Der schwedische Schriftsteller Lars Gustafsson hat das späte Bekenntnis
seines deutschen Kollegen Günter Grass zur Mitgliedschaft in der Waffen-SS
am Montag in Stockholm als „schreckliche Geschichte“ eingestuft.
Er sagte: „Man glaubt, man kennt die Menschen, aber von dieser Neuigkeit
bin ich völlig überrascht. Man stelle sich vor: 60 Jahre Schweigen.“ Immerhin
sei die Waffen-SS eine Freiwilligen-Organisation gewesen und beim Nürnberger
Kriegsverbrecherprozeß als verbrecherisch eingestuft worden. Der auch
in Deutschland vielgelesene Gustafsson („Palast der Erinnerungen“)
hatte persönlichen Kontakt zu Grass seit Mitte der 60er Jahre und gehörte
als im damaligen West-Berlin lebender Autor zu einem Freundeskreis um Grass.
Gustafsson sagte weiter, ihm falle zu dem späten Grass-Bekenntnis vor
allem der Satz des Dramatikers August Strindberg ein: „Man darf nicht
mit Geheimnissen leben.“ Andererseits sei jedoch auch der Mut des Nobelpreisträgers
zu seinem Eingeständnis hervorzuheben. Die Verleihung des Literaturnobelpreises
an Grass 1999 habe damit nichts zu tun, weil diese Auszeichnung „literarisch
und nicht nach politisch- idealistischen Gesichtspunkten“ vergeben werde.
Der Schriftsteller Rolf Hochhuth hält Günter Grass nach dessen Geständnis
seiner Zugehörigkeit zur Waffen-SS für moralisch diskreditiert. Hochhuth
sagte dem „Kölner Stadtanzeiger“ (Montagausgabe) laut Vorabbericht,
manche Aussagen von Grass etwa über die früheren Bundeskanzler Helmut
Kohl und Konrad Adenauer seien „ekelhaft“ und „widerlich“.
Als Beispiel verwies er darauf, daß Grass sich über Kohl deshalb
ereifert habe, weil der mit dem amerikanischen Präsidenten einen Soldatenfriedhof
besucht habe, auf dem neben Hunderten amerikanischen und deutschen Soldaten
49 Männer der Waffen-SS begraben lagen. Martin Walser wiederum meint: „Der
Mündigste aller Zeitgenossen kann 60 Jahre lang nicht mitteilen, daß er
ohne eigenes Zutun in die Waffen-SS geraten ist. Das wirft ein vernichtendes
Licht auf unser Bewältigungsklima mit seinem normierten Denk- und Sprachgebrauch.“
Die „Neue Zürcher Zeitung“ kommentiert: „In der Pose
des selbstgewissen und von Eitelkeit nicht freien Moralisten versucht Günter
Grass noch aus seinem Schuldgeständnis ein ästhetisch-ethisches Kapital
zu schlagen. In Wahrheit wohnen wir einer Selbstdemontage bei.“ In der
auch jüngst wiederholten Kritik des Schriftstellers an Politikern wie
Adenauer sieht die „NZZ“ eine „gewisse Infamie. So liest
man etwa Sätze wie diese: 'Wir hatten Adenauer, grauenhaft, mit all den
Lügen, mit dem ganzen katholischen Mief. Die damals propagierte Gesellschaft
war durch eine Art von Spießigkeit geprägt, die es nicht einmal
bei den Nazis gegeben hatte.' Kein Wort davon, dass Grass ja selber Teil dieser
auf die Lüge eingeschworenen Gesellschaft war, die er noch jetzt denunziert.“
Die „taz“ beobachtet, „daß man jetzt noch einmal eine
deutsche Schuld-Scham-und-Schweige-Debatte führt, diese jedoch kaum neue
Erkenntnisse bringen wird - außer daß eben selbst ein Günter
Grass nicht vor Heimlichtuerei gefeit war. Allerdings wird Grass' Werk und
Wirken vor dem Hintergrund seines Geständnisses noch einmal in einem anderen
Licht besehen werden müssen, und da wird man, Grass selbst gibt in seinem
Erinnerungsbuch viele Hinweise, vielleicht gerade die Danziger Trilogie neu
bewerten müssen.“ Die „Frankfurter Rundschau“ schreibt: „Wie
viel anders und wie viel aufgeklärter wären die verspannten geschichtspolitischen
Debatten der vergangenen Jahre verlaufen, wenn Grass sein Bekenntnis selbstkritisch
in den Ring geworfen hätte? Die für die Geschichte der Bundesrepublik
so wichtige und über weite Strecken so schmerzliche Auseinandersetzung
um Schuld und Verstrickung, aber auch Schuldstolz und Entlastung hätte
weniger fundamental und selbstgerecht geführt werden können, wenn
den Widerspruch seiner Jugend ein politisch-künstlerischer Leuchtturm
wie Grass als Fallbeispiel angeboten hätte.“
Die „Welt“ urteilt: „Nicht seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS,
nicht sein 60jähriges Verschweigen dieser Tatsache machen ihn anfechtbar.
