22. April 2006, Neue Zürcher Zeitung
Religion als Arbeit am Text
Der israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld über sein Herkommen, das Judentum und den Islam
Dass Aharon Appelfeld heute ein israelischer Schriftsteller ist, wurde ihm nicht in die Wiege gelegt. 1932 in der Bukowina als Sohn assimilierter jüdischer Eltern geboren, wurde er erst durch den Holocaust zum Juden. Mit Aharon Appelfeld sprach anlässlich der Leipziger Buchmesse Andreas Breitenstein.
Herr Appelfeld, wenn ich Ihre Romane lese, wird mir Ostmitteleuropa als mythischer Raum gegenwärtig. Was ist Ihr Verhältnis zum realen Osten?
Ich war erst kürzlich in Czernowitz. Ich habe die Stadt verlassen, als ich acht war. Meine konkreten Erinnerungen sind klein. Heute ist es eine ganz andere Stadt. Es ist eine Stadt, in der Ukrainer leben. Grosse, blonde, starke Ukrainer; man spricht Russisch und Ukrainisch, vielleicht noch etwas Rumänisch. Vor dem Weltkrieg gab es in Czernowitz bis zu sechzig Prozent Juden, die meisten sprachen Deutsch. Die Bukowina war eine deutschsprachige Provinz. Unser Haus steht noch, die Gassen gibt es noch, aber sie sind ganz anders, auch wenn sie - völlig heruntergekommen - äusserlich gleich geblieben sind. Czernowitz hat keine Atmosphäre mehr, keine Farbe.

Die Stadt war einst sehr multikulturell.
Ja, was die Bevölkerung angeht, aber die Kultur war die Domäne der Juden. In den dreissiger Jahren stellten sie in Czernowitz die höhere Mittelklasse. Sie waren sehr assimiliert und erfolgreich. Mein Vater war Industrieller, er hat Wind- und Wassermühlen motorisiert.

Das Deutsche war damals hochangesehen.
Mehr noch. Es war eine Religion. Anstelle der jüdischen - die deutsche Sprache, die deutsche Musik, die deutsche Literatur. Man konnte nicht glauben, dass das Deutsche dereinst mit einer solchen Barbarei einhergehen könnte.

Wann merkten Sie, dass etwas nicht stimmte?
1940, gleich nachdem die Deutschen einmarschiert waren. Meine Mutter wurde sofort ermordet. Ich blieb mit meinem Vater im Ghetto. Dann wurden wir deportiert. Es ging alles sehr schnell, ich konnte es nicht verstehen. Es sah aus wie ein Irrtum. Was ist geschehen? Meine Eltern waren wunderschöne Leute.

Waren Sie nicht vor Hitler gewarnt?
Schon, aber man wollte es nicht glauben, betrachtete sich selbst als Europäer und nicht als Juden. Die wenigsten waren konvertiert, aber sie verstanden sich nicht mehr als Juden. Es war ein Selbstwahrnehmungsproblem.
Die quelle des Hebräischen
Sie schreiben heute auf Hebräisch.
Ich habe nach dem Krieg in Italien mit wenigen Worten begonnen und mir die Sprache dann in Israel erschlossen. Hebräisch ist für mich nicht eine natürliche Sprache. Das ist das Deutsche. Aber ich arbeite seit fünfzig Jahren mit der hebräischen Sprache. Ich kenne nicht nur jedes Wort, sondern weiss auch, in welchen literarischen und historischen Kontext es gehört. Die hebräische Sprache erst hat mich zum Juden gemacht, durch sie bin ich zur Bibel gekommen, zu den alten philosophischen und mystischen Büchern. Das Hebräische ist mit der Entwicklung des Judentums eng verbunden. Die ganze jüdische Bewusstwerdung spiegelt sich darin. Jeder Jude musste auf Hebräisch beten. Jeder musste die Bibel kennen und verstehen, den Text und die Kommentare. Auch die einfachen Leute. Die Essenz der jüdischen Kultur ist der Text, nicht der Glaube. Es geht darum, den Text zu verstehen. Die jüdische Religion ist die Arbeit am Text.

Auch der Koran ist ein heiliger Text. Doch stellt er mehr dar als die Worte des Propheten, er selbst ist die Inkarnation Gottes. Die Arbeit am Text konnte es im Islam in dieser aufklärerischen Form wohl daher nicht geben.
Es gibt sehr viele Kommentare zum Koran, doch musste die Analyse des Textes vor dem Glauben zurückstehen. Zu glauben war auch den Juden selbstverständlich, aber ihr Glaube war niemals blind. In der Analyse der Bibel kam stets ein stark rationales Element zur Geltung. Die arabische Kultur ist eine Massenkultur, deren Wissen einfacher strukturiert ist. Der Koran vermittelt sich über eine Reihe von Geboten, die einer einhalten muss, um ein guter Muslim zu sein. Das Judentum war stets eine Minderheiten- oder eine Elitenkultur, in der das intellektuelle Fragen vor dem Religiösen nicht Halt machte: Wie können wir das verstehen? Warum steht das an einer anderen Stelle anders? Wie kommen solche Widersprüche zustande? Wer oder was ist Gott? Etwas Abstraktes oder etwas Konkretes? Eine Figur oder eine Idee?

