Berliner Theaterspaziergänge
Jochanan Trilse-Finkelstein
Nach den Bescheidenheiten, Verwirrnissen, dem Klein-Klein muß es doch
noch einmal den großen Gestus geben! Also auf zum Berliner Ensemble,
das unter dem frischen Siebziger Peymann immer noch das beste Theater Berlins
ist, wenn auch nicht immer das aufregendste – das sei Castorf vorbehalten.
Handke, Strindberg, Schiller – mit den Namen läßt sich einiges
machen. Dachte ich.
Doch der letzte Handke? »Spuren der Verirrten«? Wer verirrte sich
da? So viele? Alle? Der Autor?
Das Stück widerstrebt dem Theater. Auch ein Meister der Regie wie Peymann
kann es mit etwa 20 Spielern, die eher Sprecher sind und gruppiert etwas aufsagen,
was man kaum als Botschaft annehmen kann, nicht verlebendigen. Keine Botschaft
den armen Seelen im Theatron, doch in den Ohren sanfter Klang einer poetischen
Sprache, die sich ins Nichts verirrt. (Ernst Schumacher hat in Ossietzky 4/07
ausführlich darüber berichtet.)
Also doch wieder zum Klassiker, der mehr Antworten gibt als die Zeitgenossen?
Welch Meisterwerk: Strindbergs »Dödsdansen«, »Totentanz« (»Todestanz« wäre
richtiger). Als dramatische Dichtung sowieso, aber auch als Inszenierung von
Thomas Langhoff, mit den ehemals Großen des Deutschen Theaters wie Dieter
Mann, Dagmar Manzel, Götz Schubert, denen Peymann Gastrecht gab. Im BE
durften sie wieder groß sein – es war ein Fest der Schauspielkunst
wie lange nicht gesehen. Alle die späteren Ehekrisenstücke von Albee,
O´Neill, Williams sind beinahe überflüssig nach diesem. Aber
es gibt viele Länder und Bühnen und Schauspieler und Zuschauer. So
laßt andere auch spielen, nur nicht allzu viel Müll des Ewiggleichen!
Ü
ber Schillers »Wallenstein« in der Regie von Peter Stein schrieb
der von mir hoch verehrte Ernst Schumacher in Ossietzky 11/07. Meine Meinung
steht der dort veröffentlichten nahezu diametral entgegen. Ich muß dazu
Stellung nehmen.
Drei Punkte gibt es, in denen ich mit Schumacher weitgehend übereinstimme:
die vorzügliche Darstellung des Octavio Piccolomini durch Peter Fitz,
der zwar kein »Buchhalter« ist, aber außerordentlich eindrucksvoll
das Funktionieren der Macht zeigt; Jürgen Holtz‘ Leistung als Buttler
mit den Methoden der Brecht-Schule, nahezu der schauspielerische Höhepunkt
des Abends; die historische Leistung Schillers wie Steins.
Womit ich nicht übereinstimme:
Klaus Maria Brandauer hat mit Hans Albers nichts zu tun. Der Vergleich ist
schlicht unpassend. Aber die Rolle ist nicht glücklich besetzt (vorgesehen
war Gert Voss). Brandauer war am stärksten in den stillen Szenen, auch
in reflektierenden. Sein Burgtheater-Hamlet wirkte nach. In den Szenen des
Staatsmannes und Militärs war er am schwächsten. Friedlands Sterne
strahlten nicht. Seine unhistorische Kostümierung und Maskierung gerade
in dieser Inszenierung war unverständlich. Er lebte sich nicht aus. Daß Wallenstein
ein genialer Politiker war, der verändern wollte, kam nur bedingt heraus.
Entgegen der von Stein gedruckten Ansicht.
Die erfundene Liebesgeschichte, die berühmte klassische »Nebenhandlung« um
Thekla Wallenstein und Max Piccolomini, ist eben das, was die Wallenstein-Tragödie
zum »opus magnum« gemacht hat. Wofür streitet Wallenstein,
auch mit vom seinerzeitigen Recht her strafwürdigen Mitteln? Für
das Ende eines unsinnigen Krieges? Gewiß. Für Frieden? Gewiß.
Für sich. Gewiß, er prätendiert. Aber eben auch für ein
Reich des Friedens, der Schönheit und des Glücks. Dafür stehen
diese beiden schönen jungen Menschen. Auch für deren Lebenserfüllung
kämpft Wallenstein. Die Tragödie wird vor allem über diese Geschichte
spürbar. Nicht nur über den Mord an einem unbequem gewordenen Generalissimus.
Es ist ein Verdienst Steins, diese Geschichte ausgespielt zu haben, die man
nie zuvor so sah. Das Meiste war immer gestrichen. Man kann sich diesen Handlungsteil
noch schöner gespielt vorstellen, als es Friederike Becht und Alexander
Fehling vermochten. Dennoch: Sie rührten ans Mark. Und so habe ich – nach
mehr als zehn Wallensteinen – ihn eigentlich das erste Mal richtig verstanden.
Wallenstein fiel nicht nur als Usurpator und selbstgerechter Herrscher (das
Stück ist auch ein Bonaparte-Drama), sondern als Visionär eines Reichs
des Schönen (Schiller hatte kurz vorher seine »Briefe über
die ästhetische Erziehung des Menschen« verfaßt) und als ein
Politiker, der in Mecklenburg wirtschaftlich und sozial Neues durchsetzen wollte.
Haupt- und Nebenhandlung gehören zusammen. Das übersieht Schumacher.
Für geradezu absurd halte ich die politischen Gedanken: »Wallenstein« als
Gegenentwurf zu Heiligendamm. Ich habe weder von Peymann noch von Stein jemals
eine derartige Absicht gehört. Aus der Produktion ist sie nicht abzulesen.
Und für noch absurder halte ich den Vorwurf der »Meiningerei« – Stein
als Nachfolger Georgs II. von Meiningen.
Ich halte diese Aufführung – trotz einiger erheblicher Einwände – für
einen Gegenentwurf zur Kakophonie des gegenwärtigen sogenannten Regietheaters,
das außer Untergängen nichts mehr zu verkünden weiß und
in der Kloake endet. Hier dagegen geht es um Rettung und Widerstand. Hier vernimmt
man im Sprachkunstwerk eine Botschaft des klassischen Humanismus, und man erkennt
gerade in dieser Inszenierung Wurzeln der unseligen deutschen Geschichte. Mit
dem Fall Wallensteins und dem Ende des Dreißigjährigen Krieges begann
ein Desaster, wovon sich Deutschland nie erholt hat – bis an das Ende
der großen Kriege im 20. Jahrhundert. An dem wir zu leiden haben – bis
heute! Das inszenierte Stein am historischen Fall und historischen Stück:
großes politisches Theater, wenngleich es durch den Hauptdarsteller nicht
voll aufging. Das sah Schumacher nicht. Es ist die Aufführung des Jahres.