SPIEGEL
ONLINE - 15. Oktober 2006, 16:35
URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,442681,00.html
Atomwaffen
Wettrennen in die Katastrophe
Experten warnen nach dem nordkoreanischen Test vor einem weltweiten Rennen um
Nuklearwaffen: Mindestens 40 Staaten könnten demnächst zur Atommacht
werden. Japans Politiker fordern bereits, ihr Land solle das nächste sein.
Wie der weltweite Atom-Drang gestoppt werden kann, ist völlig ungewiss.
New York - Droht der Welt ein neues Nuklear-Zeitalter? Nach dem mutmaßlichen
Atomtest in Nordkorea wachsen die Befürchtungen, dass eine weitaus größere
Anzahl von Staaten zu Atommächten werden könnte als bislang angenommen.
Experten schützen, dass über 40 Staaten das technische Wissen zum Bau
der Bombe hätten, berichtet die "New York Times".
AP
Nuklearer Wettlauf? Ein Südkoreaner betrachtet eine nordkoreanische Militärparade
im Fernsehen
In New York hatten die Mitglieder des Uno-Sicherheitsrates gestern Abend die
Atompolitik Nordkoreas in einer einstimmig verabschiedeten Resolution scharf
verurteilt und Sanktionen gegen die kommunistische Führung in Pjöngjang
verhängt. Die nordkoreanische Atompolitik wird in der Entschließung
1718 als "eine klare Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit" bezeichnet.
Nordkorea wird aufgefordert, alle seine Atomwaffen zu vernichten. Militärische
Aktionen schließt das Papier - vor allem auf Druck von China und Russland
- allerdings ausdrücklich aus.
Der Direktor der Internationalen Atomenergiebehörde, Mohammed El Baradei,
glaubt, dass derzeit sogar bis zu 49 Staaten Atomwaffen bauen könnten. "Wir
verlassen uns vor allem auf die guten Absichten dieser Länder - Absichten,
die wiederum auf das Sicherheitsbedürfnis der jeweiligen Länder gründen
und sich deshalb schnell ändern können."
"
Wettrennen zwischen Kooperation und Katastrophe"
Der Nuklearexperte Sam Nunn, vormals Senator in den USA, schätzt die Gefahren
als "dringlich" ein. "Wir stehen mitten in einem Wettrennen zwischen
Kooperation und Katastrophe, und im Moment ist der Ausgang unklar", sagte
Nunn.
Foto: REUTERS
Die Suche nach klimaschonenden Energie-Formen könnte die Entwicklung noch
beschleunigen: Durch die zivile Nutzung der Kernenergie ist das nötige Material
zum Bau der Bombe leichter zu bekommen. Immer mehr Staaten könnten versucht
sein, sich über bestehende Restriktionen zur Verbreitung von Atomwaffen
hinwegsetzen.
Argentinien, Australien und Südafrika haben Pläne zur Urananreicherung
gefasst, Ägypten ist dabei, sein Atomprogramm wiederzuleben. "Die nukleare
Renaissance ist in vollem Gange", sagt George B. Assie vom kanadischen Uranunternehmen
Cameco. Nach Expertenschätzungen werden derzeit 28 neue Reaktoren gebaut,
62 sind in Planung, für 160 gibt es Vorschläge. Die meisten neuen Anlagen
stehen in Asien. 443 Reaktoren sind weltweit in Betrieb.
Lange Zeit war nicht sicher, ob Nordkorea am Montag tatsächlich eine Atombombe
gezündet hatte. Glaubwürdige Hinweise darauf fanden die USA erst Tage
später. Bei den Analysen sei radioaktiver Niederschlag aufgespürt worden, "der
im Einklang mit einem nordkoreanischen Nukleartest steht", hieß es
in einer internen Information des Nationalen Geheimdienstdirektors John Negroponte
für Mitglieder des US-Kongresses. Auch Südkorea und Japan sind nach
Berichten aus beiden Ländern bereits über die Hinweise auf den Atomtest
informiert worden.
Kettenreaktion befürchtet
Der nordkoreanische Atomtest könnte deshalb eine Kettenreaktion in Asien
auslösen: Mehrere Staaten wetteifern heimlich darum, die Schwelle zur Atommacht
zu überschreiten. Einen solchen Wettlauf könnte es auch im Nahen Osten
geben: So fürchten beispielsweise Saudi-Arabien und Ägypten, eine iranische
Atombombe könnte Teheran zur größten Macht in der Region aufsteigen
lassen.
Ein Führungsmitglied der japanischen Regierungspartei regte bereits den
Bau einer eigenen japanischen Atombombe an. "Um sicherzugehen, dass Japan
nicht angegriffen wird, kann man argumentieren, dass die Entwicklung zu einer
Atommacht eine Möglichkeit ist", sagte Shoichi Nakagawa von der Liberaldemokratischen
Partei in einer Fernseh-Debatte.
Er sei kein "Anhänger" dieses Plans, halte aber eine Debatte darüber
für erforderlich. Technisch wäre Japan zum Bau einer Atombombe in der
Lage. Allerdings galt dieses Thema bislang als tabu, weil Japan als einziges
Land der Erde durch die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki am
Ende des Zweiten Weltkriegs Erfahrungen mit den Verwüstungen machte, die
von dieser Waffengattung ausgehen.
jaf, mit AFP/AP
der
tägliche Schmutz morgens mittags und abends zu säubern vor jedem Arbeitsbeginn
SPIEGEL ONLINE - 15. Oktober 2006, 12:04
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Tod von Anna Politkowskaja
Schriftsteller ehren ermordete Journalistin
Von Sonja Pohlmann
Knapp eine Woche ist es her, dass die russische Journalistin Anna Politkowskaja
erschossen wurde. Jetzt trafen sich 15 Schriftsteller in Berlin, um ihr nach
ihrem Tod eine Stimme zu geben. Sie befürchten weitere Morde an regierungskritischen
Journalisten in Russland.
