SPIEGEL
ONLINE - 26. Juli 2006, 16:57
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Vier Blauhelm-Soldaten sterben
Stunden der Todesangst im Uno-Posten Chijam
Von Alexander Schwabe
Mehrmals hatten die Blauhelme an die Israelis appelliert, den Beschuss einzustellen
- dann wurde der Beobachtungsposten getroffen, vier Uno-Soldaten wurden getötet.
Der Vorfall erinnert an das Bombardement eines Camps der Friedenstruppe vor genau
zehn Jahren.
Hamburg/Jerusalem - Noch Stunden nach dem tödlichen Angriff auf den Posten
in Chijam im Südlibanon buddeln sich rund 50 Uno-Soldaten durch den Schutt,
den der israelische Angriff hinterlassen hatte. Mit bloßen Händen
und einfachen Werkzeugen versuchen sie, den letzten der vier Kameraden zu bergen,
die bei der Attacke gesternabend ums Leben kamen. Während der Bergungsarbeiten
- Israel hatte dafür eine Feuerpause zugesagt - kommt es nach Angaben eines
Sprechers der Uno-Mission im Libanon zu weiteren Bombardements der israelischen
Armee rund um den zerstörten Uno-Posten.
UNO-POSTEN IM LIBANON: BEOBACHTEN, HELFEN, BERGEN Klicken Sie auf ein Bild, um
die Fotostrecke zu starten (6 Bilder). Der Generalsekretär der Vereinten
Nationen, Kofi Annan, hatte sich "schockiert und zutiefst erschüttert" gezeigt
und die Aktion als "offensichtlich vorsätzlichen Angriff" verurteilt.
Die spätere Entschuldigung des israelischen Ministerpräsidenten Ehud
Olmert nahm Annan allerdings an. Der Uno-Generalsekretär sagte nach einem
Telefonat mit dem Regierungschef: "Olmert denkt zweifellos, dass es ein
Fehler war und hat eine Untersuchung eingeleitet, und ich habe vorgeschlagen,
dass wir eine gemeinsame Untersuchung vornehmen". Olmert habe sein "tiefes
Bedauern" ausgedrückt, fügte Annan hinzu. "Und wir akzeptieren
das."
Israels Botschafter bei der Uno, Danny Gillermann, hatte zuvor den Generalsekretär
scharf angegriffen. Über die "hasserfüllten Äußerungen" Annans
sei er "schockiert", so der Spitzendiplomat. Dessen Behauptungen seien "voreilig
und falsch".
Armee gesteht Angriff ein
Die israelische Armee IDF reagierte erst sehr spät und ausweichend auf die
schwer wiegenden Vorwürfe. Auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE in der Nacht zum
Mittwoch hatte ein Sprecher der Armee noch angedeutet, es könne sich bei
dem Angriff auch um eine Rakete der Hisbollah handeln, die im Uno-Camp eingeschlagen
sei. Ob die IDF überhaupt in dem Gebiet um das Camp Luftangriffe geflogen
habe, könne er aus Geheimhaltungsgründen nicht sagen, so der Sprecher.
Heute reagierte die IDF zunächst überhaupt nicht. Mehrere Anfragen
am Morgen blieben ohne Antwort, es werde eine offizielle Erklärung geben.
Die kam am Nachmittag. Per e-mail teilte die IDF ihre Sicht "bezüglich
des Uno-Camps Chijam" mit. Zuerst einmal führe die IDF nur Operationen "gegen
die Hisbollah durch, um die Bürger Israels zu verteidigen", hieß es.
Schließlich gestand die IDF ein, dass sie in dem Gebiet um das Uno-Camp
operiert hat. "Nach ersten Ermittlungen scheint es so, dass während
der Operation versehentlich das Uno-Camp getroffen wurde", so die Armee.
Wörtlich exakt wie Premierminister Olmert drückte die IDF "tiefes
Bedauern" über den Vorfall aus - und sagte dazu, dass sie "niemals
absichtlich Uno-Gelände oder Uno-Personal" angreifen würde. Der
Angriff - in IDF-Sprache stets "Vorfall" genannt - werde nun in enger
Absprache mit der Uno aufgeklärt.
Letzter Anruf: 19.40 Uhr
Doch die Beschuldigungen Annans scheinen nicht gänzlich grundlos zu sein
- und israelische Soldaten keine Rücksicht auf die Belange der Uno zu nehmen.
