Doch nicht ins Wasser gegangen? König Ludwig von Bayern. - Foto: akg
Von Deike Diening
6.12.2007 0:00 Uhr
Als der König, so sagt man, am Ende im seichten Wasser des Starnberger
Sees strampelte, hatte er einen Menschen auf dem Gewissen und den eigenen Tod
vor Augen. Aber wer, fragt sich die deutsche Öffentlichkeit, ist in dieser
Sache eigentlich der Irre? In diesem Fall, der seit über hundert Jahren
nicht zur Ruhe kommt? Zu dem immer noch neue Theorien sprießen?
König Ludwig II., heißt es in den Geschichtsbüchern, ist am
13. Juni 1886 an einer besonders flachen Stelle des Starnberger Sees ins Wasser
gegangen. Seinen Arzt, der ihn zuvor für irre erklärt hatte, ihn
jetzt aber am Selbstmord hindern wollte, habe er noch im Handgemenge umgebracht.
Doch die Häuser in Bayern schieben ihre Balkone unter den Dächern
hervor wie schmollende Unterlippen, und einmal im Jahr treffen sich in Berg
am See hunderte „Königstreue“ am Ort der Tat. Im Wasser das
Kreuz, Teak, immerhin, gemahnt an den unnatürlichen Tod. Aber dieses Bild
vom Königstod, das man quasi zusammen mit dem Holzkreuz in die seichte
Stelle des Sees gerammt hat, ist eine Fälschung.
Das sagt jedenfalls Siegfried Wichmann, dessen Haus auf einer Anhöhe auf
der gegenüberliegenden Seite des Starnberger Sees steht. Darin steht der
Professor für Kunstgeschichte und ist außer sich. Nicht, weil der
König, der das Schloss Neuschwanstein erbaute, ermordet wurde – darüber
hat er seit Jahren Gewissheit –, sondern weil man ihm nicht glaubt, seiner
Theorie keinen Respekt entgegenbringt. Ich, sagt Siegfried Wichmann aufgebracht,
ich werde wie ein Anfänger behandelt. Seine Empörung ist groß,
denn Wichmann ist sonst ein ernst genommener Experte, für Bilder im Allgemeinen
und die bayerischen des 19. Jahrhunderts im Besonderen.
Gerade hat Wichmann ein opulentes Buch im Selbstverlag herausgebracht, „Die
Tötung des Königs Ludwig II. von Bayern“, 75 Euro. Wenn ihm
ein Argument nicht stark genug erschien, hat er es unterstrichen. In dem Buch
steht, dass er, Wichmann, in seiner damaligen Funktion als Oberkonservator
der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen 1967 drei Bilder vorgelegt bekam.
Auf einem war das Gesicht des toten Königs zu sehen, und in seinem Mundwinkel
klebte Lungenblut. Das, sagt Wichmann, passiert bei Ertrinkenden nicht. Der
König muss also ermordet worden sein – erschossen.
Wichmann hat sich hinter seinen riesigen Schreibtisch gesetzt, er ist umgeben
von Büchern, Bildern und Büsten. Sie müssen jetzt als Ausweise
dienen für seine Glaubwürdigkeit, sind Zeugen eines ernsthaften Arbeitslebens,
viele der Bücher sind von ihm. Seitdem Wichmann sein Ludwig-Buch selbst
an Redaktionen geschickt hat, läutet ständig das weiße Telefon
mit den großen Tasten, und aufgeregte Stimmen winden sich ihm aus dem
Hörer entgegen und stellen ihn und seine Theorie infrage. Wenn es ihm
zu viel wird, dann macht er eine Kunstpause und sagt: Wissen Sie, ich bin 87.
Nach diesem unhintergehbaren Argument legt er erleichtert den Hörer auf
die Gabel und guckt einen durch seine eckige Brille an.
Ich, sagt Siegfried Wichmann, ich war an der Eismeerfront, und dann will Folgendes
aus ihm heraus: Er hatte als Soldat seinem Onkel, wohnhaft in Berlin Oranienstraße
144, Arzt, ein Päckchen Zigaretten geschickt. Dessen Hausmeister hat den
Onkel verraten, weshalb er, Wichmann, Neffe, verhaftet wurde. Der Vorwurf lautete:
einem Juden per Feldpost Zigaretten geschickt zu haben. Die Strafe: zur Kompanie
nach Russland. „Das kam einem Todesurteil gleich“, sagt Wichmann.
