SPIEGEL
ONLINE - 31. März 2006, 12:05
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Harvard-Schnappschuss
Antisemitismus-Verdacht im Elfenbeinturm
Von Gregor Peter Schmitz
Der renommierte Professor Stephen Walt hat einen Artikel veröffentlicht,
der die Uni Harvard aufwühlt und passagenweise klingt wie frisch aus dem
Antisemiten-Chatroom. Schuld an Terrorgefahr und Irakkrieg sei die mächtige "Israel-Lobby" in
den USA, behauptet er.
David Gergen hat schon so manche Krise erlebt. Als PR-Berater von vier US-Präsidenten
musste der Harvard-Professor die Vergesslichkeiten eines Ronald Reagan bemänteln
oder die Frauengeschichten eines Bill Clintons tapfer weglächeln. Aber selbst
der sturmerprobte Gergen wirkt aufgewühlt, wenn er von den vielen Telefonaten
der vergangenen Tage erzählt: "Spender und Ehemalige der Uni rufen
dauernd an", berichtet Gergen. "Sie fragen immer dasselbe: Was ist
nur los da in Harvard?"
Pascal Wallisch
Uni Harvard: Große Aufregung über einen Israel-Artikel
Auslöser von Gergens hektischer Telefonseelsorge ist ein 83 Seiten langes
Papier, das vor zwei Wochen auf der Website von Harvards Kennedy School of Government
erschien. Einer der beiden Autoren ist Stephen Walt, Professor an der Kennedy
School und einer der renommiertesten Außenpolitik-Forscher der USA. Gemeinsam
mit seinem nicht minder bekannten Kollegen John Mearsheimer von der University
of Chicago hat er sich eines Themas angenommen, das per se Brisanz garantiert
- die angebliche Manipulation amerikanischer Außenpolitik durch pro-israelische
Interessengruppen. Zudem setzten Walt und Mearsheimer über ihre Analyse
einen Titel, wie er aus Antisemiten-Chatrooms vertraut klingt: "The Israel
Lobby and US Foreign Policy" ("Die Israel-Lobby und die US-Außenpolitik").
Die zentralen Thesen des Papiers sind kaum weniger zugespitzt: Den beiden Professoren
zufolge hat eine kleine, aber ungeheuer einflussreiche Gruppe radikaler amerikanischer
Israelfreunde die Außenpolitik der USA "gekidnappt". Zu dieser
Lobby gehörten wortgewaltige Individuen wie der Harvardjurist Alan Dershowitz
oder der prominenteste Neokonservative Paul Wolfowitz - und mächtige Institutionen
auf der Linken und der Rechten, von der liberalen Denkfabrik Brookings Institute
und der "New York Times" bis zum konservativen "Wall Street Journal".
Leitungsposten weg, Professur in Gefahr
"
Keine andere Lobbygruppe hat es geschafft, amerikanische Außenpolitik so
weit weg von ihren Interessen zu lotsen", zürnen die Autoren. Die enge
Bindung der USA an Israel sei nämlich zum großen Teil verantwortlich
für die aktuelle Terrorgefahr - und habe die Vereinigten Staaten in den
Irakkrieg getrieben.
Das Papier detonierte wie eine Bombe. Robert Belfer, israelfreundlicher Geschäftsmann
und großzügiger Harvard-Spender, forderte Walt auf, nicht unter dem
Namen seiner Professur zu agieren - denn Belfer bezahlt die Professur. Alan Dershowitz
nannte die beiden Forscher "Lügner" und "Fanatiker".
Und warf ihnen gar vor, ganze Passagen von rechtsradikalen Websites übernommen
zu haben.
Auch unter weniger persönlich betroffenen Harvardprofessoren machte sich
rasch Unbehagen breit, dass solche Thesen unter dem offiziellen Uni-Logo erschienen.
Nach einem Bericht der "New York Sun" wird in der Fakultät der
Kennedy School gar eine offizielle Untersuchung der wissenschaftlichen Genauigkeit
des working paper erwogen. Solche Exegesen haben in der Vergangenheit in Extremfällen
schon zur Aberkennung einer Professur geführt. Als akademischer Direktor
soll Stephen Walt im Sommer abtreten, hieß es nun von der Leitung der Kennedy
School.
