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1. August 2007, 00:00 Uhr
Von Ulrich Weinzierl
Luk Percevals Salzburger Marathonproduktion "Molière" macht aus vier Dramen einen schlechten Unterleibswitz
Der Fluch des Onanisten
Leise rieselt der Schnee, still und starr und verrenkt liegen die Darsteller auf Lautsprecherboxen. Nur einer steht an der Rampe: ER in Großbuchstaben, also Molière. Es ist Thomas Thieme hinter dem Mikro. Dann ertönen Paukenschläge. Aber nein: Thieme schlägt sich bloß mit dem Mikro rhythmisch an den Kopf. So beginnt Luk Percevals als Marathonproduktion angekündigter "Molière. Eine Passion" auf der Halleiner Perner-Insel.
Je näher der Premierentermin rückte, desto kürzer wurde die Aufführung: Der Schwund der angedrohten sechs auf reale drei Stunden Spieldauer bedeutet lobenswerte Selbstbeschränkung. Dass die gefühlte Zeit erheblich länger währt, dürfte nicht zuletzt eine Folge des Theaterwetters sein: 180 Minuten ununterbrochener Plastikschneefall können ganz schön nerven. Diese Klimakatastrophe ist menschenverschuldet.
Völlig schuldlos an dem Abend: ein gewisser Jean-Baptiste Poquelin alias Molière - die Titelfigur als Opfer. Vermindert schuldfähig: das deutsch-türkisch-flämische Autorentrio Feridun Zaimoglu, Günter Senkel und der Regie führende Perceval, weil es sich um Serientäter handelt: Sie hatten bereits Shakespeares "Othello" und Wedekinds "Lulu" in der Münchener Kammerspielemangel. Den Salzburger Festspielbesuchern ist Perceval vor allem durch sein blutig überwürztes Shakespeare-Riesengulasch "Schlachten!" vertraut, bei den Wiener Festwochen gab's von ihm immerhin einen wundersamen "Onkel Wanja" zu sehen.
Das Rezept des Projektteams: Man nehme vier Molière-Dramen ("Der Menschenfeind", "Don Juan", "Tartuffe" und "Der Geizige") und mache daraus eines. Flugs wird aus den Einzelkomödien eine Gesamttragödie: die des Lebens des Dramatikers. Molièristen werden nicht entzückt sein. Auch die Definition des seltsamen Stückwerks als eine Art "Jedermann" (Salzburg verpflichtet) mag für geteilte Meinungen sorgen. Ohne Zweifel freilich sind die Zaimoglu-Senkelschen Reime eine scharfe Konkurrenz für Hofmannsthals Knittelverse. "Wer mit derselben Frau mehr als zehnmal pennt, / gehört, so sprechen die weisen Männer, zum Establishment." Eine harmlose Kostprobe aus einem Sprachschatz, der sich gewaschen hat, genauer betrachtet: eben nicht gewaschen hat. Ficken, Fotzen, Titten und "Liebesrotz" (für Sperma) sind hier gehobener Ton, jungfräuliches Schneeweiß deckt das Meiste gnädig zu. Und Überfülle des Ordinären schlägt bekanntlich fast schon wieder ins Keusche um, die Lust an der inflationären Zote verbraucht sich rasch. Was bleibt, ist Langeweile, ein ungebetener Dauergast der Aufführung.
Spannend ist allein die bange Überlegung, ob ER (Thieme) bis zum Schluss durchhält. Zu Recht gilt Thomas Thieme als Berserker unter den deutschen Schauspielern. In der Tat berserkert er sich auch auf der Perner-Insel durch Szenen und Text.
Er schont weder sich noch uns, verendet erst nach einer rekordverdächtigen Stretta. Da er in der Regel ziemlich entblößt auftritt, erinnert er wegen des am Schweiß haftenden Kunstschnees an einen gut gemästeten, schlecht gerupften Gänserich. Arg werden Thiemes Körperfunktionen strapaziert. Masturbieren auf der Bühne sollte im fortgeschrittenen Mimenalter unbedingt mit Schwerarbeiterzuschlag vergütet werden. Der Hamlet-Wunschspruch "O schmölze doch dies allzu feste Fleisch" wird, in Erfüllung gegangen, zum Fluch des Onanisten.
Dann hilft nicht einmal die etwas gefährliche Methode der Selbststrangulation mittels Mikrofonkabels. Thiemes Kopf läuft so rot an, dass das Einschreiten des Theaterarztes angebracht wäre. Auch das vergebliche Liebesrotzmüh': Nicht alle Wege führen eben immer zum Orgasmus. Zum Trost wird Thieme später mit dem verwöhnt, was Kenner "Natursekt" nennen. Der kommt naturgemäß - wir sind schließlich im Festival-Kunstbezirk - aus der Mineralwasserflasche. Evian? Vichy? Vittel? Eines der erregenderen Geheimnisse der Inszenierung. Doch an den bewährten Brauch, eine brennende Kerze vor dem Einführen in den Anus zu löschen, hält sich sogar Thiemes Tartuffe: Thomas Badings Monsieur Orgon weiß es ihm zu danken.
Der "Tartuffe"-Teil ist übrigens der einzige, der eine entfernte Ähnlichkeit mit Molières Original aufweist. Das grenzt an Tollkühnheit: 2006 zeigte Dimiter Gotscheff am selben Ort seinen "Tartuffe".
Jene und Percevals Version trennen ästhetische Welten, obwohl ans Können des Ensembles der Berliner Schaubühne hohe Anforderungen gestellt werden. Karin Neuhäuser trällert des Öfteren Melina Mercouris "Ich bin ein Mädchen aus Piräus", Stefan Stern ruft andauernd "Papa", auch Händchen haltende Zwillinge, Schwulis in hautengen Pullis, singen sich traulich eins. Die tapfere Patrycia Ziolkowska ist sexuell stark beschäftigt, der herzige Plüschhund auf Rädern darf schweigen. Als Leitmotiv seines "reimenden Terrorgeists", Percevals Molière sagt das selbst, dient der Satz "Liebe ist..." Ja was denn eigentlich? Bildete man die Quersumme der unzähligen präsentierten Varianten, müsste es heißen: Melde gehorsamst und mit Verlaub - Scheiße!
Termine: 1. bis 10. August; Karten: (0043) 662 8045 500