19. Juli 2006
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IRAK
Tausende Zivilisten getötet
Die Gewalt im Irak ist nicht zu stoppen: Laut den Vereinten Nationen sind allein im Mai und im Juni fast 6000 Zivilisten bei Anschlägen oder Verbrechen getötet worden. Auch am Mittwoch wurde erneut Dutzende Menschen ermordet.New York - Die Uno-Mission berichtete von Attentaten, Bombenanschlägen, Entführungen, Folter und Einschüchterungen. Hunderte Lehrer, Richter, Ärzte und Religionsführer seinen mit dem Tode bedroht worden, Tausende Menschen hätten das Land inzwischen verlassen, heißt es in dem Bericht. Die Vereinten Nationen zeigten sich besorgt über die steigende Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch die wahllosen oder auch gezielten Anschläge von Terroristen. Allein am Montag und Dienstag wurden bei zwei Anschlägen im Irak mehr als 120 Menschen getötet.
Donnerstag, den 20. Juli

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19. Juli 2006
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HISTORIKER TOM SEGEV
" Israel hat nur auf eine Gelegenheit gewartet"
Scharfe Kritik an der eigenen Regierung: Israels Militäroffensive im Libanon sei lange geplant gewesen, glaubt der israelische Historiker Segev. Die Regierung habe nur auf einen Anlass gewartet. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE erläutert Segev, warum es im Moment keinen Frieden geben kann.SPIEGEL ONLINE: Herr Segev, hätte sich die Krise im Norden Israels vermeiden lassen?
Dan Porges
Tom Segev: "Olmert hat versagt"
Tom Segev: Ja. Die Entführung der beiden Soldaten ist keine Rechtfertigung, um so eine Krise loszutreten, und sie wird auch nicht dazu beitragen, die beiden Soldaten zu befreien. Es sieht vielmehr so aus, als ob die Militäraktion vorbereitet war und man bloß auf eine Gelegenheit wartete, zum Beispiel die Entführung von Soldaten. Israel hat sich, so glaube ich, in eine Situation verstrickt, die viel umfangreicher und gefährlicher ist, als dies dem Interesse Israels entspricht.
SPIEGEL ONLINE: Möglicherweise will Premier Ehud Olmert zeigen, wer der Starke ist, um das Abschreckungspotential zu erhöhen. Wird ihm dieser Beweis gelingen?
Segev: Olmert ist ein schwacher Politiker, und auch die Regierung ist schwach. Nur eine starke Regierung wäre in der Lage gewesen, den Israelis klar zu machen, dass die Entführung von zwei Soldaten keinen Krieg wert ist. Doch wie gesagt: Olmert ist ein schwacher und zudem ein unpopulärer Politiker. Jetzt versucht er, ein väterlicher und beliebter Anführer zu werden, präsentiert sich als Premier, der das Volk in einem unvermeidbaren Krieg führt.
SPIEGEL ONLINE: Wird ihn die Krise innenpolitisch stärken?

