Nossendorf, das alte Dorf stirbt und hier stützt der Staat die eigene Konkurrenz durch vielerlei Förderungen aus sozialen Töpfen. Ob wohl die Schule schon geschlossen und niermand dort glücklich ist. Der Herd aller sozialen Plobleme. Die vielfachen Brandstiftungen bezeugen es. Einach angesteckt immer wieder, während sie erfolglos nach dem Brandstifter suchen und fragen niemand warum.

SPIEGEL ONLINE - 19. August 2007, 19:21
URL: http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,500058,00.html
PLATTENBAU WEST
Sehnsucht nach der Abrissbirne
Von Nils-Viktor Sorge, Kamp-Lintfort
Plattenbauten gibt es nicht nur im Osten: In den sechziger und siebziger Jahren wurden auch in der Bundesrepublik gigantische Wohnkomplexe gebaut. Heute stehen die Arbeiterschließfächer vielerorts leer. Am Rande des Ruhrgebiets soll Sprengstoff das Problem nun aus der Welt schaffen.
Kamp-Lintfort - Mit einem Ruck hebt Alois Brelih sein Bein und schwingt es über den Sims des zersplitterten Fensters. Schon steht er drin in dem Haus, in dem er 20 Jahre lang gelebt hat. "Ach du lieber Himmel", entfährt es ihm.
Die bunten Tapeten hängen von den Wänden, Heizkörper sind herausgerissen und liegen auf dem Boden. Der ist übersät mit Scherben und Zigarettenstummeln. Mittendrin liegt ein großer schwarzer Plüschhund mit verklebtem Fell. Manchmal schlüpfen offensichtlich Jugendliche herein - davon zeugen die zusammengerückten Polstergarnituren.
PLATTENBAU WEST: DIE WEISSEN RIESEN VON KAMP-LINTFORT



