SPIEGEL ONLINE - 12. Oktober 2006, 16:01
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Anna Politkowskaja
"
Wir ernennen dich zum Terroristen"
Tschetschenien war Anna Politkowskajas Thema: Sie recherchierte zu Folter, Mord
und "Verschwindenlassen" von Menschen in der russischen Kaukasusteilrepublik.
SPIEGEL ONLINE dokumentiert Fragmente ihres letzten Textes, den Anna Politkowskaja
für die Moskauer Zeitung "Nowaja Gaseta" schrieb.
Für viele Tschetschenen, die Opfer von Gewalt durch staatliche Strukturen
wurden, war Politkowskaja eine Institution. Der Weg in die Öffentlichkeit
- für die Informanten nicht weniger gefährlich als für die Journalistin
- war oft die letzte Hoffnung. Was Anna Politkowskaja in ihrem letzten, unvollendet
gebliebenen Text schildert, den die "Nowaja Gaseta" in Moskau jetzt
veröffentlicht, weckt Déjà-vu-Erlebnisse. Ähnliches vernahm
die Weltöffentlichkeit in den siebziger Jahren aus lateinamerikanischen
Diktaturen wie Chile und Argentinien, in den achtziger Jahren aus der Türkei,
vor allem aus Türkisch-Kurdistan und erst kürzlich aus dem von USA-Truppen
besetzten Irak, aus Gegenden, in denen uniformierte Sadisten sich vor Strafe
sicher fühlen.
DPA
Die ermordete Journalistin Politkowskaja: "Die überwältigende
Mehrheit dieser Leute sind ernannte Terroristen"
Im Folgenden dokumentieren wir Anna Politkowskajas letzten Text:
"
Vor mir liegen jeden Tag Dutzende von Mappen. Das sind Kopien von Strafverfahren
gegen Leute, die bei uns wegen "Terrorismus" einsitzen oder sich noch
in Untersuchungshaft befinden. Warum steht das Wort "Terrorismus" hier
in Anführungszeichen? Deshalb, weil die überwältigende Mehrheit
dieser Leute ernannte Terroristen sind. Und diese Praxis der "Ernennung
zu Terroristen" hat zum Jahr 2006 nicht nur jeden echten antiterroristischen
Kampf verdrängt, sie selbst produziert Leute, die sich rächen wollen
- potenzielle Terroristen. Wenn die Staatsanwaltschaft und die Gerichte nicht
um des Gesetzes Willen arbeiten und um Schuldige zu bestrafen, sondern auf politische
Bestellung und auf der Jagd nach antiterroristischen Rechenschaftsberichten,
die dem Kreml genehm sind, dann werden Strafverfahren gebacken wie Pfannkuchen.
Das Fließband zur "Organisation umfassender Geständnisse" sorgt
für ausgezeichnete Bilanzen beim "Kampf gegen den Terrorismus" im
Nordkaukasus. Das haben mir Mütter einer Gruppe verurteilter junger Tschetschenen
geschrieben:"...Dem Wesen nach haben sich diese Besserungslager in Konzentrationslager
für verurteilte Tschetschenen verwandelt. Sie werden wegen ihrer Nationalität
diskriminiert. Aus Einzelzellen und Isolationshaft lässt man sie nicht heraus.
Die Mehrheit, oder fast alle, wurden verurteilt wegen fabrizierter 'Strafsachen'
ohne grundlegende Beweise. Während sie harten Bedingungen ausgesetzt sind
und sie in ihrer menschlichen Würde erniedrigt werden, entwickeln sie einen
Hass gegen alles. Denn es ist eine ganze Armee, die zu uns mit gebrochenen Schicksalen
und deformierten Lebensvorstellungen zurück kommt..."
Stromschläge und Gummiknüppel
Ehrlich: Ich fürchte ihren Hass. Ich fürchte ihn, weil er ausufert.
Früher oder später. Und extrem werden alle, nicht nur die Ermittler,
die sie gefoltert haben. Die Strafsachen "Ernannter Terroristen", das
ist das Feld, auf dem zwei ideologische Herangehensweisen darüber mit den
Köpfen zusammenstoßen, was in der "Zone der antiterroristischen
Operation im Nordkaukasus" geschieht : Kämpfen wir auf der Basis des
Gesetzes oder gesetzlos? Oder dreschen wir mit "unserer" Gesetzlosigkeit
auf "ihre" ein ? Sie stoßen zusammen, dass die Funken sprühen,
jetzt und in der Zukunft. Das Ergebnis einer solchen "Ernennung zu Terroristen" besteht
darin, dass es immer mehr werden, die sich damit nicht abfinden wollen.
