Aber er hielt das Ganze zusammen, ähnlich wie Hans Werner Richter die Gruppe 47. Gerade, weil Richter nicht selber Romane schrieb.
Er konnte Öffentlichkeit bauen.
So ein Öffentlichkeitsbauer ist auch Unseld.
Gewesen.
Präsens, nicht Vergangenheit: Er ist es, denn in diesem Sinne lebt er ja weiter.
Das Imperium besteht fort, obgleich der Kaiser tot ist.
So kann man das sagen. Und die ganzen Patrioten wagen nicht einmal, sich einen neuen Kaiser zu wünschen.
Die Patrioten im Verlag mag man ja verstehen. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Suhrkamps Interna - Entlassungen, abwandernde Autoren - die Öffentlichkeit interessieren wie bei sonst keinem Verlag?
Ich glaube, dass der Suhrkamp-Verlag eine bestimmte Auctoritas, eine Macht, ausübt. Macht gibt's ja durch Gewalt, doch durch Gewalt können Sie keine Verlage gründen. Sondern Autorität. Eben wie bei den römischen Kaisern. Manchmal stirbt so ein Kaiser, und der Nachfolger wird fürchterlich. Das gibt es ja alles. Trotzdem: Die Urbs, das Aggregat der gestapelten Äcker, das Rom darstellt - gehäufte Fruchtbarkeit und Bewirtschaftung in einem zusammengezogenen Raum -, bleibt interessant.
Suhrkamp-Mythos
Um Suhrkamp gibt es eine Aufregung, die es um den Verlagsriesen Random House nie geben würde. Ein Fingerzeig darauf, dass das Publikum eine Sehnsucht nach dem Intellektuellen hat? Oder ist es der Genuss, ausgerechnet diesen Verlag und seine dynastischen Delikatessen als Soap vorgeführt zu bekommen?
Grosse Tragödieninteressen, Theaterinteressen hat man ja, wenn Ambivalenzen bestehen. Auf der einen Seite findet man, die ganze Behauptung einer Suhrkamp-Kultur hat ein Stück Angabe - und gibt nicht einmal zu, dass es Werbung wäre. Also ein Stück Falschheit. Gleichzeitig aber spürt man eine Autorität. In nährstoffarmen Meeren findet sich das vielfältigste Leben auf Korallenriffen, und Suhrkamp ist schon eines der besten Korallenriffe, die wir haben.
Der Suhrkamp-Mythos steht auch für eine Phase eminenter Wirksamkeit von Büchern. Ist es damit vorbei?
Nein, überhaupt nicht.
Aber diese Klage, wo denn die grossen Bücher blieben, die noch Debatten auslösen könnten, hört man immer wieder. Jörg Friedrichs Buch über den Bombenkrieg, «Der Brand», war so eines. Aber keines aus dem Hause Suhrkamp. Es wäre dort auch nicht zu beheimaten gewesen.
Da bin ich nicht so sicher. Dass ein Autor zunächst einmal Feuerwehr, Polizeipräsidenten und Katastrophenschutzbeauftragte untersuchen will und plötzlich auf den ganzen Bombenangriff kommt und davon besessen wird, das ist so nah an W. G. Sebald - das könnte auch Suhrkamp sein. Nun ist Friedrich aber nicht bekannt mit jemandem aus dem Verlag. Dass etwa das Institut für Sozialforschung in Frankfurt mit Unseld persönliche Beziehungen hatte, dass Unseld in der Gruppe 47 wie ein Attraktor herumlief und Autoren an sich band - diese Relation fehlt hier.
Ein für Ihre Zusammenarbeit mit dem Soziologen Oskar Negt zentraler Begriff ist «Öffentlichkeit». Zur Klage über die vermeintliche oder wirkliche Unwirksamkeit von Büchern gehört die Erklärung, Bücher könnten keine grossen Debatten mehr entzünden, weil es die Öffentlichkeit im Kollektivsingular nicht mehr gibt. Sie sei kein grosser bürgerlicher Raum mehr, sondern habe sich aufgesplittert in eine Vielzahl von Foren.
Von dem Argument, der Pluralismus aus Öffentlichkeiten mache Debatten unmöglich, halte ich gar nichts. Das Internet übernimmt heute breite Funktionen des Buches. Das Internet ist so etwas wie ein neuer Gutenberg.