Berlin - Als Monika Maron es nicht mehr aushielt, war Anna Politkowskaja schon
drei Tage lang tot. Der Mord an der russischen Journalistin war am vergangenen
Dienstag in den Zeitungen, im Radio und Fernsehen noch immer eines der wichtigsten
Themen: Politiker, Schriftsteller und Journalisten in der ganzen Welt zeigen
sich entsetzt, dass die russische Reporterin am 7. Oktober in ihrem Haus erschossen
wurde. Am helllichten Tag, von einem unbekannten Täter.
DPA
Trauerfeier für Politkowskaja: Schriftsteller lesen ihre Texte in Berlin
Politkowskaja ist das 246. Todesopfer unter Russlands Journalisten seit Ende
der Sowjetunion. Maron will jetzt nicht einfach zur Tagesordnung übergehen,
sie will ein Zeichen setzen. Am Dienstagabend fasste die deutsche Schriftstellerin
mit ihrer Freundin Regina Mönch, Redakteurin bei der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung (FAZ), einen Plan: 15 deutsche Schriftsteller sollen im Gedenken an Politkowskaja
Texte lesen - aus den Büchern der Journalistin: "Tschetschenien. Die
Wahrheit über den Krieg" und "In Putins Russland".
An diesem Wochenende trafen sich nun auf Anregung von Maron die Autoren Judith
Herrmann, Peter Esterhazy, Katja Lange-Müller, Jens Reich, Dirk Sager, Sybille
Lewitscharoff, Ingo Schulze, Peter Merseburger, Thomas Hettche, Wolfgang Büscher,
Emine Sevgi Özdamar, Hartmut Lange, Tilman Rammstedt und Jana Hensel im
Redaktionsgebäude der FAZ - und mehr als 300 Menschen kamen, um ihnen zuzuhören.
Prominenz schützt nicht
Monika Maron ist die erste, die ans Pult tritt. Sie liest mit zitternder Stimme
Passagen aus Politkowskajas Tschetschenien-Buch. Es berichtet über die Arbeit
der Journalistin als Reporterin und das Leid, das sie dabei gesehen hat: Frauen,
gequält und vergewaltigt, vertriebene Familien, die nun in Baracken leben,
und Kinder, deren Eltern umgebracht wurden.
Nach zehn Minuten hört Maron auf, verlässt kurz den Saal. "Diese
Texte zu lesen, berührt mich sehr", sagt sie. Für sie sei es unerträglich,
dass Politkokwskaja sterben musste. Die Prominenz und Anerkennung der Journalistin
in der westlichen Welt, so hatte Maron gehofft, würde sie schützen
- ein Trugschluss.
Politkowskaja widmete sich vor allem den Menschenrechtsverletzungen, der Folter
und den Morden im tschetschenischen Kriegsgebiet. Unermüdlich berichtete
sie darüber für die Moskauer Tageszeitung "Nowaja Gaseta",
wurde dafür 2003 mit dem Lettre Ulysses Award für Reportage ausgezeichnet.
Der politischen Führung Russlands blieb sie ein Dorn im Auge. Am Todestag
Politkowskaja hatte Putin Geburtstag. "Ihr Tod zeigt ganz klar, dass Russland
von einer Meinungs- und Pressefreiheit weit entfernt ist", sagt Maron.
Umso mehr sei Politkowskajas Mut zu würdigen. "Wir wollen ihr mit der
Lesung über ihren Tod hinaus eine Stimme verleihen", sagt die deutsche
Schriftstellerin. Gleichzeitig solle ein Signal an die deutsche Regierung gegeben
werden, sich mutiger gegenüber Russland zu äußern. "Journalisten
knallt man nicht ab, das soll Angela Merkel ganz klar sagen", wünscht
sich Maron. Die anderen Schriftsteller lesen kurze Textabschnitte, jeweils etwa
zehn Minuten lang - Applaus gibt es nicht, dafür ist die Stimmung zu gedrückt.
"
Wir sind nicht zum Schweigen zu bringen"
Mainat Abdullajewa hört konzentriert zu. Die tschetschenische Journalistin
lebt zurzeit als Stipendiatin des deutschen PEN-Clubs in Berlin. Heute sitzt
sie in der ersten Reihe und eröffnet mit FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher
die Gedenklesung. Mit Politkowskaja war Abdullajewa eng befreundet. Kennen gelernt
hatte sich die beiden in der Redaktion der Moskauer Tageszeitung "Nowaja
Gaseta". "Es ist schrecklich, dass Anna Politkowskaja sterben musste,
damit das Thema Tschetschenien wieder auf den ersten Seiten der Zeitungen zu
lesen ist", sagt Abdullajewa zu Beginn der Veranstaltung.
Allerdings befürchtet Abdullajewa, dass noch viele weitere Journalisten
ermordet werden: "Jeder, der es wagt, das russische System zu kritisieren,
muss damit rechnen." Umso wichtiger sei es deshalb, über die Menschenrechtsverletzungen
zu sprechen. Die Gedenklesung sieht die tschetschenische Journalistin als wichtiges
Signal in Richtung Moskau. "Wir zeigen damit, dass wir nicht zum Schweigen
zu bringen sind", sagt die Journalistin.
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