Vertreter der Uno, die seit 1978 die israelisch-libanesische Grenze überwacht,
sagten, israelische Truppen hätten bereits am Nachmittag - als Rettungskräfte
noch im Einsatz waren - mehr als ein Dutzendmal das Feuer in der Nähe des
Stützpunktes eröffnet.
Nach Auffassung Annans kann von einem versehentlichen Beschuss keine Rede sein,
denn "General Alain Pelligrini, Kommandeur der Uno-Streitkräfte im
Südlibanon, hatte während des ganzen Tages wiederholt Kontakt zu israelischen
Offizieren aufgenommen und dringend darauf hingewiesen, just diese Uno-Stellung
nicht anzugreifen."
Ein von der Uno angelegtes Protokoll weist aus, dass die erste Bombe gesternmittag
gegen 13.20 Uhr rund 200 Meter vom Uno-Posten einschlug. Die Blauhelme riefen
daraufhin bei einem israelischen Verbindungsoffizier an, der ihnen zugesichert
habe, die Angriffe einzustellen.
Doch das Bombardement ging weiter. Innerhalb der nächsten Stunden schlugen
neun weitere Bomben im Umkreis von 100 bis 400 Metern nahe dem Posten ein. Jedes
Mal hätten die Blauhelme die Israelis über ihre Gefährdung unterrichtet.
Der letzte Anruf ist um 19.40 Uhr verzeichnet - möglicherweise die Zeit,
als der Volltreffer der Israelis in das Uno-Lager einschlug.
Angriff 1996: "Ein Massaker"
Es ist nicht das erstemal, dass die Uno im Libanon Verluste durch israelische
Angriffe erleidet. Den härtesten Schlag verbuchte sie vor genau zehn Jahren.
Die Ereignisse gleichen sich fast aufs Haar, allein, die Zahl der Opfer war damals
ungleich höher. Am 18. April 1996, am achten Tag der damaligen israelischen
Libanon-Offensive "Früchte des Zorns", schlugen Artilleriegranaten
in einem Lager der Uno nahe dem Dorf Kana bei Sidon wenige Kilometer nördlich
der südlibanesischen Sicherheitszone ein. Mindestens 102 libanesische Zivilisten,
rund ein Fünftel derjenigen, die in dem Camp Zuflucht gefunden hatten, wurden
getötet.
Auch dieser Posten war deutlich mit dem Zeichen der Unifil gekennzeichnet (Uno-Friedenstruppen
in Libanon). Auch dieser Angriff galt - so darf man annehmen - der Hisbollah,
die nur 300 Meter von dem Uno-Quartier einen Raketenwerfer stationiert hatte.
Auch damals kam es zu einem verbalen Schlagabtausch zwischen der Uno und Israel.
Uno-Sprecher Timur Goeksel nannte den Vorfall "ein Massaker". Auch
damals bekundete die israelische Führung ihr Bedauern. Auch damals sprach
die Uno (u. a. in einem neunseitigen Bericht) von einem absichtlichen Angriff
der Israelis.
Gespeist wurde die Behauptung von Video-Aufnahmen eines Uno-Soldaten, die eine
Drohne, ein Aufklärungsflugobjekt, über dem Blauhelm-Stützpunkt
zur Zeit des Angriffs zeigt. Israels Behauptung, fehlgeleitete Geschosse hätten
das Flüchtlingscamp getroffen, wurden daraufhin von der Uno zurückgewiesen.
Vielmehr habe es sich bei den insgesamt 15 Geschossen um "offenbar gezielte
Salven" gehandelt. Ein von der Uno entsandter General kam bei seinen Untersuchungen
zu dem Ergebnis, die israelische Armee habe gewusst, dass sie einen Uno-Stützpunkt
bombardiere. Der verantwortliche israelische Kommandeur gab daraufhin an, der
Angriff auf Kana sei auf eine fehlerhafte Karte zurückzuführen.
Auch damals übrigens wurden Forderungen laut, die Uno-Einheiten sollten
gegen schlagkräftige Truppen aus Amerika und Europa ersetzt werden - damals
ging die kriegerische Auseinandersetzung noch Jahre weiter.
Mitarbeit: Matthias Gebauer
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