19. Juli 2006
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HISTORIKER TOM SEGEV
"
Israel hat nur auf eine Gelegenheit gewartet"
Scharfe Kritik an der eigenen Regierung: Israels Militäroffensive im
Libanon sei lange geplant gewesen, glaubt der israelische Historiker Segev.
Die Regierung habe nur auf einen Anlass gewartet. Im Interview mit SPIEGEL
ONLINE erläutert Segev, warum es im Moment keinen Frieden geben kann.SPIEGEL
ONLINE: Herr Segev, hätte sich die Krise im Norden Israels vermeiden
lassen?
Dan Porges
Tom Segev: "Olmert hat versagt"
Tom Segev: Ja. Die Entführung der beiden Soldaten ist keine Rechtfertigung,
um so eine Krise loszutreten, und sie wird auch nicht dazu beitragen, die
beiden Soldaten zu befreien. Es sieht vielmehr so aus, als ob die Militäraktion
vorbereitet war und man bloß auf eine Gelegenheit wartete, zum Beispiel
die Entführung von Soldaten. Israel hat sich, so glaube ich, in eine
Situation verstrickt, die viel umfangreicher und gefährlicher ist, als
dies dem Interesse Israels entspricht.
SPIEGEL ONLINE: Möglicherweise will Premier Ehud Olmert zeigen, wer
der Starke ist, um das Abschreckungspotential zu erhöhen. Wird ihm dieser
Beweis gelingen?
Segev: Olmert ist ein schwacher Politiker, und auch die Regierung ist schwach.
Nur eine starke Regierung wäre in der Lage gewesen, den Israelis klar
zu machen, dass die Entführung von zwei Soldaten keinen Krieg wert ist.
Doch wie gesagt: Olmert ist ein schwacher und zudem ein unpopulärer
Politiker. Jetzt versucht er, ein väterlicher und beliebter Anführer
zu werden, präsentiert sich als Premier, der das Volk in einem unvermeidbaren
Krieg führt.
SPIEGEL ONLINE: Wird ihn die Krise innenpolitisch stärken?
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von FaripiY
Segev: Vielleicht ja. Es kommt auf das Resultat der Krise an. Günstig
läuft es für ihn aus, wenn Israel keine oder nur wenige Verluste
zu beklagen hat.
SPIEGEL ONLINE: Derzeit ist in Israel kaum Kritik an der Regierung zu hören.
80 Prozent unterstützen das Vorgehen im Libanon. Woran liegt das?
Segev: Es herrscht eine Atmosphäre von Rache, es kommt eine Feindseligkeit
gegenüber der Bevölkerung in Beirut zum Vorschein. Die Hisbollah
hat uns alle überrascht. Haifa ist ja kein Ort, der beschossen werden
sollte - das sind wir eher von den Ortschaften an der Grenze zum Libanon
gewohnt. Aber Haifa liegt ja mitten im Land. Es gibt also gute Gründe,
sehr ärgerlich zu sein über die Hisbollah und deren Chef Hassan
Nasrallah. Das ist eine echte Empörung. Seit Saddam Hussein Israel angegriffen
hat, haben wir diese Erfahrung nicht gemacht. Aber die Kritik an der Regierung
kann noch kommen.
SPIEGEL ONLINE: Wann?
Segev: Wenn wir viele Verluste hinnehmen müssen. Israel ist eine verwöhnte
Gesellschaft. Wir dulden keinen Terror, ganz im Gegensatz zu dem, was uns
die Regierung vormacht, wenn sie von "Standhaftigkeit" spricht.
Standhaft sind wir nur, solange wir keine Verluste hinnehmen müssen.
Israel ist im Prinzip eine zerbrechliche Gesellschaft. Das Image, das wir
eine starke Gesellschaft seien, ist ein Mythos, den die Regierung benutzt.
Sehen sie doch, wie die Leute im Norden ihre Häuser verlassen. Doch
das ist normal: Wenn geschossen wird, verlassen die Menschen ihre Häuser.
SPIEGEL ONLINE: Und stellen sich hinter die Regierung?
Segev: Es gibt so ein Gefühl wie "endlich haben wir wieder wirklichen
Krieg, wir sammeln Spielzeuge für die Kinder, die im Bunker sind und
schicken Freiwillige zu den Armen". Wir sind solidarisch, vergessen
sogar alle Streitereien in der Innenpolitik. Olmert macht den Versuch, die
Hisbollah und die Hamas in einen Topf zu werfen. Aber das Problem liegt nicht
in Teheran. Wir müssen vielmehr das Problem mit den Palästinensern
in den Griff kriegen.