Und dort auf einem Feld vor Murmansk liegt eines Tages im Jahr 1941 mitsamt
dem sichtlich blutenden Siegfried Wichmann auch der unsichtbare Schlüssel
zu einer Ludwig-Mordtheorie, „denn sonst wäre ich vielleicht an
dem Bild vorbeigegangen“.
Das weiße Telefon klingelt wieder, aber Wichmann kann jetzt nicht. Wichmann
ist im Krieg.
Es war Sommer und warm, als in der linken Brusttasche sein Brillenblech zersprang,
ein Granatsplitter in seine Lunge eintrat und hinten wieder hinaus. Nicht sofort,
später erst, spürte er das Blut im Mund, da hatte er schon länger
auf der Trage gelegen, mit einem flachen Stein auf die Brust gebunden. Auf
der Trage schleppten sie ihn durch das Gefecht zur Verbandsstation, und wenn
die Geschosse wieder losheulten, legten sie ihn auf den Boden und gingen selbst
in Deckung. Alleine dort draußen merkte er, wie ihm das Lungenblut zäh
zwischen den Zähnen gerann, und als sie an der Verbandsstation ankamen,
waren sechs Stunden vergangen.
Im Leben danach wurde er eine Kapazität. Er studierte Kunstgeschichte
und lernte, für Schönheit einen Preis zu nennen. Es fiel ihm leicht,
Echtes und Falsches zu unterscheiden. Er spezialisierte sich auf die bayerische
Malerei des 19. Jahrhunderts, dabei besonders auf die Interpretation des Pinselstrichs.
In Sachen Carl Spitzweg wurde er so etwas wie eine letzte Instanz.
1967 kam ihm sein inneres Bild, vor dem er die letzten Jahre weggelaufen war,
weshalb er sich so in die Arbeit gestürzt hatte, ausgerechnet bei dieser
Arbeit wieder in den Sinn, als ihn ein fremder Jurist aus Frankfurt mit einer
Sensation in Öl in der Münchner Pinakothek aufsuchte. Der Mann hatte
drei Bilder dabei, eines zeigte den König, der Pinselstrich, eindeutig,
das war seine Zeit, sein Fachgebiet, 1886, H. K. wie Hermann Kaulbach stand
auf einem losen Aufkleber hinten auf den Bildern.
Nachdem Wichmann das Bild gesehen hatte, schmeckte er noch einmal die zähe
Konsistenz des Lungenbluts im Mund: nicht sofort, später, aber beim besten
Willen nicht zu vergessen.
Er fotografierte die Bilder in Schwarz-Weiß für das Archiv der Pinakothek.
Er holte seine Leica raus und machte mit einem Rotfilter ein Bild.
Ertrunkene, fand er, haben kein Lungenblut im Mundwinkel. Erschossene schon.
„
Da waren auch ehemalige Regentropfen auf der Bildoberfläche, das sah man
ganz deutlich“, nämlich an den Zwischenräumen, die entstehen,
wenn Wasser auf Ölfarbe trifft. Die Bilder, schloss Wichmann, sind gleich
nach dem Tod gemalt worden, denn am Abend des Todes von Ludwig II. hatte es
geregnet. Das Gesicht auf dem Bild war weich, noch keine Totenstarre. Und dann
fiel ihm auf: Wer selbst ermordet wurde, kann nicht hinterher noch jemanden
umgebracht haben. Der Tod des Arztes Gudden, der bei dem Spaziergang dabei
war, muss also auf das Konto eines anderen gegangen sein. Der König wäre
damit kein Mörder mehr.
Hätte das Blut im Mundwinkel nicht auch von einer aufgeplatzten Lippe
stammen können?
„
Ach was.“
Wichmann sitzt nun wieder in seinem geräumigen Arbeitsraum. Wichmann erzählt,
wie er an der Pinakothek aufhörte und Professor an der Universität
Karlsruhe wurde. Er konzipierte die Ausstellung „Weltkulturen“ zu
den Olympischen Spielen in München. Er lehrte in Kanada und interessierte
sich in Japan für Kalligrafie. Als er 1987 aus Kanada nach Starnberg zurückkam,
hörte er, dass der Nachlass des Schleiß von Löwenfeld versteigert
werden sollte. Schleiß, erinnerte er sich, war einige Jahre Leibarzt
des Königs gewesen, bevor Gudden es wurde. Eine der drei Skizzen jenes
Juristen von 1967 hatte ihn gezeigt. Vielleicht würde er noch mehr herausfinden,
hoffte Wichmann. Die Frau vom Auktionshaus rief immer aufgeregter ins Telefon: „Bieten
Sie noch?“ – „Natürlich biete ich noch.“ Er hatte
sich von allen am meisten hineingesteigert. Er stach sie alle aus und erwarb
den Nachlass. Es hat ihn so viel gekostet wie ein Haus.