Fotostrecke starten: Klicken Sie auf ein Bild (5 Bilder)
Brelih, der hier früher Hausmeister war, stapft durch die Wohnungen eines verlassenen Hochhauses mitten in Kamp-Lintfort. Die Stadt liegt am Niederrhein, im Herzen Westdeutschlands. Und das leerstehende Gebäude ist nicht das einzige hier.
Die "Weißen Riesen", wie die Sechzehngeschosser in Kamp-Lintfort heißen, wurden Anfang der siebziger Jahre gebaut. Wie in zahlreichen anderen westdeutschen Städten waren sie die Antwort auf das Bevölkerungswachstum der Ballungszentren. Fahrstühle, Garagen und eingebaute Waschmaschinen versprachen modernes Wohnen. Dass Teile einer historischen Bergarbeitersiedlung für sie weichen mussten, störte in Kamp-Lintfort damals fast niemanden.
" Anfang der siebziger Jahre waren diese Häuser schon was", sagt Bürgermeister Christoph Landscheidt (SPD). Von seinem Schreibtisch im Rathaus blickt er aus dem Fester auf das, was die meisten hier nur noch "Schandfleck" nennen. Wie Mahnmale ragen die drei Häuser in den Himmel. Die zerschlagenen Fenster in der angegrauten Fassade wirken wie tote Augen.
Alte Werbefilme mit spielenden Kindern
Seit ein paar Jahren ist klar: Die Weißen Riesen mit ihren mehr als 200 Wohnungen sollen weg. Möglichst alle drei und möglichst schnell. Landscheidt ist zuversichtlich, dass er noch im Sommer die Weichen dafür stellen kann - an einem runden Tisch mit den Eigentümern, die wohl endlich verkaufen wollen.
Ein komplettes Hochhaus-Ensemble soll verschwinden und Platz machen für Neues. Mit dem Startschuss für diese radikale Maßnahme wäre Kamp-Lintfort der Pionier beim Rückbau westdeutscher Großsiedlungen.
DAS RUHRGEBIET
Region
Im Regionalverband Ruhr sind die elf kreisfreien Städte Bochum, Bottrop, Dortmund, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Hagen, Hamm, Herne, Mülheim an der Ruhr und Oberhausen sowie die Kreise Ennepe-Ruhr, Recklinghausen, Unna und Wesel zusammengeschlossen. In seinen größten Ausdehnungen reicht das Revier von Osten nach Westen über 116 Kilometer, von Norden nach Süden über 67 Kilometer. Als geografische Eckpunkte gelten Hamm im Nordosten, Wesel im Nordwesten, Duisburg im Südwesten und Hagen im Südosten.
Fläche und Einwohner
Das Ruhrgebiet in Nordrhein-Westfalen ist einer der größten Ballungs- und Wirtschaftsräume Europas. Auf 4435 Quadratkilometern leben rund 5,3 Millionen Menschen, die Bevölkerungsdichte liegt damit bei 1199 Einwohner pro Quadratkilometer. Rund 630.000 Einwohner besitzen eine ausländische Staatsbürgerschaft, der weitaus größte Teil davon die türkische.
Wirtschaft
Kaum eine Region in Mitteleuropa hat in den vergangenen Jahrzehnten einen derartigen Strukturwandel durchgemacht wie das Revier. Seit Beginn der Kohlekrise mussten die meisten Zechen schließen, Hochöfen wurden stillgelegt, Hunderttausende Arbeitsplätze in der Montanindustrie gingen verloren. Technologie, Handel und Dienstleistung gelten als Wirtschaftszweige der Zukunft. Die Arbeitslosenquote liegt derzeit bei etwa 12 Prozent.
Bereits Ende der achtziger Jahre verloren die Häuser deutlich an Attraktivität. Früher zog es noch Einwanderer aus Osteuropa, vor allem aus Jugoslawien, in die Wohnungen. Heute kommen auch sie nicht mehr. Vielerorts scheint niemand mehr in den Plattenbauten leben zu wollen.
Dabei galten die Gebäudekomplexe einst als Wohnform der Zukunft - auch im Westen. Im Internet kursieren noch alte Werbefilme der Wohnbaugesellschaften, die mit tobenden Kindern zwischen den Kolossen werben.
" Als derartige Siedlungen und Hochhäuser gebaut wurden, ging man fälschlicherweise davon aus, dass in ihnen das Zusammenleben und so etwas wie ein Gemeinwesen problemlos gedeihen können", sagt Daniel Frössler, Projektleiter der Agentur Stadtumbau NRW. Oft habe es angesichts des rasanten Wirtschaftswachstums auch gar keine Alternative zu den Beton-Riesen gegeben.
Trend zur Verwahrlosung
Doch die Abwärtsspirale begann sich schon bald zu drehen, nachdem die Häuser fertig waren. "Der Trend zur Verwahrlosung war nach wenigen Jahren nicht zu übersehen", sagt Sabine Wachtendonk, die eine der ersten Mieterinnen in Kamp-Lintforts "Weißen Riesen" war. Öfter seien Fassadenplatten abgefallen und nicht wieder angebracht worden. In der Tiefgarage fühlte sie sich immer unsicher.
Nachdem die ersten Bewohner - so wie Wachtendonk - in die umliegenden Dörfer zogen, folgten ihnen in den Stadtwohnungen oft Sozialmieter nach. Für sie fand die Kommune anderswo schwer Unterkunft, und die Vermieter hatten sichere Einkünfte. "Doch wenn man nur noch sozial schwierige Mieter in ein Haus steckt, kann man sich leicht vorstellen, was passiert", sagt Bürgermeister Landscheidt.
Heute sind Stadtteile wie Osterholz-Tenever (Bremen), Osdorfer Born (Hamburg), Hochheide (Duisburg) und Kielstraße (Dortmund) mit ihren zigtausenden Wohnungen ein Symbol für die kurzlebige Wohnungspolitik der späten Wirtschaftswunderzeit. Fast überall hat sie die gleichen Folgen wie in Kamp-Lintfort.
Frössler nennt die Gebäude ein "Wahrzeichen des Verfalls" oder "Enklaven sozial Benachteiligter". Viele warten nur noch auf den Abriss oder die Sprengung - wenige Jahrzehnte nach der feierlichen Einweihung. "Bei heruntergewirtschafteten Häusern ist in der Regel der Totalabriss die wirtschaftlichste Variante", sagt Frössler.
Für die Bewohner ist das besonders bitter, wenn sie die Wohnungen einst als Altersvorsorge erwarben - wie in Duisburg Hochheide, wo die Bauten ebenfalls "Weiße Riesen" genannt werden. In Blogs und Foren klagen sich die Eigentümer gegenseitig ihr Leid. "Wir, die jetzigen Eigentümer, bluten für die Bausünden der siebziger Jahre", poltert einer im Netz.
Oft machen Lokalpolitiker Druck, damit die letzten Bewohner die Häuser verlassen - und so den Abriss ermöglichen. "Damals der Abriss der Rheinpreußen Siedlung und heute die Zwangsaussiedlung aus den 'Weißen Riesen': Hunderte von Menschen werden geknechtet", wettert ein Betroffener im Internet.
In Köln gelang es den Bewohnern eines maroden Hochhauses immerhin, gegen den Willen renovierungsunwilliger Eigentümer eine Sanierung durchzusetzen. Außerdem verlangten sie eine Umbenennung der mittlerweile übel beleumundeten Straße. Doch nur selten ziehen sich die Bewohner einzelner Viertel auf diese Weise selbst aus dem Schlamassel.
In Westdeutschland unterstützen Bund und Länder 235 oft schrumpfende Kommunen dabei, wieder lebenswerter zu werden. Dafür stehen bis Ende des Jahres insgesamt 630 Millionen Euro zur Verfügung.
" Die Schandflecken beseitigen"
Im Osten fielen seit der Wende fast 200.000 Plattenbau-Wohnungen der Abrissbirne zum Opfer. Wie viele Gebäude im Westen bereits abgerissen wurden, hat das Bundesbauministerium nicht erhoben.
Doch nach Ansicht von Experten wächst die Zahl der Häuser, die als belastend empfunden werden. "Bei immer mehr von ihnen wird es nicht gelingen, sie anzupassen. Dann müssen sie vom Markt", sagt Frössler. "Es ist für viele Städte überlebenswichtig, diese Schandflecken zu beseitigen."
Das sieht auch das Bauministerium in Nordrhein-Westfalen so. "Häufig ist der Abriss dieser Gebäude ein erstes, wichtiges Startsymbol für weitere Erneuerungsmaßnahmen in den Stadtumbau-Gebieten", sagt Staatssekretär Günter Kozlowski.
So wie in Kamp-Lintfort. Nach dem Ende des Bergbaus und der Pleite des ehemaligen Siemens-Handywerks sieht der Ort seine Zukunft nun als lebendige Wohnstadt, aus der die Menschen in die nahen Großstädte pendeln. Nur die hässlichen Riesen stehen dem Traum vom attraktiven Wohnen entgegen.
Immerhin: Ein Teil der alten Bergarbeitersiedlung ist noch erhalten. Mittlerweile gehört sie zu den beliebtesten Wohnvierteln in Kamp-Lintfort. Dass das Viertel noch steht, ist ein großer Zufall, erzählt man sich in der Stadt: Wäre die Firma des damaligen Plattenbau-Löwen Josef Kun nicht kurz nach Fertigstellung der ersten Hochhäuser Pleite gegangen, dann hätten die alten Häuser komplett weichen müssen.

© SPIEGEL ONLINE 2007
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGELnet GmbH