Darin liegt vielleicht aber der Tod des Buches.
Man muss doch sehen, was Bücher eigentlich sind. In der Antike, auf Papyri geschrieben, sind sie Briefe unter Reichen. Keine Massenbücher. Gleichzeitig können Bücher Kaiser stürzen. Sie sind mächtig.
Die Macht der Bücher
Sie übertreiben.
Ganz und gar nicht. Was meinen Sie, warum Autoren wie Seneca zum Selbstmord getrieben werden? Warum Longinus, der grosse Jurist, gestürzt wird? Warum Ulpian - ein grosser Schriftsteller, Jurist und Oberbefehlshaber der Prätorianer - und Papinian, sein Vorgänger, ermordet werden? Weil sie Briefe, Bücher, geschrieben haben. Labeo, der Begründer des römischen Rechts, hat vierhundert Bücher geschrieben. Das ist eine Waffe. Und ein Kaiser wird geachtet nicht nur, weil er die Provinzen verteidigt, sondern, weil er Rechtsgutachten macht, und das sind Bücher. Imperium, Auctoritas, Jus, Potestas - es gibt eine Vielzahl von Ausdrücken für Macht, die alle eine verschiedene Färbung haben, und das, was die stärkste Macht verleiht, ist das Jus respondendi in Rechtssachen. Und das geschieht a libellis: durch Bücher.
Dann andererseits das Alte Testament, das Buch, das ein Volk, das sich im Exodus befindet, über Jahrhunderte zusammenhält. Das ist die alte Macht der Bücher. Jetzt kommt Gutenberg und die Reformation. Mit ihr die Auflehnung, die Emanzipation von einer zentralen Ordnung. Das ist jetzt büchergesättigt. Die ganze bürgerliche Revolution besteht aus dem Kampf von Büchern. Und das ist Öffentlichkeit: dass ich mich äussere und darauf Antworten erhalte, dass ich meine intimen Erfahrungen selbstbewusst mit anderen austausche.
Im tiefen Raum des Internets
Sie haben gesagt, mit dem Internet komme ein neuer Gutenberg . . .
. . . weil wiederum jeder sich ausdrücken kann. Zwar zunächst unqualifiziert. Die ersten Druckschriften von Gutenberg sind furchtbaren Inhalts. Oder die Flugschriften im Bauernkrieg.
Sie raten also dem Suhrkamp-Verlag dringend, auf Online-Publikationen umzustellen?
Nein. Die erste Reihe publizistischer Online- Portale besteht aus Medien wie «Spiegel online» oder «NZZ online» usw. Dahinter die zweite Ebene, wo sich jeder äussern darf. Dann gibt es eine dritte Ebene, und da hört das Unqualifizierte auf. Stattdessen: Neuerfindung der Gründlichkeit und des Kommentars. Die Formen, die uns da begegnen, sind unakademisch geordnet, und die einzelnen Elemente können kurz sein, Filme von drei Minuten zum Beispiel. Die Komplexität wächst mit der Vernetzung. Wir können in der Tiefenebene des Internets die alten Gründlichkeiten wiederbeleben. Bis hin zu Thomas von Aquins Methode des Kommentars. Das Einzige, was wir nicht wiederbekommen, ist der Autor, der ruft «hier bin ich, ich verwandle alle Herbstblätter in eine traurige Stimmung».
Verlage jedoch, solange sie noch gedruckte Werke produzieren - was wird aus ihnen in einer Internetwelt?
Die Bücher bleiben.



gü. Alexander Kluge, geboren 1932 als Sohn eines Arztes in Halberstadt, studierte Rechtswissenschaft, Geschichte und Kirchenmusik. Er absolvierte ein Volontariat beim Filmregisseur Fritz Lang, ist Rechtsanwalt, Schriftsteller und ein leidenschaftlicher Vertreter des deutschen Autorenfilms. Als Filmemacher hat er sein Metier vom Kino ins Fernsehen verlagert und wirkt dort als Produzent von Kulturmagazinen. Sein erstes Buch im Suhrkamp- Verlag, «Öffentlichkeit und Erfahrung» (zusammen mit Oskar Negt), kam 1972 heraus; sein jüngstes, «Geschichten vom Kino», erscheint im Februar.



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