Vielleicht hat Siegfried Wichmann sich zu sehr daran gewöhnt, Experte
zu sein. Er hat drei Werksverzeichnisse herausgebracht, von Carl Spitzweg,
Wilhelm von Kobell und Eduard Schleich dem Älteren. „Alle meine
Kollegen sind über dem ersten gestorben, für einen Kunsthistoriker
ist jedes Werksverzeichnis ein Sargnagel.“ – Jemanden, der so viel
geleistet hat, beutelt es, dass viele inzwischen glauben, er sei damals, 1967,
Fälschungen aufgesessen. Dass die Bilder, die ihm der Jurist damals zum
Fotografieren vorgelegt hatte und die die Grundlage seiner Theorie sind, nicht
echt gewesen seien. War es denn nicht etwa sein Beruf, eine Fälschung
vom Original zu unterscheiden?
Seine Theorie klingt unwahrscheinlich? Es ist auch unwahrscheinlich, dass einer
im 80 Zentimeter tiefen Wasser ertrinkt.
Siegfried Wichmann spricht jetzt von seiner Zeit in Japan, von der in Kanada,
von seinen Eltern und seinen Söhnen und seiner Frau. Auf dem Fußboden
steht eine irritierende Büste, die aussieht wie Ludwig II. in jungen Jahren,
als er noch nicht so aufgedunsen und unglücklich und voller Medikamente
wie ein Post-Biedermeier-Elvis, „The King“ des 19. Jahrhunderts,
durch seine Schlösser huschte. Die Büste ist aber keine von Ludwig
II., sondern vom Vater Siegfried Wichmanns.
„
Ich kann nicht schlafen“, sagt Wichmann. Die Stelle, an der ihn der Granatsplitter
traf, schmerzt nachts noch immer. Wichmann hat sich nach einer Verkettung von
Umständen dazu entschlossen, sein Buch im Selbstverlag zu veröffentlichen,
das Lektorat verlief etwas unglücklich, weshalb im Text nun viele Adjektive
vorkommen. Man wirft ihm vor, dass seine Beweisbilder nirgends mehr aufzutreiben
sind, nur noch ihre Fotografien. Auch der Frankfurter Jurist, der Besitzer
der Bilder, ist verschwunden. Das alles ist 40 Jahre her. Am meisten schmerzt
aber, dass Wichmann nun nicht mehr als Experte, sondern als ein Verschwörungstheoretiker
gehandelt wird.
„
Aber ich habe Freunde“, sagt er. Und, was sagen die zu dem Buch? „Die
schweigen vornehm.“ Wichmann schweigt jetzt auch. Er sitzt umgeben von
seinem Lebenswerk, seinen Büchern, den Bildern und den durchnummerierten
Spitzweg- Expertisen. „Das würde ich heute auch nicht mehr machen“,
sagt er und meint die haltlose Ersteigerung des Schleiß-Nachlasses. Als
wäre auch er in einem Wahn gewesen, wie er Ludwig II. nachgesagt wurde.
Wichmann thront still in seinem Stuhl: „Heute denke ich anders.“
Beruhigenderweise gibt es noch Gebiete, da ist Siegfried Wichmann die letzte
Autorität. Carl Spitzweg zum Beispiel. Immer wieder tragen Leute ein Gemälde
zu ihm den Berg hinauf und wollen wissen, falsch oder echt, ihre Existenz hänge
daran. „Ich kann sagen, fachlich habe ich mich eigentlich noch nie geirrt.“ Es
klingt etwas schütter.
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 06.12.2007)
was das Christkind gebracht Zugeschickt.
Privatdruck 75 Euro Ein neu aufgetauchtes Bild vom Tod des Königs und ein Nachlass des kgl.Leib-Arztes aus Amerika.
Der Autor(87) bekannt als Chefkonservator und Wissenschaftler in Sachen Spitzweg und Kobell, woher wir uns aus Abendschauzeiten kennen.
Nochmal aufmachen die Akte der Geschichte aus fernen Zeiten ohne Shakespeare-Gerichte?und haben doch wohl schon alles versucht. Aber das Bild des Toten noch warm vom nicht verkärtetem Blut verglichen mit dem Jungen der ersten Jahre RWs ist ein anderes Kapitel des Lebens und der Kunst?