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Amoklauf in Blacksburg
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19. April 2007
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GRUSELIGES VIDEOVERMÄCHTNIS
Das Paket des Killers
Von Marc Pitzke, New York
Der Killer von Blacksburg hat ein gruseliges Testament hinterlassen: ein "Manifest" mit
Videos und Fotos, das er während seines Amoklaufs eiskalt in den Briefkasten
steckte. Es offenbart die kranke Seele eines Psychopathen - und die Mankos der
Gesellschaft.
New York - Das Päckchen erreichte die zentrale Poststelle des TV-Networks
NBC am Rockefeller Center schon am Dienstagnachmittag, wurde dort aber erst tags
darauf geöffnet. Obwohl es eine Express-Sendung war, adressiert an die Nachrichtenabteilung.
Inhalt: eine DVD mit 43 Fotos und 23 QuickTime-Videos, daneben ein langes "Manifest".
Es waren die letzten Worte des Killers von Blacksburg, Cho Seung-Hui.Chos Videobotschaft:
Testament eines Killers
Fotostrecke starten: Klicken Sie auf ein Bild (6 Bilder)
"
Ihr hattet hundert Milliarden Chancen und Wege, diesen Tag zu vermeiden",
murmelt Cho, 23, mit leblosen Augen in die Kamera, eine schwarze Baseballmütze
rücklings aufgesetzt. "Aber ihr habt beschlossen, mein Blut zu vergießen.
Ihr habt mich in eine Ecke gezwungen und mir nur eine Option gelassen. Die Entscheidung
war eure. Nun habt ihr Blut an euren Händen, das sich nie abwaschen lässt." Poststempel
der Botschaft aus dem Jenseits: Montag, 9.01 Uhr. Cho hatte sie während
seines Amoklaufs abgeschickt - seelenruhig, nach den ersten zwei Morden, aber
noch vor der zweiten Welle.
Auf den ersten Blick ist dies der digitale Abschiedsbrief eines Massenmörders,
eines Psychopathen mit Wahnvorstellungen. "Beunruhigend, sehr beunruhigend",
gruselte sich Steve Capus, der Präsident von NBC News, der das Päckchen
persönlich dem FBI übergab. Bei näherem Hinsehen aber offenbaren
sich neue, dramatische und nicht unbedingt bequeme Hintergründe dieser Bluttat,
wie sie auch schon in anderen Entwicklungen gestern durchschimmerten.
"
Ihr habt mein Herz verwüstet, meine Seele vergewaltigt und mein Gewissen
in Brand gesetzt", sagt Cho. "Ihr habt gedacht, es sei nur das Leben
eines erbärmlichen Jungen, das ihr auslöscht." Wieder und wieder
gibt er anderen die Schuld an seiner Tat, für deren Opfer er keinerlei Mitgefühl
zeigt. Ein Großteil des Materials besteht aus Schimpfwörtern.
"
Gestört" und "depressiv"
Einmal bezieht er sich auf "Eric und Dylan" - wohl Eric Harris und
Dylan Klebold, die beiden Amokläufer, die vor fast exakt vier Jahren an
der Columbine High School in Colorado zwölf Mitschüler, einen Lehrer
und dann sich selbst erschossen und dies ähnlich rechtfertigten.Forum
Nach Amoklauf schärferes US-Waffenrecht?
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1252 Beiträge
Neuester: Heute 08:43 Uhr
von Klo
Auch Cho sah sich selbst offenbar als "Opfer" von Übergriffen,
Anfeindungen oder anderen Missetaten, die er aber nicht weiter präzisiert
- ein "Opfer", das zum Täter wurde. Eine US-Psychologin mutmaßte
gestern, dies seien klassische Merkmale eines Menschen, der "belästigt" wurde,
womöglich sexuell: "Dies war ein Hilferuf." Auch Susan Lipkins,
Expertin für Gewalt an Schulen und unter Jugendlichen, kam das allzu bekannt
vor: Sie diagnostizierte "paranoide Schizophrenie" als Folge echter
oder eingebildeter Leiden.
Doch natürlich wird nicht jeder, der psychische Probleme hat, gleich zum
Massenmörder, Hilferufe nicht zu Amokläufen. Chos Weg vom stillen,
gestörten Studenten zum Schlächter unschuldiger Kommilitonen war ein
Prozess, der sich offensichtlich über viele Jahre hinzog - unter den Augen
der Behörden.
Das bestätigten auch frühere Enthüllungen des Tages. Cho war schon
2005 aufgefallen, nachdem sich zwei Studentinnen über ihn beschwert hatten.
Er landete als "gestört", "depressiv" und selbstmordgefährdet
kurz in der Psychiatrie. Dann wurde er an die Virginia Tech University zurückgeschickt,
die von weiteren Schritten absah. Akte geschlossen.