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Nahost - wie kann die Gewalteskalation beendet werden?
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Neuester: Heute, 14.39 Uhr
von FaripiY
Segev: Vielleicht ja. Es kommt auf das Resultat der Krise an. Günstig läuft es für ihn aus, wenn Israel keine oder nur wenige Verluste zu beklagen hat.
SPIEGEL ONLINE: Derzeit ist in Israel kaum Kritik an der Regierung zu hören. 80 Prozent unterstützen das Vorgehen im Libanon. Woran liegt das?
Segev: Es herrscht eine Atmosphäre von Rache, es kommt eine Feindseligkeit gegenüber der Bevölkerung in Beirut zum Vorschein. Die Hisbollah hat uns alle überrascht. Haifa ist ja kein Ort, der beschossen werden sollte - das sind wir eher von den Ortschaften an der Grenze zum Libanon gewohnt. Aber Haifa liegt ja mitten im Land. Es gibt also gute Gründe, sehr ärgerlich zu sein über die Hisbollah und deren Chef Hassan Nasrallah. Das ist eine echte Empörung. Seit Saddam Hussein Israel angegriffen hat, haben wir diese Erfahrung nicht gemacht. Aber die Kritik an der Regierung kann noch kommen.
SPIEGEL ONLINE: Wann?
Segev: Wenn wir viele Verluste hinnehmen müssen. Israel ist eine verwöhnte Gesellschaft. Wir dulden keinen Terror, ganz im Gegensatz zu dem, was uns die Regierung vormacht, wenn sie von "Standhaftigkeit" spricht. Standhaft sind wir nur, solange wir keine Verluste hinnehmen müssen. Israel ist im Prinzip eine zerbrechliche Gesellschaft. Das Image, das wir eine starke Gesellschaft seien, ist ein Mythos, den die Regierung benutzt. Sehen sie doch, wie die Leute im Norden ihre Häuser verlassen. Doch das ist normal: Wenn geschossen wird, verlassen die Menschen ihre Häuser.
SPIEGEL ONLINE: Und stellen sich hinter die Regierung?
Segev: Es gibt so ein Gefühl wie "endlich haben wir wieder wirklichen Krieg, wir sammeln Spielzeuge für die Kinder, die im Bunker sind und schicken Freiwillige zu den Armen". Wir sind solidarisch, vergessen sogar alle Streitereien in der Innenpolitik. Olmert macht den Versuch, die Hisbollah und die Hamas in einen Topf zu werfen. Aber das Problem liegt nicht in Teheran. Wir müssen vielmehr das Problem mit den Palästinensern in den Griff kriegen.
SPIEGEL ONLINE: Droht eine Invasion mit Bodentruppen?
Segev: Kaum. Denn Israel hat sich vom Trauma der letzten Invasion im Libanon noch nicht gelöst. Deshalb hieß es jetzt vom ersten Tag an: Auf keinen Fall werden wir im Libanon einmarschieren. Diesen Fehler haben wir nämlich schon mal gemacht, und dann dauerte es 18 Jahre, bis wir wieder draußen waren. Ein Einmarsch mit Bodentruppen würde von der Bevölkerung nicht unterstützt werden.
SPIEGEL ONLINE: Die Hisbollah soll von der Grenze zu Israel verdrängt und durch libanesische Truppen ersetzt werden, wenn es nach Olmert geht. Ist das ein realistisches Ziel?
Segev: Das weiß ich nicht. Ich bin nicht genügend gut über den Libanon informiert. Doch ich glaube, dass der Krieg von unserem wirklichen Problem ablenkt.
SPIEGEL ONLINE: Und das wäre?
Segev: Unsere Beziehungen zu den Palästinensern. Wir sagen jetzt, dass die Gefahr aus Iran komme, weil Teheran die Hisbollah unterstützt. Aber unser Problem liegt in Gaza und in Nablus, nicht in Beirut. Selbst wenn die Amerikaner Iran erobern würden, bliebe unser Grundproblem bestehen: Die Beziehungen zu den Palästinensern.
SPIEGEL ONLINE: Wie beurteilen Sie Olmert in seiner ersten Bewährungsprobe als Premier?
Segev: Nach seiner Rede vom Montag sieht es so aus, als ob er seine Sache gut macht. Ich höre zwar fast jedes Klischee, das seine Vorgänger Menachem Begin und Schimon Peres - beides hervorragende Redner - benutzt haben. Doch erstmals hat es Olmert geschafft, eine warme Beziehung zur Bevölkerung zu finden. Olmert ist von seinem Naturell her ein zynischer, kalter, professioneller Politiker, der nie als "Vater" des Landes betrachtet wurde. Das wollte er mit seiner Rede vom Montag ändern. Deshalb sprach er die Eltern der Gefangenen persönlich an, nannte die Namen von Opfern - das kommt gut an. Das Volk bekam zwar keine Antworten auf die Frage, wohin es geht, aber es hörte eine starke Sprache. Das hat sicher viele beeindruckt. Olmert wollte das Gefühl vermitteln, dass man sich auf ihn verlassen kann.
SPIEGEL ONLINE: Olmert verspricht Frieden oder zumindest Ruhe vor Terror. Bringt der Krieg gegen die Hisbollah Israel diesem Ziel einen Schritt näher?
Segev: Nein. Krieg hat im Nahen Osten noch nie Frieden gebracht. Es kann keinen Frieden geben im Moment. Im Vordergrund steht das Management der Krise. Und da hat Olmert eindeutig versagt. Er hat uns wieder in einen Krieg verwickelt. Als Historiker kommt mir das vor wie eine Situation, die es eigentlich nicht mehr geben sollte.
Das Interview führte Pierre Heumann, Nahostkorrespondent der "Weltwoche".ZUM THEMA IN SPIEGEL ONLINE
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9. Juli 2006
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ESKALATION IN NAHOST
Uno erwägt Untersuchung wegen Kriegverbrechen
Bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen im Nahen Osten sind nach Auffassung der Vereinten Nationen möglicherweise Kriegsverbrechen verübt worden. Kommissarin Louise Abour drohte den Verantwortlichen mit Konsequenzen.

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Genf - Besonders durch das Ausmaß und die Vorhersagbarkeit der Tötung und Verletzung von Zivilisten im Libanon, in Israel und in den Palästinensergebieten könnte der Tatbestand des Kriegsverbrechens erfüllt sein, erkläre Uno-Menschenrechtskommissarin Louise Arbour. Der Schutz der Zivilbevölkerung sei im internationalen Strafrecht festgeschrieben, das auch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ahnde.
Die Art und Weise der Tötungen an Zivilisten könnte eine strafrechtliche Verantwortung derjenigen mit sich bringen, die in eine führende Rolle in den Auseinandersetzungen spielten, erklärte Arbour. Sie nannte in dem Zusammenhang Befehlshaber sowie Personen, die Kontrollfunktionen ausübten, beschuldigte aber niemanden konkret.
Bei den schwersten Luftangriffen Israels auf den Libanon seit Kriegsbeginn vor acht Tagen kamen am Mittwoch 58 Menschen ums Leben. Bis auf einen Kämpfer der radikal-islamischen Hisbollah-Miliz handelte es sich bei allen Todesopfern um Zivilisten. In Israel kamen bei Raketenangriffen der Hisbollah zwei Kinder ums Leben.
agö/Reuters