DER SPIEGEL 45/2006 - 06. November 2006
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KULTURPOLITIK
Moral und Millionen
Von Michael Sontheimer und Andreas Wassermann
Jüdische Erben verlangen von deutschen Museen die Rückgabe Dutzender
hochkarätiger Bilder. Es geht um späte Gerechtigkeit, aber auch um
sehr viel Geld. Nun lädt der Kulturstaatsminister zum Krisengipfel ins Kanzleramt.
Zu erwarten ist ein Society-Event ersten Ranges. Am Mittwochabend trifft sich
in der New Yorker Dependance von Christie's die Hautevolee der Kunstsammler.
Das weltweit größte Auktionshaus rechnet beim "Impressionist
and Modern Art Evening Sale" im Rockefeller Center unweit der Fifth Avenue
mit über 1500 Interessenten. Aufgerufen werden Werke von Paul Gauguin, Pablo
Picasso, Gustav Klimt und auch ein Bild von Ernst Ludwig Kirchner, das bis zum
1. August noch im Berliner Brücke-Museum hing.
DDP
Umstrittenes Gemälde von Kirchner ("Berliner Straßenszene"):
Zweifelhafte Herkunft
Der Umsatz an diesem Abend dürfte 300 Millionen Dollar deutlich übersteigen.
Das 1913 entstandene Kirchner-Bild "Berliner Straßenszene", das
der Berliner Senat an die Enkelin des jüdischen Kunstsammlers Alfred Hess
zurückgab, wird nach der Erwartung von Christie's für über 20
Millionen Dollar unter den Hammer kommen.
Wenn diese Ikone des deutschen Expressionismus den Eigentümer wechselt,
wird unweigerlich eine Debatte in Deutschland wieder aufflammen - um den schwierigen
Umgang mit einem sehr speziellen Teil der NS-Vergangenheit. Denn der Fall Kirchner
ist erst der Anfang.
Auf zahlreiche wertvolle Kunstwerke in deutschen Museen haben jüdische Erben
Ansprüche erhoben. Und diejenigen, die darüber zu entscheiden haben
- ob Museumsdirektoren oder Landespolitiker -, stehen vor einem Dilemma: Da sind
auf der einen Seite Nachfahren verfolgter oder ermordeter deutscher Juden, die
zurückverlangen, was ihren Vorfahren einst abgepresst wurde. Da existiert
auf der anderen Seite das öffentliche Interesse, wichtige Kunstwerke im
Lande zu halten. Und da sind die Vorwürfe von Museumsdirektoren, dass es
einigen Akteuren beim Umgang mit der Kunst nicht mehr um Moral, sondern lediglich
um Millionen geht - geschäftstüchtigen Anwälten, die dem gefräßigen
Kunstmarkt neue Nahrung zuführen wollen.
Im Kern geht es um die Frage, ob die moralisch begründete Rückgabe
durch den Millionenpoker um einzelne Werke moralisch diskreditiert wird.
Unstrittig ist, dass deutsche Museumsdirektoren durch die Berliner Rückgabe
des Kirchner-Bildes unter erheblichem Druck stehen; unbekannt hingegen, um wie
viele Kunstwerke es geht. Nach Schätzungen von Experten könnten bis
zu 50 Meisterwerke aus deutschen Museen in die Villen und Tresore von Sammlern
in aller Welt abwandern. Forderungen nach Rückgabe liegen vor für Bilder
von Ernst Ludwig Kirchner, August Macke, Lyonel Feininger und Franz Marc. Die
Stuttgarter Staatsgalerie etwa wurde aufgefordert, das Ölbild von Marc "Die
kleinen blauen Pferde" von 1911 herauszugeben. Beim Wilhelm-Hack-Museum
in Ludwigshafen liegt ein Restitutionsbegehren für "Das Urteil des
Paris" von Kirchner vor, im Sprengel Museum in Hannover für Marcs "Katze
hinter einem Baum". Betroffen sind insgesamt über ein Dutzend staatlicher
Museen.