Dabei bestreitet kaum jemand an der Hochschule, dass die massive finanzielle,
diplomatische und militärische Hilfe der Amerikaner für Israel seit
den sechziger Jahren sowie die starke Lobbystellung pro-israelischer Organisationen
wie des American Israel Public Affairs Committee (AIPAC) spannende Forschungssujets
sind. Es geht vielmehr um die Frage, wie man bei einem so aufgeladenen Thema
methodisch vorgeht. Walt und Mearsheimer stützen ihre wenig subtilen Vorwürfe
fast durchweg auf Sekundärquellen - oft Zeitungsartikel, die teils eher
schlampig übers Internet zusammengestellt scheinen. Auf den ersten Blick
unterscheidet sich ihr Papier gar nicht so sehr von früheren Polemiken ähnlichen
Inhalts, die einschlägige links- und rechtsradikale Kreise seit Jahren ins
Netz stellen.
Kollektives Kopfschütteln im Elfenbeinturm
Und so etwas von Stephen Walt und John Mearsheimer? In ihrer bisherigen Arbeit
haben beide sich einen Namen als unbestechliche Analysten gemacht, die außenpolitisches
Handeln nüchtern auf amerikanische Interessen abklopfen. Ihre Forschungswerke
sind bekannt für umfangreiche Fußnotenapparate und sorgfältigste
Recherche (Walts jüngstes Buch "Taming American Power" wurde von
der Kritik gerade als wegweisendes Werk zur US-Außenpolitik gefeiert).
Dass ausgerechnet solche Wissenschaftler sich zu einer so angreifbaren Studie
hinreißen lassen, sorgt für kollektives Kopfschütteln im Elfenbeinturm
von Cambridge - dies auch, weil an US-Hochschulen, gerade in Harvard, die Debatte
um Nahost und angeblichen neuen Antisemitismus in der jüngeren Vergangenheit
immer wieder für Schlagzeilen sorgte.ZUR PERSON
Gregor Peter Schmitz, 30,
studierte in München, Paris, Cambridge und an der Universität Harvard.
Mehr als jedes Seminar faszinieren den Juristen und Politologen die kleinen Geschichten
hinter pompösen Uni- Mauern - bizarre Traditionen, akademische Eitelkeiten,
das Nebeneinander von Geist und Geld. Solche Geschichten sendet er als "Schnappschüsse" an
SPIEGEL ONLINE.
Harvards Kennedy School hat mittlerweile sein Logo auf dem Artikel entfernen
lassen und klargestellt, dass es sich hierbei um die Privatmeinung der Professoren
handele. Die verteidigen die Publikation unter Hochschul-Wappen trotzig als einzigen
Ausweg. In Amerika traue sich ja kein Verlag oder Magazin, solche Kritik abzudrucken.
Doch wenn das Duo einfach nur eine wilde Debatte entfachen wollte, scheint es
gescheitert. Krisenmanager David Gergen hat sich darauf zwar ein wenig eingelassen,
indem er in einem eigenen Artikel einige Pauschalisierungen des "Israel
Lobby"-Papiers scharf angriff - etwa das Ausblenden anderer Lobbygruppen,
das Mosaik an Gründen für die Irak-Intervention, die strategische Bedeutung
von Israel für Amerika, die keineswegs eindeutige Haltung amerikanischer
Juden zu Israel. Indes berichten viele führenden amerikanischen Zeitungen
und Fernsehsender bislang nicht ausführlich über die kontroverse Publikation
- um sie nicht weiter aufzuwerten.
Das wiederum könnte die Forscher in ihren Verschwörungstheorien noch
bestätigen. Walt und Mearsheimer geben seit Erscheinen des Artikels keine
Interviews mehr. Doch aus der Woche davor sind von ihnen Prophezeiungen überliefert: "Es
ist klar, dass die Lobby zurückschlagen wird", raunten sie da düster.
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