Die Stadt war einst sehr multikulturell.
Ja, was die Bevölkerung angeht, aber die Kultur war die Domäne der
Juden. In den dreissiger Jahren stellten sie in Czernowitz die höhere
Mittelklasse. Sie waren sehr assimiliert und erfolgreich. Mein Vater war Industrieller,
er hat Wind- und Wassermühlen motorisiert.
Das Deutsche war damals hochangesehen.
Mehr noch. Es war eine Religion. Anstelle der jüdischen - die deutsche
Sprache, die deutsche Musik, die deutsche Literatur. Man konnte nicht glauben,
dass das Deutsche dereinst mit einer solchen Barbarei einhergehen könnte.
Wann merkten Sie, dass etwas nicht
stimmte?
1940, gleich nachdem die Deutschen einmarschiert waren. Meine Mutter wurde
sofort ermordet. Ich blieb mit meinem Vater im Ghetto. Dann wurden wir deportiert.
Es ging alles sehr schnell, ich konnte es nicht verstehen. Es sah aus wie
ein Irrtum. Was ist geschehen? Meine Eltern waren wunderschöne Leute.
Waren Sie nicht vor Hitler gewarnt?
Schon, aber man wollte es nicht glauben, betrachtete sich selbst als Europäer
und nicht als Juden. Die wenigsten waren konvertiert, aber sie verstanden
sich nicht mehr als Juden. Es war ein Selbstwahrnehmungsproblem.
Die quelle des Hebräischen
Sie schreiben heute auf Hebräisch.
Ich habe nach dem Krieg in Italien mit wenigen Worten begonnen und mir die
Sprache dann in Israel erschlossen. Hebräisch ist für mich nicht
eine natürliche Sprache. Das ist das Deutsche. Aber ich arbeite seit
fünfzig Jahren mit der hebräischen Sprache. Ich kenne nicht nur
jedes Wort, sondern weiss auch, in welchen literarischen und historischen
Kontext es gehört. Die hebräische Sprache erst hat mich zum Juden
gemacht, durch sie bin ich zur Bibel gekommen, zu den alten philosophischen
und mystischen Büchern. Das Hebräische ist mit der Entwicklung des
Judentums eng verbunden. Die ganze jüdische Bewusstwerdung spiegelt sich
darin. Jeder Jude musste auf Hebräisch beten. Jeder musste die Bibel
kennen und verstehen, den Text und die Kommentare. Auch die einfachen Leute.
Die Essenz der jüdischen Kultur ist der Text, nicht der Glaube. Es geht
darum, den Text zu verstehen. Die jüdische Religion ist die Arbeit am
Text.
Auch der Koran ist ein heiliger
Text. Doch stellt er mehr dar als die Worte des Propheten, er selbst ist die
Inkarnation Gottes. Die Arbeit am Text konnte es im Islam in dieser aufklärerischen
Form wohl daher nicht geben.
Es gibt sehr viele Kommentare zum Koran, doch musste die Analyse des Textes
vor dem Glauben zurückstehen. Zu glauben war auch den Juden selbstverständlich,
aber ihr Glaube war niemals blind. In der Analyse der Bibel kam stets ein
stark rationales Element zur Geltung. Die arabische Kultur ist eine Massenkultur,
deren Wissen einfacher strukturiert ist. Der Koran vermittelt sich über
eine Reihe von Geboten, die einer einhalten muss, um ein guter Muslim zu sein.
Das Judentum war stets eine Minderheiten- oder eine Elitenkultur, in der das
intellektuelle Fragen vor dem Religiösen nicht Halt machte: Wie können
wir das verstehen? Warum steht das an einer anderen Stelle anders? Wie kommen
solche Widersprüche zustande? Wer oder was ist Gott? Etwas Abstraktes
oder etwas Konkretes? Eine Figur oder eine Idee?
Das Problem der Juden als verstreutes
Volk war immer, sich nicht bis zur Selbstaufgabe zu assimilieren. Wie wurde
diese Schwierigkeit gelöst?
Es ist kompliziert und hat dialektische Formen. Es gab im Judentum immer zwei
Tendenzen. Die rationalistische Tendenz zum einen und zum andern das mystische
Element (etwa im Chassidismus). Das Judentum ist stets parallele Wege gegangen,
den analytischen wie den mystisch-magischen. Wenn der Glaube nur rational
wäre, wäre er keine Religion mehr. Wenn es eine Mystik gibt, fliessen
die Säfte des Glaubens noch.
Die arabische Welt befindet sich
in einer tiefgreifenden Modernisierungskrise. Der Islamismus hat Konjunktur.
Man versteift sich auf ein archaisch- fundamentalistisches Verständnis
von Religion als Reaktion auf die lebensweltliche Herausforderung durch die
westliche Kultur.
Es leben in der Gegend unweit von Europa 250 Millionen Araber. Sie können
nicht in die moderne Welt hinein: Sie können sie sehen, aber kaum partizipieren.