Das Problem der Juden als verstreutes Volk war immer, sich nicht bis zur Selbstaufgabe zu assimilieren. Wie wurde diese Schwierigkeit gelöst?
Es ist kompliziert und hat dialektische Formen. Es gab im Judentum immer zwei Tendenzen. Die rationalistische Tendenz zum einen und zum andern das mystische Element (etwa im Chassidismus). Das Judentum ist stets parallele Wege gegangen, den analytischen wie den mystisch-magischen. Wenn der Glaube nur rational wäre, wäre er keine Religion mehr. Wenn es eine Mystik gibt, fliessen die Säfte des Glaubens noch.

Die arabische Welt befindet sich in einer tiefgreifenden Modernisierungskrise. Der Islamismus hat Konjunktur. Man versteift sich auf ein archaisch- fundamentalistisches Verständnis von Religion als Reaktion auf die lebensweltliche Herausforderung durch die westliche Kultur.
Es leben in der Gegend unweit von Europa 250 Millionen Araber. Sie können nicht in die moderne Welt hinein: Sie können sie sehen, aber kaum partizipieren. Nehmen Sie nur die arabischen Universitäten. Fast alle sind religiöse Universitäten. Das ist nicht gut für die Wissenschaft.
narzisstische kränkung
Die Trennung von Religion und Staat und Wissenschaft hat nicht stattgefunden. Das Individuum bleibt zurückgebunden an die Gesellschaft.
Stellen Sie sich die Frustration vor. Millionen können sich in ihrer Persönlichkeit nicht so entfalten, wie es ihnen durch Medien und Konsum vor Augen geführt wird. In Israel leben 5,5 Millionen Juden, es gibt zehn Universitäten. Wir haben Industrie, Wissenschaft, Technologie, Wohlstand. Ein kleines Volk im Nahen Osten verfügt über alles, was die moderne Wirklichkeit ausmacht. Israel ist für die arabische Welt eine grosse narzisstische Kränkung.

Israels Reichtum ist nicht zuletzt finanziert worden von den USA und Europa.
Das ist nur ein Aspekt. Man darf die Rolle der Intelligenz aber keineswegs unterschätzen. Als ich Student war an der Universität, stammten alle Professoren aus Deutschland. Mein erster Professor war Martin Buber. Hugo Bergmann, ein Freund Franz Kafkas, war auch mein Lehrer.

Was macht die Juden so kreativ?
Sie besassen stets eine Grundnervosität, eine metaphysische Unruhe.

Wohl auch aus Überlebensinstinkt. Sie mussten frühzeitig merken, wer ihnen an den Hals wollte.
Sie mussten besser sein, weil sie wenige waren. Andere konnten beruhigt sein, besassen ein Land. Es gab niemanden, der sie dauernd bedrohte. Wenn ich in der Schweiz bin, fühle ich diese Ruhe.

Wir leben in einer Zeit der Beschleunigung und Vernetzung. Angesichts des islamistischen Terrors wäre es von weltweitem Interesse, dass die politische und religiöse Aufklärung im arabischen Raum rasch Fortschritte macht. Europa allerdings brauchte Jahrhunderte, um sich zu säkularisieren.
Es ist so, da muss man grosse Geduld haben. Es wird sich vielleicht in fünfzig Jahren etwas bewegen. Innere Entwicklung braucht Zeit. Einerseits geht heute alles sehr schnell, anderseits ändern sich die Menschen nicht. Sie sind verfolgt von schlechtem Denken und schlechten Gefühlen.

Was müsste Israel für eine Lösung des politischen Konflikts tun? Sicher einmal von seiner provokatorischen Besetzungspolitik ablassen.
Israel muss begreifen, dass es ein kleines Land ist und langfristig nicht überleben kann, ohne sich anzupassen. Siebzig bis achtzig Prozent der Bevölkerung wollen den Frieden. Der nationalistische und auch orthodoxe Fanatismus ist im Schwinden begriffen. Einer wie Ariel Sharon, der zur Rechten gehörte, bewegte sich in den letzten Jahren eher auf die linke Seite. Der junge, stolze General wurde weich und flexibel mit dem Alter. Solches gilt für die ganze Gesellschaft.

Wie weit ist Israel im besten Fall bereit zu gehen, was pragmatische Lösungen betrifft?
Sehr weit. Für einen dauerhaften Frieden würde man vielleicht achtzig bis neunzig Prozent der besetzten Gebiete zurückgeben.

Der palästinensische Konflikt mit Israel um Land ist real, für die Araber stellt sich das Problem in hohem Mass aber auch auf der Symbolebene.
Israel stellt für die Araber zweierlei dar: das Jüdische, das in der islamischen Mythologie nur Verachtung findet. Sodann den Westen und die Moderne. Israel ist doppelt negativ besetzt. So etwas lässt sich nicht leicht ändern.A. Bn. Aharon Appelfeld wurde 1932 bei Czernowitz geboren. Im Alter von neun Jahren wurde er, nach der Ermordung der Mutter durch rumänische Faschisten, mit seinem Vater in das Konzentrationslager Transnistria verschleppt. Es gelang ihm, zu fliehen und sich in den Wäldern versteckt zu halten, bis er sich 1944 der Roten Armee als Küchenjunge anschloss. 1946 fand er über Italien nach Palästina. In hebräischer Sprache veröffentlichte er Ende der fünfziger Jahre erste Erzählungen, in denen er das Schicksal der Überlebenden beschreibt. Immer wieder greift Appelfeld in seinen Werken auf die verlorene Welt seiner Kindheit zurück. Zu seinen bekanntesten Romanen gehören «Badenheim» (1975) und «Der Eiserne Pfad» (1991).
 
 
 
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