Doch niemand kann genau sagen, ob dies sämtliche Fälle sind. Denn Verschwiegenheit
eint die Akteure - die Anwälte der Erben, aber auch die Museumsdirektoren
und Kulturpolitiker. Nicht einmal Bernd Neumann (CDU), Staatsminister für
Kultur und Medien, weiß, welches Museum mit welcher Forderung konfrontiert
ist. Aufgeschreckt von der heftigen Kritik an der Rückgabe der Kirchner-Straßenszene,
will er die Direktoren wichtiger Kulturinstitutionen und Museen sowie Rechtsexperten
noch in diesem Monat zu einem Krisengespräch ins Kanzleramt bitten.
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Denn er selbst steht in der Pflicht. Schließlich war es die Bundesregierung,
die auf der "Washingtoner Konferenz" im Dezember 1998 zusicherte, geraubte
Kunstgüter an die Nachfahren von NS-Opfern herauszugeben. Regierungsbeamte
hatten dieser Konferenz mit großem Unbehagen entgegengesehen. Während
der damalige Kulturstaatsminister Michael Naumann die Rückgabe vehement
befürwortete, trieb das Auswärtige Amt die Sorge um, Deutschland würde
in Washington auf der Anklagebank landen. Man registriere mit "Besorgnis",
heißt es in dem Protokoll einer interministeriellen Vorbesprechung, dass
die US-Vorstellungen "die Schaffung neuer unbegrenzter Restitutionsansprüche
bedeuten könnten".
Zumindest in einem Punkt konnten Diplomaten schon bald Entwarnung geben: "Zwischen
Nazis und Deutschland", kabelten sie nach einem Vorbereitungstreffen in
die Heimat, "wurde auch rhetorisch kein Zusammenhang hergestellt." In
einem anderen schlugen sie Alarm - bei dem Meeting war von der Rückgabe
von rund 110.000 Stücken im Wert von 10 bis 30 Milliarden US-Dollar die
Rede.
Doch in Berlin vermochten die imposanten Zahlen offenbar niemanden beeindrucken
- die Vorgaben für die deutschen Vertreter in Washington änderten sich
nicht. Sie unterzeichneten mit den Delegierten von 43 weiteren Staaten eine elf
Punkte umfassende Erklärung. In der NS-Zeit beschlagnahmte Kunstwerke, so
deren Essenz, sollten gesucht, identifiziert und die rechtmäßigen
Erben ermittelt werden. Mit denen solle "eine gerechte und faire Lösung" gefunden
werden.
Die Freude über den Konsens von damals ist inzwischen dem Ärger über
die Welle von Rückgabeanträgen gewichen. Und Experten beschleicht inzwischen
der Verdacht, dass einige der Akteure von Washington nicht nur das Wohl der Nachfahren
der Nazi-Opfer im Blick hatten. Im Kanzleramt hat man die alten Akten durchgesehen
- und ist dabei auf einen Mann mit multipler Mission gestoßen.
Einen wesentlichen Anteil am Zustandekommen der Konferenz hatte ein Amerikaner,
der einer der größten Kunstsammler der Welt ist: Ronald Lauder, 62,
Erbe des nach seiner Mutter benannten Kosmetikkonzerns Estée Lauder. Milliardär
Lauder, dessen jüdische Familie aus Österreich stammt, war zudem Schatzmeister
des World Jewish Congress, der eine "Commission for Art Recovery" begründete,
eine Kommission für Kunstsicherstellung. Deutsche Diplomaten ermittelten,
wer der Initiator dieser Kommission war. Sie wurde "auf Betreiben von Lauder
eingerichtet", schrieb das deutsche Konsulat in New York an das Auswärtige
Amt.