Nehmen Sie nur die arabischen Universitäten. Fast alle sind religiöse
Universitäten. Das ist nicht gut für die Wissenschaft.
narzisstische kränkung
Die Trennung von Religion und Staat und Wissenschaft hat nicht stattgefunden.
Das Individuum bleibt zurückgebunden an die Gesellschaft.
Stellen Sie sich die Frustration vor. Millionen können sich in ihrer
Persönlichkeit nicht so entfalten, wie es ihnen durch Medien und Konsum
vor Augen geführt wird. In Israel leben 5,5 Millionen Juden, es gibt
zehn Universitäten. Wir haben Industrie, Wissenschaft, Technologie, Wohlstand.
Ein kleines Volk im Nahen Osten verfügt über alles, was die moderne
Wirklichkeit ausmacht. Israel ist für die arabische Welt eine grosse
narzisstische Kränkung.
Israels Reichtum ist nicht zuletzt
finanziert worden von den USA und Europa.
Das ist nur ein Aspekt. Man darf die Rolle der Intelligenz aber keineswegs
unterschätzen. Als ich Student war an der Universität, stammten
alle Professoren aus Deutschland. Mein erster Professor war Martin Buber.
Hugo Bergmann, ein Freund Franz Kafkas, war auch mein Lehrer.
Was macht die Juden so kreativ?
Sie besassen stets eine Grundnervosität, eine metaphysische Unruhe.
Wohl auch aus Überlebensinstinkt.
Sie mussten frühzeitig merken, wer ihnen an den Hals wollte.
Sie mussten besser sein, weil sie wenige waren. Andere konnten beruhigt sein,
besassen ein Land. Es gab niemanden, der sie dauernd bedrohte. Wenn ich in
der Schweiz bin, fühle ich diese Ruhe.
Wir leben in einer Zeit der Beschleunigung
und Vernetzung. Angesichts des islamistischen Terrors wäre es von weltweitem
Interesse, dass die politische und religiöse Aufklärung im arabischen
Raum rasch Fortschritte macht. Europa allerdings brauchte Jahrhunderte, um
sich zu säkularisieren.
Es ist so, da muss man grosse Geduld haben. Es wird sich vielleicht in fünfzig
Jahren etwas bewegen. Innere Entwicklung braucht Zeit. Einerseits geht heute
alles sehr schnell, anderseits ändern sich die Menschen nicht. Sie sind
verfolgt von schlechtem Denken und schlechten Gefühlen.
Was müsste Israel für
eine Lösung des politischen Konflikts tun? Sicher einmal von seiner provokatorischen
Besetzungspolitik ablassen.
Israel muss begreifen, dass es ein kleines Land ist und langfristig nicht
überleben kann, ohne sich anzupassen. Siebzig bis achtzig Prozent der
Bevölkerung wollen den Frieden. Der nationalistische und auch orthodoxe
Fanatismus ist im Schwinden begriffen. Einer wie Ariel Sharon, der zur Rechten
gehörte, bewegte sich in den letzten Jahren eher auf die linke Seite.
Der junge, stolze General wurde weich und flexibel mit dem Alter. Solches
gilt für die ganze Gesellschaft.
Wie weit ist Israel im besten Fall
bereit zu gehen, was pragmatische Lösungen betrifft?
Sehr weit. Für einen dauerhaften Frieden würde man vielleicht achtzig
bis neunzig Prozent der besetzten Gebiete zurückgeben.
Der palästinensische Konflikt
mit Israel um Land ist real, für die Araber stellt sich das Problem in
hohem Mass aber auch auf der Symbolebene.
Israel stellt für die Araber zweierlei dar: das Jüdische, das in
der islamischen Mythologie nur Verachtung findet. Sodann den Westen und die
Moderne. Israel ist doppelt negativ besetzt. So etwas lässt sich nicht
leicht ändern.A. Bn. Aharon Appelfeld wurde 1932 bei Czernowitz
geboren. Im Alter von neun Jahren wurde er, nach der Ermordung der Mutter
durch rumänische Faschisten, mit seinem Vater in das Konzentrationslager
Transnistria verschleppt. Es gelang ihm, zu fliehen und sich in den Wäldern
versteckt zu halten, bis er sich 1944 der Roten Armee als Küchenjunge
anschloss. 1946 fand er über Italien nach Palästina. In hebräischer
Sprache veröffentlichte er Ende der fünfziger Jahre erste Erzählungen,
in denen er das Schicksal der Überlebenden beschreibt. Immer wieder greift
Appelfeld in seinen Werken auf die verlorene Welt seiner Kindheit zurück.
Zu seinen bekanntesten Romanen gehören «Badenheim» (1975)
und «Der Eiserne Pfad» (1991).
Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online unter: http://www.nzz.ch/2006/04/22/li/articleDOLYZ.html
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