SPIEGEL ONLINE: Droht eine Invasion mit Bodentruppen?
Segev: Kaum. Denn Israel hat sich vom Trauma der letzten Invasion im Libanon
noch nicht gelöst. Deshalb hieß es jetzt vom ersten Tag an: Auf
keinen Fall werden wir im Libanon einmarschieren. Diesen Fehler haben wir
nämlich schon mal gemacht, und dann dauerte es 18 Jahre, bis wir wieder
draußen waren. Ein Einmarsch mit Bodentruppen würde von der Bevölkerung
nicht unterstützt werden.
SPIEGEL ONLINE: Die Hisbollah soll von der Grenze zu Israel verdrängt
und durch libanesische Truppen ersetzt werden, wenn es nach Olmert geht.
Ist das ein realistisches Ziel?
Segev: Das weiß ich nicht. Ich bin nicht genügend gut über
den Libanon informiert. Doch ich glaube, dass der Krieg von unserem wirklichen
Problem ablenkt.
SPIEGEL ONLINE: Und das wäre?
Segev: Unsere Beziehungen zu den Palästinensern. Wir sagen jetzt, dass
die Gefahr aus Iran komme, weil Teheran die Hisbollah unterstützt. Aber
unser Problem liegt in Gaza und in Nablus, nicht in Beirut. Selbst wenn die
Amerikaner Iran erobern würden, bliebe unser Grundproblem bestehen:
Die Beziehungen zu den Palästinensern.
SPIEGEL ONLINE: Wie beurteilen Sie Olmert in seiner ersten Bewährungsprobe
als Premier?
Segev: Nach seiner Rede vom Montag sieht es so aus, als ob er seine Sache
gut macht. Ich höre zwar fast jedes Klischee, das seine Vorgänger
Menachem Begin und Schimon Peres - beides hervorragende Redner - benutzt
haben. Doch erstmals hat es Olmert geschafft, eine warme Beziehung zur Bevölkerung
zu finden. Olmert ist von seinem Naturell her ein zynischer, kalter, professioneller
Politiker, der nie als "Vater" des Landes betrachtet wurde. Das
wollte er mit seiner Rede vom Montag ändern. Deshalb sprach er die Eltern
der Gefangenen persönlich an, nannte die Namen von Opfern - das kommt
gut an. Das Volk bekam zwar keine Antworten auf die Frage, wohin es geht,
aber es hörte eine starke Sprache. Das hat sicher viele beeindruckt.
Olmert wollte das Gefühl vermitteln, dass man sich auf ihn verlassen
kann.
SPIEGEL ONLINE: Olmert verspricht Frieden oder zumindest Ruhe vor Terror.
Bringt der Krieg gegen die Hisbollah Israel diesem Ziel einen Schritt näher?
Segev: Nein. Krieg hat im Nahen Osten noch nie Frieden gebracht. Es kann
keinen Frieden geben im Moment. Im Vordergrund steht das Management der Krise.
Und da hat Olmert eindeutig versagt. Er hat uns wieder in einen Krieg verwickelt.
Als Historiker kommt mir das vor wie eine Situation, die es eigentlich nicht
mehr geben sollte.
Das Interview führte Pierre Heumann, Nahostkorrespondent der "Weltwoche".ZUM THEMA IN SPIEGEL ONLINE
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Genf - Besonders durch das Ausmaß und die Vorhersagbarkeit der Tötung
und Verletzung von Zivilisten im Libanon, in Israel und in den Palästinensergebieten
könnte der Tatbestand des Kriegsverbrechens erfüllt sein, erkläre
Uno-Menschenrechtskommissarin Louise Arbour. Der Schutz der Zivilbevölkerung
sei im internationalen Strafrecht festgeschrieben, das auch Kriegsverbrechen
und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ahnde.
Die Art und Weise der Tötungen an Zivilisten könnte eine strafrechtliche
Verantwortung derjenigen mit sich bringen, die in eine führende Rolle
in den Auseinandersetzungen spielten, erklärte Arbour. Sie nannte in dem
Zusammenhang Befehlshaber sowie Personen, die Kontrollfunktionen ausübten,
beschuldigte aber niemanden konkret.
Bei den schwersten Luftangriffen Israels auf den Libanon seit Kriegsbeginn
vor acht Tagen kamen am Mittwoch 58 Menschen ums Leben. Bis auf einen Kämpfer
der radikal-islamischen Hisbollah-Miliz handelte es sich bei allen Todesopfern
um Zivilisten. In Israel kamen bei Raketenangriffen der Hisbollah zwei Kinder
ums Leben.
agö/Reuters