AP
Kunstsammler Lauder, erworbenes Klimt-Bild: "Eine Art inoffizieller Berater"
Viele Kunstexperten merkten erst Jahre später, wie zielgerichtet der Amerikaner
agiert hatte - beim Kampf jüdischer Erben um die Herausgabe von fünf
Bildern des Wiener Jugendstilmalers Gustav Klimt, die sich im Besitz der Republik Österreich
befanden. In diesem Jahr haben sich die Erben - völlig zu Recht - durchgesetzt.
Und Lauder, früher zeitweilig US-Botschafter in Wien, brüstete sich
damit, als "eine Art inoffizieller Berater" der Familie fungiert zu
haben, welche die Bilder zurückholte. Mit ganz offiziellem Erfolg: Im Juni
erwarb er selbst das restituierte Prunkstück "Adele Bloch-Bauer I" für
135 Millionen Dollar.
Der Mann, der in Deutschland für einen fairen Umgang mit den jüdischen
Restitutionsansprüchen sorgen wollte, war Michael Naumann. Er setzte durch,
dass im Dezember 1999 eine "Gemeinsame Erklärung der Bundesregierung,
der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur
Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus
jüdischem Besitz" beschlossen wurde. Für Streitfälle wurde
eine "Beratende Kommission" gegründet.
Doch bei der Umsetzung der Washingtoner Erklärung wurden die Restitutionsmöglichkeiten
in Deutschland erweitert - durch eine simple Begriffsänderung. Sollten eigentlich
nur "von den Nationalsozialisten beschlagnahmte Kunstwerke" restituiert
werden, war nun von "NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut" die
Rede. Jetzt ließ sich auch die Rückgabe von "Fluchtkunst" begründen,
von Bildern, die aus Deutschland emigrierte Juden während der NS-Zeit verkauft
hatten, um sich ihren Lebensunterhalt zu sichern.
Zudem wurde der Verbleib strittiger Bilder in Museen an hohe Auflagen gebunden:
Im Falle von Kunstverkäufen in der NS-Zeit etwa sollten die betroffenen
Museen nicht nur nachweisen, dass für die Bilder ein marktgerechter Preis
vereinbart, sondern dieser auch tatsächlich bezahlt worden war. Die meisten
solcher Quittungen aber wurden niemals ausgestellt oder sind nicht mehr vorhanden
- wie im Fall der 1936 verkauften "Straßenszene". Da der Berliner
Kultursenat eine Empfangsquittung nicht vorlegen konnte, gab er das Kunstwerk
zurück.
Doch in vielen deutschen Museen fehlte es nicht nur an Belegen. "In den
Nachkriegsjahren", sagt Naumann, "existierte in den deutschen Museen
kein Unrechtsbewusstsein." Im Januar 1999 gab er zu Protokoll: "Meines
Wissens gibt es bisher immer noch nicht zufriedenstellende Bemühungen der
deutschen Museen, genau dieses zu tun, nämlich eine exakte Bestandsaufnahme
der Kunstgüter mit dubiosem Ursprung bzw. zweifelhafter Herkunft aus den
Beutezügen des Dritten Reiches zusammenfassend aufzulisten."
Das hat sich inzwischen geändert - allerdings nicht unbedingt in Naumanns
Sinn. Viele Museen lassen inzwischen Recherchen anstellen, um Rückgabeanträge
abzuwehren. Ihre Direktoren klagen über "raffinierte Anwälte" und
die "knallharte moralische Keule", mit der diese drohen würden.
In der Tat sind es oft erst Anwälte, die Erben animieren, Rückgabeforderungen
stellen zu lassen. So offenbar geschehen im Fall Kirchner und anderer Bilder,
die einst zur Sammlung des Erfurter Schuhfabrikanten Alfred Hess gehörten:
Die Hess-Enkelin Anita Halpin zeigte noch vor sechs Jahren kein Interesse an
den Bildern ihres Großvaters. Inzwischen ließ sie mehrere Dutzend
Bilder aus der einstigen Sammlung Hess mit Rückgabebegehren belegen. Vertreten
wird sie vom Restitutionsanwalt David J. Rowland, der in der New Yorker Park
Avenue residiert.
