SPIEGEL ONLINE - 17. September 2006, 13:22
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Thalia-Theater
Lustvoller Zerfall
Von Werner Theurich
Thomas Bernhards Prosa-Monster "Auslöschung. Ein Zerfall" auf der Bühne: Das Hamburger Thalia-Theater hat sich dran versucht. Dass der Zerfall kein Unfall wurde, verdankte die raffinierte Inszenierung vor allem dem Hauptdarsteller Thomas Schmauser.
Ein Mann rechnet ab, und das fast als One-Man-Showdown mit der Vergangenheit: Inmitten der in Holzkisten verpackten Reliquien seines früheren Lebens, seiner Familie, seiner verhassten Heimat, ringt Franz-Josef Murau mit seinem Erbe, das er unbedingt und komplett loswerden will.
DPA
Thomas Schmauser als Schriftsteller Franz-Josef Murau und Victoria Trauttmansdorff als Sekretärin in "Auslöschung. Ein Zerfall": Gezähmtes Prosa-Monster
Thomas Bernhard veröffentlichte seinen Riesenroman "Auslöschung. Ein Zerfall", weit über 600 Seiten stark, im Jahre 1986, drei Jahre vor seinem Tod. Es gilt als Gipfelpunkt von Bernhards literarischem Werk, wegen der sprachlichen Opulenz, der Wut und der besessenen Energie, mit der Bernhard hier über die Welt, seine Welt, zu Gericht saß - österreichische Provinz, Enge, Bigotterie und latenter Rechtsextremismus als Kennzeichen der Familie, deren Erinnerung ausgelöscht werden soll. Der 46-jährige Gelehrte Murau darf getrost als Rollen-Spieler Bernhards betrachtet werden. Diese monströse Textattacke überhaupt spieltechnisch wie sprachlich in den Griff zu bekommen, ist schon im Ansatz mutig. Aber dem großen Anlauf folgte auf der Thalia-Bühne auch ein ebenso großer Sprung.
Der Regisseurin Christiane Pohle, geboren 1968 und schon in Wien, Zürich, Berlin und auch in Hamburg erfolgreich gewesen, ging es denn auch von Beginn an weniger um eine ohnehin kaum zu simulierende "Werktreue", sondern um die Essenz des Romans. Das Thalia-Theater hatte in jüngster Zeit ein gutes Händchen mit Roman-Adaptionen: Fontanes "Effi Briest" und Thomas Manns "Buddenbrooks" gelangen gut in eigenständigen theatralischen Versionen, aber die genannten Beispiele konnten auch auf saftige Handlung bauen.
Qualvolle Erinnerungen
" Auslöschung" ist ein Monolog. Aber den konnte Christiane Pohle auch kraftvoll bebildern: Auktion im Hause Murnau, die Vergangenheit kommt unter den Hammer eines gnadenlosen Auktionators. Bieter, Verwandte, Freunde und Bekannte kreisen in wechselnden Konstellationen um den Erzähler und lassen schlaglichtartig Episoden und "schöne Stellen" aus Bernhards Roman aufleuchten. Das mag Leser des Buches schon wegen der harten Verkürzung hin und wieder irritieren, denn Regisseurin Pohle und ihre Dramaturgen Malte Ubenauf und John von Düffel (selbst erfolgreicher Romanautor) strichen zwangsläufig so kräftig, dass etwas wirklich Neues entstand. Eben "nach Thomas Bernhard", wie es in der Ankündigung folglich heißen musste. Und so wurden die rund 100 Minuten "Zerfall" denn auch eine spielfilmlange Spannungstrecke.
Eine Menge Bernhard blieb jedoch, vor allem Dank des wunderbar verqueren und zerquälten Murau-Darstellers Thomas Schmauser. Seine von Angst, Hass, Verfolgungswahn und Zerstörungswillen geprägte Vorstellung von seinen Eltern, seinen Geschwistern, dem heimatlichen Gut Wolfsegg breitet Schmauser mit körperlich spürbarer Intensität aus. Zwischen sprachlichen Dynamik-Sprüngen windet sich sein Körper in physischen Qualen bei der Erinnerungen an Kindheit und Jugend, bei seiner Abscheu vor der Beschränktheit und Bildungsferne der Familie und vor dem engen Heimatort; er leidet lang und ausführlich, quält sich, um den Teufel Heimat und Herkunft auszutreiben, nur um schließlich zu erkennen, dass alles in ihm selbst steckt. Beherrschbar und veränderbar, aber nicht auszulöschen.
Ein harter Ritt
Schmauser beginnt diesen harten Ritt verhalten und fast schüchtern, klammert sich an die karge, aber kluge Bühnenausstattung (fast nur verschiebbare Kisten und Kästen), streicht zunächst vorsichtig um das Inventar, um es schließlich mehr und mehr zu erobern, zu besteigen, zu beherrschen: Eine großartige Personenregie, die sensibel und klar sichtbar macht, was neben dem Text, was zwischen den Zeilen den Erinnerungszerstörer umtreibt. Seine Mutter taucht gespenstisch spröde auf, wunderbar kalt gespielt von Victoria Trauttmannsdorff, die meist als gedankenlos herumschwebende Auktions-Assistentin die Szene zusammenhält.
Muraus Familie, sein italienischer Schüler Gambetti, bleiben Momentaufnahmen vorbehalten, dicke Akzente für Muraus Toben, das immer hilfloser und wütender wird, bis er am Schluss schließlich resigniert verstummt und den Ort seiner Niederlage verlässt. Eine Punktlandung für eine konzeptionell brillante Inszenierung. Nicht weniger pointiert die exquisite, sparsame Bühne von Anette Kurz, deren Verpackungselemente immer mehr zu den Steinen und Wänden von Muraus ganz persönlichem Familiengefängnis werden. Rechteckig, praktisch, gut: Manchmal ist nahe liegendes einfach das Optimum. Viel Beifall für die Truppe, vor allem für Thomas Schmauser - ein Glücksfall für diesen "Bernhard".

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