Von Alexander Kluge
Lieber Herr B.,Sie wollen auf zwei Seiten etwas über meine Bibliothek oder über mein Verhältnis zu Büchern wissen. Vermutlich versprechen Sie sich etwas anderes, als ich liefern kann.
Bücher gehören für mich lebenslänglich zu den Lebensmitteln. Aber das bedeutet nicht, dass sie sich zu einer «Bibliothek» zusammenfügen. In fast allen Räumen, die ich bewohne und in denen ich arbeite, liegen Stapel von Büchern. Sie werden nicht ordentlicher, wenn sie in Regalen, so wie sie vorher herumlagen, nebeneinander vertikal und horizontal aufgestellt werden. Aber sie bilden einen Zusammenhang, so wie sie daliegen oder in verblüffender Reihe nebeneinanderstehen. Ich finde sie rasch. Überhaupt nicht fände ich sie, wenn eine freundliche Hand sie ordnen würde.
Anzeige

?
Bücher haben einen Eigenwillen. Sie finden von sich aus zueinander. Das ist das Prinzip ihrer Haufen. Wenn einer sich die Mühe machen würde, könnte er aus der Lagerung der Bücher (ihrer geologischen Schichtung) einige abgeschlossene Projekte rekonstruieren, die mich beschäftigt haben. Das gilt nicht für alle Arbeitsphasen. So gibt es kein einziges Buch, das von meiner ersten Veröffentlichung, dem Erzählband «Lebensläufe», zeugt. Ich habe dieses Buch in Gerichtssälen, auf der Eisenbahn, in Cafés und während meiner Anwaltstätigkeit geschrieben. Da kann man keine Bücher mit sich führen. Ich brauche auch für meine Geschichten keine Unterlagen. Die Geschichten kommen aus der Spitze des Bleistifts, also aus dem Kopf oder aus dem Ohr.
Ganz anders bei Texten der Theorie. Sie fordern, dass man sich besondere Mühe gibt. Das gemeinsam mit meinem Freund Oskar Negt geschriebene Buch «Öffentlichkeit und Erfahrung» (ähnlich wie später «Geschichte und Eigensinn») hat eine breite Schicht von Büchern zusammengeführt. Sie sind so, wie sie bei der gemeinsamen Arbeit sich abgelagert haben, zusammengeblieben und haben auch mehrere Umzüge, in Kisten verpackt, als Gruppe überlebt.
Ich mag einen solchen historisch gewachsenen «Garten» nicht zerstören. Auch weil ich an die Zeit dieser intensiven Zusammenarbeit gern denke. Diese ungeordneten Bücher, die kein Zufall zusammenfügte, sind so etwas wie eine nach aussen gestülpte Erinnerung, die ich doch auch in meinem Kopf, ganz unabhängig von dem, was das gemeinsam geschriebene Buch enthält, mit mir trage.
Eine andere Gruppierung von scheinbarer Unordnung sind die Bilder. Ich verwahre sie, etwa auf das Jahr 1972 reicht die Tradition zurück, in grossen Wäschekörben. Diese Aufbewahrungsart habe ich eingeführt, weil gerade Bilder sich so rasch zerstreuen; auch weil sie Formate haben, die man sonst nur in Tüten, Kisten oder grossen Folien verwahren könnte. Solche Körbe lagern eine Zeitlang. Einige haben ihre Inhalte an Kisten abgegeben, die im Keller lagern. Dies alles bildet Jahrgänge. Es sind die Zeiten, in denen ich Filme gemacht habe oder Erzählbände wie «Unheimlichkeit der Zeit» vorbereitete; das geschieht oft durch eine Bildersammlung.
Für mich sind diese «Sammlungen» unverwechselbar, weil ich in den verschiedenen Zeiten keineswegs dieselben Bilder suche. Auch Korallenriffe, die man für gleich hält, sind überhaupt nie gleich. Die Suche nach Bildern wechselt mit den Stoffen, aber die Tatsache, dass ich Bilder wie Texte und Texte wie Bilder benutze, also eine persönliche Eigenheit, erweckt den Eindruck, dass ich über die Zeiten hin ähnliche Bilder verwende. Das ist so wenig der Fall wie bei W. G. Sebald. Der Nutzen dieser Körbe (die ich mit Fischteichen vergleichen könnte) zeigt sich, wenn grosse Büchermacher wie Franz Greno oder Martin Weinmann auftreten und aus den Sammlungen während des Umbruchs eines Buches die Bilder «querlesen».
Die Bücher, die ich am meisten verehre, besitze ich nicht selbst. Mit ihnen lebe ich. Bücher verbinden die Jahrhunderte. Das ist es, was ich an ihnen vertrauenswürdig finde. Kein anderes Medium vereinigt so vertrauenswürdig Autoren über 2000 Jahre wie das Buch. Es hat mich berührt, dass Heiner Müller, schon vom Krebs gezeichnet, in Kalifornien antiquarisch eine Ausgabe von Ovids «Metamorphosen» kaufte: in englischer Sprache und in Versen. Also ein eigenwilliges Abbild der Originaltexte des grossen Meisters. Davon hat er mir erzählt. Das Buch trug er bei sich, als er zur Intensivstation hinaufgebracht wurde, am Tag, an dem er starb. So verbindet mich mit Ovid eher ein mündliches und persönliches Verhältnis. Ich würde diesen Gefährten meiner Jetztzeit (der ebenso wie Heiner Müller für mich nicht tot ist) nicht in Buchform in ein Regal stellen.
?
Sie sehen, dass man meinen Umgang mit den geliebten Büchern nicht mit der Hegung einer Bibliothek vergleichen kann. In meinem Elternhaus standen die Bücher wohlgeordnet im sogenannten Herrenzimmer: dreibändig die Befreiungskriege, in Prachtausgabe, eine Shakespeare-Gesamtausgabe in rotem Saffian (von meiner Mutter in die Ehe eingebracht, von keinem der Elternteile je gelesen), viele Biografien, viele Romane. Griff man hinter die Buchrücken, fanden sich auch unanständige Texte. Das Zimmer war aber nicht für das Lesen, sondern für das Bridge-Spiel und für eine Herrenecke, d. h. eine abendliche Trinkrunde, spezialisiert. Diese gute Ordnung fand durch die Zerstörung des Hauses durch den Luftangriff am 8. April 1945 ein abschliessendes Ende. Ich habe sie in meinen Lebensverhältnissen nie wieder errichtet. Man muss die Menetekel und Zeichen der Zeit aufmerksam lesen. Sie sind endgültig. Auch sie sind Bücher. Sie haben nur nicht das Aussehen einer Bibliothek.
Mit sehr herzlichem Gruss
IhrAlexander Kluge
1. Dezember 2007, Neue Zürcher Zeitung
FQC2R

