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03. Oktober 2006
DDR-STRASSENNAMEN
Wie die DDR in der Provinz weiterlebt
Von Hubertus Knabe
In Ostdeutschland haben Tausende kommunistische Straßennamen die Wiedervereinigung überdauert.
An den Widerstand wird kaum erinnert - ein Skandal, findet Hubertus Knabe, der
Direktor der Stasipofer-Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen.
Berlin - Wer in Ostdeutschland zu einer Landpartie aufbricht, könnte leicht
auf die Idee kommen, die SED sei dort immer noch an der Macht: Ernst-Thälmann-Straße,
Rosa-Luxemburg-Straße, Straße der Einheit, Straße der Freundschaft
- so heißen fast in jedem Dorf die wichtigsten Straßen. Sie haben
nicht nur die friedliche Revolution im Herbst 1989 überdauert, sondern auch
Wiedervereinigung und 16 Jahre Demokratie.
DPA
Vereinigungsparteitag zur SED 1946 in Ostberlin, links KPD-Vorsitzender Wilhelm
Pieck, rechts SPD-Vorsitzender Otto Grotewohl: 285 Straßennamen erinnern
weiter an den Zwangsakt
Als die Kommunisten nach dem Kriege im Osten an die Macht kamen, betrieben sie
kaum etwas so beharrlich, wie ihre Helden auf Straßen und Plätzen
zu verewigen. Ob Komponisten oder Blumen - sie alle mussten weichen für
die Ikonen der SED. Auch Fußballstadien oder Eisenwalzwerke erhielten die
Namen hoher kommunistischer Führer. Sogar ganze Städte wie Chemnitz
und Eisenhüttenstadt wurden in Karl-Marx-Stadt und Stalinstadt umbenannt.
Vieles davon hat bis heute überlebt - obwohl die SED noch selbst die schlimmsten
Auswüchse beseitigte. Der sowjetische Diktator Josef Stalin wurde ebenso
getilgt wie der in Ungnade gefallene SED-Chef Walter Ulbricht. Die Berliner Stalinallee
erhielt schon 1962 ihren alten Namen Frankfurter Alle zurück.
Nach dem Sturz der SED-Diktatur richtete sich der Zorn der Bevölkerung auch
gegen den Missbrauch des öffentlichen Raumes als Propagandainstrument. Vor
allem in den großen Städten wurden Namen wie Otto Grotewohl (erster
DDR-Ministerpräsident), Otto Winzer (DDR-Außenminister) oder Georgi
Dimitroff (Chef der Komintern) beseitigt. Doch da der Elan bald verflog, hat
der sozialistische Straßenalltag vor allem in der ostdeutschen Provinz überlebt.
Eine Untersuchung der Stasiopfer-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen
hat jetzt ergeben, dass in Ostdeutschland die DDR vielerorts überdauert
hat. Allein der Gründungsvater der kommunistischen Bewegung, Karl
Marx,
ist auf Deutschlands Straßen noch 550-mal verewigt. Sein Mitstreiter Friedrich
Engels kommt auf 243 Straßen oder Plätze. Rosa Luxemburg und Karl
Liebknecht, die nach einem kommunistischen Putschversuch 1919 ermordet wurden,
kommen zusammen auf 596 Straßen. Absoluter Spitzenreiter ist jedoch Ernst
Thälmann, der die Weimarer Republik beseitigen wollte und im Nazi-KZ getötet
wurde - an ihn erinnern ganz 613 Straßen und Plätze.
ZUR PERSON
DDP
Hubertus Knabe, Jahrgang 1959, Mitbegründer der Grünen, hat sich früh
für die Opposition im Ostblock engagiert. Von 1992 bis 2000 arbeitete er
beim Bundesbeauftragten für die Stasi- Behörde, seitdem ist er wissenschaftlicher
Direktor der Gedenkstätte Berlin- Hohenschönhausen. Zu seinen Büchern
zählen "Die unterwanderte Republik" und "Der diskrete Charme
der DDR".
In vielen Ortschaften werden auch die vermeintlichen Errungenschaften des Sozialismus
bis heute gefeiert: 337mal
erinnern Straßen der Jugend an den kommunistischen
Jugendkult im Arbeiter- und Bauernstaat. 285mal verewigen Straßen der Einheit
die Zwangsvereinigung von SPD und KPD. 220mal bewahren Straßen der Freundschaft
den "unverbrüchlichen" Bruderbund mit der Sowjetunion. 90mal loben
Straßen der Pioniere die Kinderorganisation der SED. Sogar die Kürzel
der kommunistischen Ära haben vielerorts überlebt - obwohl sie heute
immer weniger Menschen auflösen können: 48 Straßen der DFS, 44
LPG-Straßen und 36 Straßen der MTS feiern die Gesellschaft für
deutsch-sowjetische Freundschaft, die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften
und die Maschinen-Traktoren-Stationen der DDR.
Selbst kommunistische Parteifunktionäre, die an der Errichtung und Aufrechterhaltung
der SED-Diktatur beteiligt waren, werden noch in zahlreichen ostdeutschen Orten
verewigt: 90 Straßen erinnern an den ersten SED-Chef und DDR-Staatspräsidenten
Wilhelm Pieck, 17 an Regierungschef Otto Grotewohl, der den Volksaufstand am
17. Juni niederschlug. ZK-Mitglieder wie Otto Arndt, Kurt Bürger, Erwin
Kramer und Otto Winzer haben ebenfalls überlebt. Sogar Walter Ulbricht,
der bereits 1972 aus dem öffentlichen Leben in der DDR verbannt wurde, hat
noch eine Straße: in Chemnitz. Da fallen die 20 Straßen, die an im
Dienst getötete Grenzsoldaten erinnern, kaum noch ins Gewicht.
Während die Diktatur der SED in den Straßennamen des Ostens fortlebt,
spielt der Widerstand gegen das Regime so gut wie keine Rolle. Ein Aufruf prominenter
Bürgerrechtler aus dem Jahr 2003 hat daran kaum etwas geändert. An
den Volksaufstand von 1953 erinnern heute lediglich 16 Straßennamen, an
Robert Havemann zehn. Ansonsten kommen Opfer des SED-Regimes wie Arno Esch, Jürgen
Fuchs, Walter Janka oder Walter Linse in Deutschland auf zusammen gerade einmal
ein Dutzend Straßen.
Eine Marginalie? Es stimmt etwas nicht in Deutschland, wenn wir im siebzehnten
Jahr der Einheit noch immer in jedem Dorf die kommunistische Diktatur verherrlichen,
die Opfer und den Widerstand jedoch vergessen. Die Politiker haben die Aufgabe,
endlich dieses Missverhältnis zu beseitigen - auch wenn dies bei Anwohnern
oder DDR-Nostalgikern auf Widerstand stößt.