Berliner Zeitung, 22.1.07
Freiraum des Misslingens
Das "Ultraschall"-Festival fragt nach der Relevanz neuer Musik und
wird vom Publikum überflutet
Jan Brachmann
Harsch, wie grober Kies, schlug der Regen gegen die Fenster. Der Sturm trieb
am Sonnabend das Wasser um die Sophienkirche. Drinnen saß der tolle, verrückte,
fabelhafte Pianist Markus Hinterhäuser und spielte alle sechs Klaviersonaten
von Galina Ustwolskaja, ließ die Donnerkeile der fünften Sonate niederfahren,
die hartnäckig den Ton des herausmeißeln, einen Ton, der nach dem
Willen der Komponistin so stark angeschlagen werden soll, dass man den Knöchel
auf den Tasten hört. In der letzten Sonate stemmte Hinterhäuser dann
riesige Tontrauben mit dem gesamten rechten Unterarm aus der Tastatur. Ein Fleisch
zu werden mit dem Ton, den Käfig der Ästhetisierung zu durchschlagen,
darum geht es offenbar bei dieser Musik. Kurz und scharf sog Hinterhäuser
die Atemluft schon bei den Akzenten der ersten Sonate ein, als würden die
Töne schneidend in ihn fahren, Töne, die wie Klingen klangen.
Die Eremitin von Petersburg
Galina Ustwolskaja, 1919 geboren, ist am 22. Dezember 2006 in Sankt Petersburg
gestorben. Ihr Lehrer Dmitri Schostakowitsch bewunderte sie und gestand ihr in
einem Brief, unter ihrem Einfluss zu stehen. Ustwolskaja hingegen ließ sich
auf niemanden ein; wie eine Eremitin lebte sie in Petersburg, sprach Jahre, Jahrzehnte
lang kaum mit einem Menschen und entließ nur ihre Musik in die Welt. Über
diese Musik wollte sie nicht reden, keine Analysen dulden. Nur, dass sie in Kirchen
gespielt werde, wünschte sie sich. Und widerwillig gab sie zu, dass diese
Musik von religiösem Geist erfüllt sei. Wer altrussische Kirchengesänge
kennt, wird sich bei den parallel geführten Akkorden der zweiten und dritten
Sonate mit ihren Sekundreibungen an den ähnlich gebauten Zeilengesang, den
strotschnoje pjenije des 16. und 17. Jahrhunderts erinnert fühlen. Aber
selbst solche Bezüge wies Ustwolskaja energisch von sich. Auf jeden Fall
halten ihre Sonaten für Hörer und Spieler extreme klangkörperliche
Erfahrungen bereit, die - um einen Satz von Felix Mendelssohn Bartholdy über
Musik im allgemeinen aufzugreifen - nicht zu abstrakt, sondern zu konkret sind,
um sie in Worten auszudrücken.
Das großartige, bewunderungswürdige Konzert von Markus Hinterhäuser
war Teil des Auftaktwochenendes bei "Ultraschall", dem Festival für
neue Musik, das gemeinsam von Deutschlandradio Kultur und dem Kulturradio des
RBB veranstaltet wird und noch bis zum 28. Januar dauert. Rainer Pöllmann
und Margarethe Zander, die beiden künstlerischen Leiter des Festivals, hatten
vorab angekündigt, dass sich "die Frage nach der gesellschaftlichen
Relevanz von zeitgenössischer Musik wie ein roter Faden durch das gesamte
Programm" ziehen würde. Misst man Relevanz am Publikumszuspruch, dann
braucht man die Frage bei "Ultraschall" nicht mehr zu stellen.