...ich habe 60 Jahre als Jude Filme gemacht.... und von seinen Feinden einen Preis bekommen-...

Das grosse Outing

G.Grass, dass er bei der SS war,
Biermann, dasss er im Bett der Partei gelegen, Godard, dass er 60 Jahre als Jude Filme gemacht. Könnte sagen, mich bekannt zu haben, der Sohn eines jener Gutsbesitzers aus der DDR zu sein, jener, die als Einzige nicht das Recht hatten, als Schuldige der Welt, ihre Sachen wiederzuerhalten(Restitution), die man ihnen als verantwortlich für Krieg und Hitler weggenommen, und der nun wiederkommt sich zu behaupten.


SP IEGEL ONLINE - 30. November 2007, 23:13
URL: http://www.spiegel.de/kultur/kino/0,1518,520770,00.html
EUROPÄISCHER FILMPREIS
Godard boykottiert Preisverleihung
Der Regisseur Jean-Luc Godard wird am Samstag für sein Lebenswerk geehrt - in Abwesenheit. Persönlich kommt er nicht zur Verleihung des Europäischen Filmpreises nach Berlin: "Ich sage gleichzeitig Danke und Nein, Danke".
Hamburg- Für den 76jährigen Regisseur ist es eine Form des Protestes gegen seine Ehrung, nicht zur Verleihung des 20. Europäischen Filmpreises zu kommen. "Wenn jemand sagt, ich habe ein Lebenswerk geschaffen, muss ich das hinnehmen", sagte Godard gegenüber SPIEGEL ONLINE und dem Fernsehsender arte. "Aber es ist meine Art der Kritik, nicht hinzugehen".
VIDEO


DPA
Interview mit Jean-Luc Godard
Der Regisseur im Gesp räch mit Olivier Bombarda und Julien Welter über den Filmpreis für sein Lebenswerk, seine Karriere und das europäische Kino.
Eine Kooperation von SPIEGEL ONLINE und Arte
In dem Interview sagte Godard, er sei in der Vergangenheit gelegentlich zu Preisverleihungen erschienen, damit "ein wenig über mich geredet wird und ich ein wenig Werbung habe". Manchmal aber, fügte er hinzu, "habe ich mich geschämt, dass ich das gemacht habe".
Zur Auszeichnung für sein Lebenswerk sagte der Regisseur, er habe nicht den Eindruck, eine Karriere gemacht zu haben. Auf Französisch bedeute das Wort auch Steinbruch, "und in diesem Sinne kann ich das akzeptieren".
Die Europäische Filmakademie will Godard morgen in Berlin für sein Lebenswerk auszeichnen. Er habe "als aktiver Filmschaffender, versierter Kenner und Kritiker der Filmkunst" seit über 50 Jahren großen Einfluss auf das europäische Kino genommen. Seit seinem ersten Spielfilm "Außer Atem" (1960), einem Meilenstein der Nouvelle Vague, habe er bis heute nicht aufgehört, "mit Leidenschaft Publikum und Kritiker zu überraschen, herauszufordern, zu erstaunen und zu unterhalten".
esp