"
Ich werde nicht länger wegrennen"
Dabei waren das erste Zeichen, dass im Hirn des als Sonderlings und "Einzelgängers" bekannten
Chos Düsteres gärte. Die Lehrer bemerkten auch etwas. Nikki Giovanni,
eine beliebte Englisch-Professorin und prominente Schriftstellerin, schmiss Cho
wegen seines destruktiven Benehmens aus ihrer Klasse. "Er war gemein. Er
versuchte, mich zu tyrannisieren. Er versuchte, die Klasse zu tyrannisieren."
Macht sie sich heute Vorwürfe? "Ehrlich, ehrlich, ehrlich", beteuerte
Giovanni gestern Abend, "ich glaube nicht, dass irgendeiner von uns eine
Ahnung hatte, dass es so weit kommen würde. Ich sehe es als tragisch, nicht
augenfällig." Einige Studenten dagegen wollen es im Nachhinein geahnt
haben. "Wir haben nur darauf gewartet, dass er etwas anstellt", sagte
Chos Klassenkameradin Stephanie Derry der Universitätszeitung "Collegiate
Times".Amoklauf an der Virginia Tech: Die 32 Opfer
Fotostrecke starten: Klicken Sie auf ein Bild (32 Bilder)
Déjà-vu: Der Außenseiter, der zum Rächer mutiert - ob
wegen Missbrauch, aus sozialen Gründen oder aufgrund einer unbehandelten
Geistesstörung: Es ist ein altes Motiv und kaum US-spezifisch. Auch wenn
die Gesellschaft hier lieber Gewinner ehrt und solche, die sich der traditionellen
Gruppendynamik anpassen, an Schulen und Colleges zum Beispiel Football-Spieler
und Cheerleader, die "Jocks" und "Homecoming Queens". Andere
werden schnell beiseite geschoben und allein gelassen mit ihrem Groll.
Normale Menschen stecken so was weg. Cho dagegen bezieht sich in seinem markerschütternden
Video-Geständnis auf ungenannte Zuwiderhandlungen, die er nicht länger
ertragen wolle. "Ich hätte dies nicht tun müssen", kündigt
er den Amoklauf an. "Ich hätte gehen können. Ich hätte fliehen
können. Aber nein, ich werde nicht länger wegrennen."
Ä
hnlich narzisstisch-selbstmitleidige Worte kamen auch von den Mördern von
Columbine. Und von Barry Loukaitis, der 1996 im US- Bundesstaat Washington drei
Menschen erschoss. Und von Mitchell Johnson und Andrew Golden, die 1998 in Arkansas
vier Mitschülerinnen und eine Lehrerin umbrachten. Letztere zwei Täter
waren 13 und 11 Jahre.
Wenn Scherze zu Misshandlung werden
Und schon hat Blacksburg in den USA neue Fragen aufgeworfen: Wie lassen sich
gepeinigte, womöglich gefährliche Jugendliche besser identifizieren,
betreuen, behandeln und letztendlich sicher in den Griff bekommen?
"
Im ganzen Land haben wir Menschen, die auf diese Weise leiden", sagt Lipkins.
Die Psychologin hat sich in ihrer Forschung ausgiebig mit dem "erniedrigenden,
einschüchternden und psychisch gefährlichen" Phänomen des "Hazings" befasst
- an Misshandlung grenzende "Scherze", mit denen "soziale Gruppen
ihre Hackordnung wahren", eben auch an Schulen und Unis. Doch niemand kümmere
sich angemessen um das Problem.
Ein gefährliches Pflaster: Die Schuld für Blacksburg liegt natürlich
nicht bei den wahren Opfern, den 32 toten Studenten und Lehrern. Das findet auch
Billy Graham, der Sohn des legendären US- Massenpredigers, der gestern den
Campus von Virginia Tech besuchte: "Wir sind zu weit gegangen, wenn es darum
geht, jemandem eine zweite, eine dritte, eine vierte Chance zu geben", sagte
er über die Psycho-Historie des Killers Cho.
Website des Waffenladens zerstört
War Cho wirklich ein "Opfer", womöglich nur in der eigenen Wahnvorstellung,
das zum Täter wurde? Die Fachleute dürften sich darüber in den
nächsten Tagen die Köpfe heiß reden. Einer ist jedenfalls froh,
dass die Diskussion sich etwas verlagert: John Markell, der Besitzer des Waffenladens "Roanoke
Firearms", in dem sich Cho seine halbautomatische Glock-Pistole und 50 Patronenschachteln
gekauft hatte.
Markell musste seine Website jetzt wegen Vandalismus stilllegen und fürchtet
sogar um sein Leben: "Ich habe zwei telefonische Morddrohungen bekommen." Dabei
liege die Mitschuld doch ganz woanders: "Da hat jemand seinen Geisteszustand übersehen",
sagt er über Cho, und es klingt fast erleichtert.
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