Während der Berliner Senat im Geiste Naumanns handelte, verhält sich
der Bund in einem Fall wie viele Museumsdirektoren - und verweigert einfach die
Herausgabe. Sogar Bundespräsident Horst Köhler war bereits mit dem
Fall befasst.
Schon seit Jahren fordert der Chilene Juan Carlos Emden vom Bundesfinanzministerium
die Herausgabe zweier wertvoller Gemälde aus dem 18. Jahrhundert. Die Bilder
des italienischen Malers Bernardo Bellotto, besser bekannt als Canaletto, musste
sein Großvater, der jüdische Kaufmann Max Emden, nach seiner Emigration
aus Deutschland in der Schweiz verkaufen. Seit 1949 sind sie im Besitz der Bundesrepublik.
Doch eine Rückgabe, teilten Steinbrücks Beamte den Emden-Anwälten
im August abschließend mit, komme nicht in Frage. Die Bilder, so ihre Begründung,
seien nicht "Gegenstand eines Zwangsverkaufs" gewesen.
Dabei verhält es sich mit der Causa Emden kaum anders als mit dem Schicksal
der Sammlung Hess. Sammler Max Emden, dem auch Werke holländischer Altmeister
und französischer Impressionisten gehörten, verließ 1933 endgültig
Deutschland und siedelte in den Schweizer Kanton Tessin über. Sein in Deutschland
zurückgelassenes Firmenimperium musste er später unter Zwang verkaufen.
Folglich lebte der jüdische Emigrant in der Schweiz überwiegend vom
Verkauf seiner Gemälde, die er rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte.
Nachdem Emden die Canalettos 1938 über Kunsthändler in München
und London angeboten hatte, kaufte sie Hitlers Kunsthändler Karl Haberstock.
Die barocken Stadtansichten sollten nach dem "Endsieg" das geplante "Führermuseum" in
Linz zieren.
Als Kaufpreis waren 60.000 Schweizer Franken vereinbart, nach Aussage von Emden-Erbe
Juan Carlos ein "skandalöser Preis". Bis heute ist fraglich, ob
Max Emden selbst diese Summe überhaupt erhalten hat. 1940 starb er im Schweizer
Exil, die Bilder gelangten in die Depots des Bundes. Später landete der
dekorative "Zwingergraben" im Speisezimmer der Villa Hammerschmidt.
Köhler ließ das Bild allerdings abhängen, nachdem er über
seine Provenienz aufgeklärt worden war.
Doch Steinbrücks Beamte wollen offenbar einem Dammbruch vorbauen. Denn in
den Depots des Bundes liegen laut Experten noch bis zu hundert Gemälde,
die in die Kategorie "Fluchtkunst" fallen. Zudem erklärte Juan
Carlos Emden bereits, dass er das Bild nicht "über die Wohnzimmercouch" hängen
werde. Große Auktionshäuser hätten bei ihm schon vorgefühlt.
Die harte Linie der Steinbrück-Beamten verfolgt auch Hans Ottomeyer, Generaldirektor
des Deutschen Historischen Museums in Berlin. Im Herbst vergangenen Jahres hatte
der Sohn des jüdischen Zahnarztes und Sammlers Hans Sachs die Reste einer
einmaligen, einst 12.000 Stücke umfassenden Plakatsammlung reklamiert, die
1938 im Auftrag von Joseph Goebbels beschlagnahmt worden war; rund 3500 Plakate
tauchten nach dem Krieg im Ost-Berliner Museum für Deutsche Geschichte wieder
auf. Bei einer Restitution, warnte Ottomeyer, wäre es "ein großer
Verlust, wenn die Sammlung blattweise verhökert wird". Erst erheblicher
politischer Druck aus dem Kanzleramt brachte den Museumschef dazu, einer Anrufung
der eigens für Streitfälle eingerichteten Kommission zuzustimmen.
