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ONLINE - 23. Juli 2006, 10:37
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Krieg in Gaza
Die zweite Front
Aus Gaza berichtet Mathieu von Rohr
Die Augen der Welt sind auf den Libanon gerichtet, doch im Gazastreifen wird
heftiger gekämpft denn je. Die israelische Armee macht täglich Jagd
auf Terroristen. Militante Palästinenser feuern Raketen gegen israelische
Städte. Die Menschen im Krisengebiet fühlen sich von der Welt verlassen.
Gaza - Die Soldaten sind weitergezogen, in Beit Hanoun haben sie Zerstörung
hinterlassen und Wut. Vor seinem Haus sitzt Jawad Masri auf einem weißen
Plastikstuhl, er ist 35, ein bärtiger Mann, er schaut ins Leere, auf die
verwüsteten Felder, die zerstörten Häuser.
AP
Kampf im Flüchtlingslager: Militanter Palästinenser
Die Israelis seien mit ihrer Armee gekommen und mit ihren Bulldozern, sagt Jawad
Masri. "Sie haben alles eingeebnet und umgegraben, sogar den Friedhof haben
sie zerstört." Von Haus zu Haus seien sie gegangen, alle Familien hätten
sie in einem Raum zusammengetrieben. "Die Panzer haben alles überrollt,
die Soldaten haben uns behandelt, als ob wir keine Menschen wären. Alle
sind gerannt, Bomben fielen, wir leben hier immer noch unter Besatzung."
Schwarzer Rauch hängt über dem Gazastreifen, das Donnergrollen der
Panzergeschosse, der Lärm der tieffliegenden F-16-Jets. Fast jeden Tag dringt
die israelische Armee in das vollkommen abgeriegelte Palästinensergebiet
ein, die Kämpfe werden immer heftiger. In Gaza herrscht Krieg, fast unbemerkt
von der Weltöffentlichkeit - die sieht nur noch die Schreckensbildern aus
dem Libanon und die Angst in Nordisrael.
Jagd auf Terroristen
In Gaza begann vor vier Wochen die jüngste Eskalation im Nahen Osten, hier
entführten militante Palästinenser den 19-jährigen Grenzsoldaten
Gilad Schalit. Seither macht Israel unerbittlich Jagd auf die Terroristen und
ihre Infrastruktur - es will ihre Waffenlager ausheben, ihre geheimen Tunnel
entdecken. Es will seine schlimmsten Gegner töten.
Spezialeinheiten der Armee durchkämmen Häuser, sie liefern sich Straßenkämpfe
mit palästinensischen Militanten. Gekämpft wurde gegen Ende der vergangenen
Woche vor allem im Flüchtlingscamp Mugazi, hier vermuten die Israelis Unterschlüpfe
und Waffendepots der Terroristen. Jeden Tag werden neue Opferzahlen bekannt.
Schon über hundert Palästinenser haben die Israelis seit Beginn der
Offensive getötet - darunter auch zahlreiche Zivilisten.
In Beit Hanoun, wo Jawad Masri lebt, waren die Soldaten auf der Suche nach den
selbstgebastelten Kassam-Raketen, die von hier aus täglich auf die nur sechs
Kilometer entfernte israelische Stadt Sderot abgefeuert werden - sie treffen
Schulen und Synagogen, sie töten Zivilisten.
Aus Straßen werden Dreckpisten
Jetzt haben die Panzer aus den Straßen von Beit Hanoun unbefahrbare Dreckpisten
gemacht. Viele Häuser sind von den Kämpfen schwer beschädigt.
Die umliegenden Felder, auf denen sonst Gemüse und Oliven wachsen, sind
verwüstet. Das Gebäude der palästinensischen Sicherheitsbehörde,
das ein hundert Meter entfernt liegt, ist eine Ruine.
Jawad Masri ist traurig und er ist wütend - auf die Israelis, auf die Amerikaner,
auf die Europäer. "Um uns kümmert sich keiner", sagt er, "so
schlimm wie jetzt war es noch nie."
Gaza ist ein gespenstisches Niemandsland geworden, zugänglich fast nur für
Diplomaten und Medien. Der gigantische Checkpoint bei Erez, wo früher jeden
Tag Tausende Palästinenser nach Israel zur Arbeit pendelten, ist ausgestorben.
Kilometerlang marschiert man auf der israelischen Seite durch menschenleere Sicherheitsportale,
durch sich selbständig öffnende und schließende Türen, als
ob man ein Gefängnis betritt. Auf der palästinensischen Seite sitzt
ein einsamer schnauzbärtiger Uniformierter an einem Holztisch. Willkommen
in Gaza.
Strom nur stundenweise
Der schmale Landstrich ist gezeichnet von vier Wochen Kriegszustand. Schwerer
Gestank hängt in den Straßen, der Müll liegt überall haufenweise.
Weil es kaum noch Diesel für die Lastwagen gibt, wird der Müll nicht
eingesammelt. Kleine Jungen fahren mit Eselskarren durch die Gegend, sie transportieren
Gasflaschen, damit zu Hause gekocht werden kann. Seit die Israelis das einzige
Elektrizitätswerk des Gazastreifens bombardiert haben, gibt es Strom nur
stundenweise - dafür hört man jetzt überall dass sonore Summern
der Generatoren. Die Wasserversorgung funktioniert kaum. Auch manche Lebensmittel
werden knapp. Hilfsorganisationen und Diplomaten sind besorgt, dass sich die
humanitäre Situation schnell verschlechtern könnte.