Sondern daß er aus seinem Verstricktsein kein Ambivalenzbewußtsein
ableiten konnte, jedenfalls nicht in seinen politischen Äußerungen.
Seine Verurteilungen der politischen Gegner, sein manichäisches Weltbild,
sein unbewältigter, unbearbeiteter Haß auf das andere - auch jetzt
im Interview: 'Wir hatten Adenauer, grauenhaft, mit all den Lügen, mit
dem ganzen katholischen Mief' - das alles zeugt von einer NS-geprägten
Mentalität. NS-geprägt nicht im Sinne des verbrecherischen Elans,
der dieser politischen Bewegung eigen war. NS-geprägt in der Unfähigkeit,
Ambivalenz zuzulassen und auch den Mitmenschen, die anders denken, Ambivalenz
zuzugestehen.“ In derselben Zeitung bittet der Schriftsteller Burkhard
Spinnen um Verständnis für Günter Grass: „Er gehört
zu der Minderheit seiner Generation, die gezeigt hat, was jenseits eines Berührungsverbots
für Massenwahn und verbrecherische Ideologien gedacht und gefordert werden
kann. Der 'Makel' in der eigenen Biografie hat schließlich nicht allein
Fleiß und Selbstkritik befördert, sondern zu einer lebenslangen
Anstrengung für die Verbesserung der Verhältnisse geführt. Daher
Behutsamkeit, soviel wir Söhne und Töchter solchen Vätern gegenüber
nur aufbringen können.“
Die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt: „Wenn man dem Wortführer
Grass etwas vorhalten kann, dann ist es diese viel zu lange kompromißlose
Abwehr des Zweifels. Und eben darum muß man die öffentliche Person,
den weltanschaulichen und politischen Kommentator Grass von dem Dichter und
seinem Werk unterscheiden: Wie so oft, ist das Werk hier deutlich klüger
als die öffentliche Stimme des Autors. Die Zweifel, die moralischen Grautöne,
die ethischen Unentscheidbarkeiten prägen Grass“ literarische Substanz
ebenso, wie sie seine Neigung zum politischen Schwarzweiß häufig
vermissen läßt.“
Text: FAZ.NET
Bildmaterial: ddp
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Lesermeinungen zum Beitrag [24]
Wer
garantiert uns, dass er nicht geschossen hat,
wie er beteuert,
dass er
nicht an Endzeitgerichten seines angenommenen Auftrags beteilgt war,
wie er erklärt,
dass nicht
nach weiteren 60 Jahren einer von verzeihbarer Scham dies zu verbergen,
spricht und Makel, wie er entschuldigt, der
jungen Jahre, den man verberge,
und dann ohne die prallen Bilder, die verschleiernden und des barocken
Perspektivgetümmels.
Vor dem selbstgewälten Gericht der Aufklärung aller Zeiten würde man sagen,
nicht glaubwürdig, dass was er sagt, schreibt, dieser Zeuge.
Sowas kommt vor. Aber als Inquisitor seiner Generation ungeeigent.