Ä
hnlich wie Ottomeyer argumentiert die Direktorin der Moritzburg in Halle, Katja
Schneider, die "kein einziges Bild freiwillig zurückgeben will".
In ihrem Fall hat ebenfalls der New Yorker Anwalt Rowland einen Anspruch formuliert.
Abgesehen hat er es auf Bilder der Sammlung expressionistischer Kunst des jüdischen
Frankfurter Unternehmers Ludwig Fischer. Dessen Frau verkaufte 24 Bilder von
Kirchner, Marc und Heckel 1924 gegen Zahlung einer Leibrente über 20 Jahre,
die von den Nationalsozialisten spätestens 1935 eingestellt wurde. Rowland
verlangt nun nicht nur die vollständige Bezahlung, sondern auch ein Ölbild
von Franz Marc, "Die weiße Katze", aus der Sammlung Fischer.
Das "kleine Geldangebot", das die Moritzburg ihm gemacht habe, reicht
Rowland, der drei Fischer-Erben aus den USA vertritt, nicht aus.
Beim Gipfeltreffen der Museumschefs und Restitutionsexperten Ende November im
Kanzleramt sollen nicht nur diese Fälle diskutiert werden, sondern auch
eine generelle Strategie. Weil Museumsdirektoren und Kulturpolitiker "oftmals überfordert" seien,
drängt der gerade pensionierte Direktor der Stuttgarter Staatsgalerie, Christian
von Holst, auf die Einrichtung einer zentralen Forschungsstelle, welche die oft
abenteuerlich verschlungenen Wege der Kunstwerke ermitteln soll.
Davon könnten auch die großen Auktionshäuser profitieren. Im
aktuellen Magazin von Christie's heißt der Kunstsammler Hess, dem einst
das Kirchner-Bild gehörte, mit Vornamen nicht mehr Alfred, sondern - Sigmund
Freud lässt grüßen - Adolf.
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SPIEGEL ONLINE - 07. November 2006, 13:38
URL: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,446947,00.html
VERKAUF VON RESTITUTIONS-KUNST
" Erschreckend durchorganisierter Markt"
In New York soll Ernst Ludwig Kirchners "Berliner Straßenszene" unter
den Hammer kommen. Die Restitution des Bildes an die Erbin der früheren
jüdischen Besitzer sowie der geplante Verkauf sind umstritten. Michael Eissenhauer,
Präsident des Deutschen Museumsbundes, erklärt, warum.
Frage: Was halten Sie von der Auktion in New York?
Eissenhauer: Das ist ein Desaster. Was alle befürchtet haben, scheint sich
zu bestätigen: Dass gezielt Werke aus öffentlichen Sammlungen ausgesucht
werden und in einem Konsortium interessierter Kreise bewusst auf den Markt gebracht
werden - im Sinne eines Big Business, um den Kunstmarkt zu beleben.
DDP
Restituiertes Kirchner-Gemälde "Berliner Straßenszene": "Betriebswirtschaftlich
verwertbares Knowhow"
Frage: Wie groß ist dieser Geschäftszweig schon?
Eissenhauer: Das ist schwer einzuschätzen. Das Kirchner-Bild soll für
mindestens 18 bis 24 Millionen US-Dollar versteigert werden. Wahrscheinlich kommt
viel mehr dabei raus. Dann bleiben vielleicht sogar 15 bis 20 Millionen US-Dollar
Belohnung übrig für diejenigen, die das Geschäft betrieben haben.
Das lohnt sich richtig.
Frage: Die Versteigerung des Kirchner-Bildes ist ja kein Einzelfall...