Noch hängen überall in Gaza vergilbte Wahlplakate vom vergangenen Januar,
doch es scheint bereits eine Ewigkeit her, dass dieses anarchische Land eine
Regierung hatte. Ihre Mitglieder gehören der Hamas an und sie verstecken
sich, seit Israel klargemacht hat, dass sie alle ihre Vertreter als Angehörige
einer terroristischen Organisation und damit als Ziele betrachte - selbst Premierminister
Ismail Hanijah.
Ein Hamas-Politiker kommt aus der Deckung
Yahya Mosa al-Abadsi, 47, empfängt in seiner Wohnung in Khan Yunis, sein
Sohn serviert frische Limonade. Er ist der stellvertretende Fraktionschef im
Parlament, einer der wenigen Politiker der Hamas, die im Moment bereit sind aus
ihrer Deckung zu kommen. Er sitzt auf seiner crèmefarbenen Sitzgarnitur,
sein Bart ist gepflegt, er trägt schwarze Hosen und ein schwarzes Hemd,
er sagt: "Gaza wird massakriert. In Gaza findet ein Holocaust statt, jetzt
und seit 58 Jahren."
Er faltet seine Hände, er redet bedächtig, aber er betont jede Silbe. "Die
Israelis sind Idioten, sie sind Opfer ihrer Führer. So gibt es hier keine
Zukunft für sie. Sie hatten keinen Tag des Friedens, seit sie hier leben
und sie werden auch die nächsten 1000 Jahre keinen Tag des Friedens haben,
wenn sie sich weiter wie Tiere verhalten. Wir leiden, aber sie werden auch leiden."
Israel werde nicht überleben - aber nicht die Palästinenser würden
Israel zerstören, Israel werde sich selber zerstören. "Was ist
Israel? Eine Armee, die einen Staat hat!"
Gegen das Waffenarsenal der Israelis seien die Kassam-Raketen der Palästinenser
nur Kinderkram, sagt er. "Unsere Raketen haben 5 Kilo Sprengstoff, ihre
haben 1 Tonne. Sie haben F-16, wir haben Papierflugzeuge. Die haben jede Waffe
der Welt, wir haben nichts, was sollen wir denn tun?"
Er legt die Hand auf die Schulter seines Sohnes, der im blauen T-Shirt neben
ihm sitzt und sich an der Nase kratzt. Er sagt: "Mohammed ist acht Jahre
alt. Seine ganze Hoffnung ist es, als Märtyrer zu sterben. Habe ich ihm
das beigebracht? Nein! Die Bilder, die er Tag und Nacht sieht, haben es ihm beigebracht.
Das macht die Besatzung aus den Leuten."
Palästina gehöre den Palästinensern sagt er, Israel sei nur 58
Jahre alt, ein europäisches Projekt. Aber die Hamas sei realistisch. "Wir
wollen verhandeln. Wir wollen eine Lösung. Wir fordern nur einen Staat von
22 Prozent Palästinas, die Rückgabe der besetzten Gebiete von 1967.
Das ist das Minimum."
"
Sie werden ihre Leute nicht umsonst kriegen"
Die Israelis müssten jetzt verhandeln, sie seien näher daran die Sonne
zu fangen als ihre Soldaten zu finden. "Mit Gewalt werden sie sie nicht
zurückerhalten. Sie haben zehntausend Palästinenser in ihren Gefängnissen.
Sie werden ihre Leute nicht umsonst kriegen."
Aber solange unterstütze er den Kampf der Hisbollah. "Der Feind meines
Feindes ist mein Freund. Wir sind alle mit der Hisbollah, nicht nur die Hamas,
sondern alle Palästinenser."
Doch viele Palästinenser sind des Kämpfens müde. Das Radio meldet
Tote in Mughazi, es berichtet von schweren Gefechten, von toten Zivilisten und
von einem israelischen Kriegsschiff, das einen Krankenwagen getroffen habe.
Jawad Masri, der Mann, der in Beit Hanoun auf seinem weißen Plastikstuhl
sitzt und traurig ins Leere blickt, sagt, es müsse endlich ein Ende haben. "Feinde
führen Krieg, das stimmt. Aber Feinde können auch Frieden schließen." Er
wolle, dass sich alle endlich an einen Tisch setzten - die Israelis, die Fatah
und auch die Hamas. "Das ist schließlich unsere Regierung, wir haben
sie gewählt."
Doch der Frieden ist im Moment weiter entfernt denn je. Die Israelis sind entschlossen,
ihre Offensive zu Ende zu bringen und die Terroristen in Gaza entscheidend zu
schwächen. Die zornigen jungen Männer der palästinensischen Terrorgruppen
sind ebenso entschlossen, bis zum letzten Mann zu kämpfen.
"
Wir wollen Rache", lässt ein Sprecher der Al-Aksa-Brigaden die Welt
wissen. "Die Frauen wollen Rache, sogar die Kinder wollen jetzt schon Rache.
Jeder Palästinenser will ein Märtyrer sein."
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