Eissenhauer: Wir haben das Beispiel aus Dresden mit dem Adolph-Menzel-Bild und
wir haben die Gustav-Klimt-Bilder. Es ist erschreckend, wie durchorganisiert
dieser Markt zu sein scheint. Wenn man es sich zur Lebensaufgabe macht, mit zwei
oder drei Wissenschaftlern und Juristen gezielt ein Objekt zu recherchieren und
nachher winkt ein Benefit von 20 oder 30 Millionen US-Dollar, dann ist es egal,
ob man nach fünf oder zehn Jahren Erfolg hat.
Frage: Hat sich dieser Markt lange Zeit im Verborgenen entwickelt?
Eissenhauer: Indizien dafür können wir schon länger beobachten.
An einigen Häusern wurden sehr umfangreich Provenienzforschungen durchgeführt.
Dadurch war der Informationsfluss enorm. Aber es ist nur an ganz wenigen Häusern
gelungen, diese Forschung als Aufgabe zu verstetigen und dafür feste Stellen
einzurichten. Weil das nicht gelungen ist, sind kenntnisreiche Kollegen vom Kunsthandel
und von Anwaltskanzleien abgeworben worden, so dass dieses Knowhow jetzt betriebswirtschaftlich
verwertbar wird.
Frage: Hätte der Fall "Berliner Straßenszene" verhindert
werden können?
Eissenhauer: Ich glaube, dass das Bild nicht hinreichend genug geprüft wurde.
Wir hätten schon die Chance gesehen, zu sagen, die Beweislage ist nicht
wasserdicht genug, das Bild kann derzeit noch nicht restituiert werden. Es ist
nicht wirklich beweisbar, ob die "Straßenszene" tatsächlich
unter Druck oder vor 1933 aus freien Stücken veräußert wurde.
Frage: Ist das Bild einmal restituiert, ist also nichts mehr zu machen?
Eissenhauer: Es ist außerhalb jeglicher Diskussion, dass Bilder, die unrechtmäßig
entzogen wurden, restituiert werden müssen. Hierzu haben wir eine moralische
Verpflichtung. Aber man kann zum Beispiel über Sperrfristen nachdenken und
sagen, für die Dauer der ersten fünf Jahre muss ein Erstkaufsrecht
bei dem abgebenden Museum oder der abgebenden Nation liegen. Wir brauchen mindestens
zwei Jahre, um Geldmittel in einem solchen Volumen zusammen zu bekommen, um auch öffentliche
Stiftungen und private Geldgeber einzubeziehen.
Frage: Wie muss es dann jetzt weiter gehen?
Eissenhauer: Es müssen alle Kunstwerke, die nach 1933 einen Besitzerwechsel
hatten, systematisch erforscht werden. Ich erwarte, dass sich der Bund noch stärker
seiner Verpflichtung stellt. Laut Washingtoner Abkommen, das die Bundesregierung
ratifiziert hat, sollen Mittel und Personal zur Verfügung gestellt werden,
um die Identifizierung dieser Kunstwerke zu erleichtern. Diese Verpflichtung
ist auf Bundesebene nicht eingelöst. Der Bund hat die Aufgabe an die Länder
rückdelegiert. Doch ohne Provenienzforschung wird uns der Kunsthandel immer
mehrere Schritte voraus sein.
Frage: Ist es von Bedeutung, wer die "Straßenszene" ersteigern
wird?
Eissenhauer: Es wäre ein Segen, wenn eine öffentliche Sammlung das
Bild erwerben könnte und es öffentlich zugänglich bleibt. Wir
in Deutschland sind nicht in der Lage, es zu erwerben und haben es verpasst,
eine der Inkunabeln des Expressionismus zu halten. Wir haben keinen Konsens darüber,
was wir für national wertvolles Kulturgut halten, das in Deutschland bleiben
soll. Der Kirchner-Fall sollte uns die Augen öffnen.
Das Interview führte Nadine Emmerich, ddp.
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