Kürzlich hat die Ukraine auf russisches Begehren einen gewissen Beslan Gadajew
ausgeliefert, einen Tschetschenen, der Anfang August bei einer Passkontrolle
auf der Krim festgenommen wurde, wo er als Flüchtling lebte. Das sind Zeilen
aus seinem Brief vom 29. August: "...Nachdem man mich aus der Ukraine nach
Grosny ausgeliefert hat, hat man mich in ein Büro gebracht und sofort gefragt,
ob ich Leute aus der Familie Salichowich umgebracht hätte, Ansor und seinen
Freund, den russischen "Lastwagenfahrer". Ich habe geschworen, dass
ich niemanden umgebracht habe und niemandes Blut vergossen habe, weder eines
Russen, noch eines Tschetschenen. Sie sagten sehr entschieden: "Nein, Du
hast getötet". Ich habe es erneut bestritten. Nachdem ich ihnen zum
zweiten Mal geantwortet hatte, dass ich niemanden umgebracht habe, fingen sie
sofort an, mich zu schlagen. Am Anfang haben sie mich mit Fäusten zweimal
in die Gegend des rechten Auges geschlagen. Bis ich nach diesen Schlägen
wieder zu mir gekommen war, beugten sie mich und legten mir vorne Handschellen
an und von der Seite zwischen die Beine steckten sie ein Rohr, damit ich die
Arme nicht mehr bewegen konnte, obwohl ich schon in Handschellen war. Dann hängten
sie das Rohr mit mir zwischen zwei nahe stehende ein Meter hohe Schränke.
Sofort nachdem sie mich hingehängt haben, befestigten sie an den Handgelenken
Draht. Einige Sekunden später fingen sie an, mir Stromschläge zu geben
und mich gleichzeitig so heftig sie konnten mit Gummiknüppeln zu schlagen.
Ich hielt den Schmerz nicht aus, ich fing an, zu schreien, rief den Namen des
Allmächtigen und flehte sie an, damit aufzuhören. Als Antwort darauf,
um nicht zuzuhören und nicht zu hören, wie ich schreie, zogen sie mir
eine schwarze Tüte über den Kopf. Ich erinnere mich nicht genau, wie
lange das anhielt, aber ich fing vor Schmerz an, das Bewusstsein zu verlieren.
Verwundert darüber, dass ich das Bewusstsein verliere, nahmen sie mir die
Tüte ab und fragten, ob ich reden werde. Ich sagte, dass ich das tun werde,
obwohl ich nicht wusste, worüber ich ihnen etwas sagen sollte. Ich habe
so geantwortet, dass ich wenigstens zeitweise von der Folter verschont blieb.
Sie drohten mit Schlägen und sexueller Erniedrigung
Danach nahmen sie mich aus dieser Aufhängung, entfernten das Rohr und warfen
mich auf den Boden. Sie sagten : "Rede". Darauf entgegnete ich, dass
ich ihnen nichts zu sagen hätte. Darauf antworteten sie mir, indem sie mich
mit dem Rohr schlugen, an das sie mich gehängt hatten, wieder in die Gegend
des rechten Auges. Von ihren Schlägen fiel ich auf die Seite und fühlte
schon halb ohnmächtig, dass sie mich überall hin schlugen.... Sie hängten
mich wieder auf und wiederholten das Ganze. Wie lange das dauerte, erinnere ich
nicht, ich wurde immer wieder mit Wasser übergossen.
Am nächsten Tag haben sie mich gebadet und mir das Gesicht und den Körper
mit irgend etwas eingerieben. Ungefähr zur Mittagszeit kam zu mir ein operativer
Mitarbeiter in Zivil und sagte, dass Journalisten gekommen seien und dass ich
mich zu drei Morden und einem Raub bekennen sollte. Sie drohten damit, dass sie,
wenn ich nicht einwillige, alles wiederholen und mich sogar sexuell erniedrigen
würden. Ich stimmte zu. Nachdem ich den Journalisten das Interview gegeben
hatte, drohten sie mir wieder mit diesen Quälereien, zwangen mich, eine
Aussage zu machen, dass ich all die Schlagverletzungen, die sie mir zugefügt
hatten, bei einem Fluchtversuch erlitten hätte".
Der Rechtsanwalt Saur Sakrijew, der Beslan Gadajew vertritt, hat gegenüber
Mitarbeitern von "Memorial" (russische Bürgerrechtsorganisation
- Anm. des Übersetzers) erklärt, dass in der Innenverwaltung im ländlichen
Bezirk Grosny gegen seinen Mandanten körperliche und psychische Gewalt eingesetzt
wurde. Wie aus der Erklärung des Anwalts hervorgeht, hat sein Mandant faktisch
einen Raubüberfall im Jahre 2004 auf Mitarbeiter der Rechtsschutzorgane
gestanden. Jedoch haben die Mitarbeiter der Innenverwaltung des ländlichen
Bezirkes Grosny sich entschieden, ihm noch ein Geständnis für eine
Reihe anderer von ihm nicht begangener Verbrechen abzunehmen, die in Starije
Atagi im ländlichen Bezirk Grosny der Tschetschenischen Republik verübt
wurden.
Nach den Worten des Rechtsanwalts, hat sein Mandant durch brutale Gewaltanwendung
sichtbare körperliche Schäden erlitten. Im medizinischen Teil der Untersuchungshaftanstalt
Nr. 1 in Grosny, wo sich B. Gadajew gegenwärtig befindet (angeklagt nach
Artikel 209 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation, "Banditismus")
wurde eine medizinische Begutachtung erstellt, die zahlreiche blaue Flecke, Verletzungen
als Schnittwunden, Hautabschürfungen, Blutergüsse, gebrochene Rippen
und Schäden an inneren Organen.
Wegen all dieser groben Menschenrechtsverletzungen hat Anwalt S. Sakrijew eine
Beschwerde an die Staatsanwaltschaft der Tschetschenischen Republik eingereicht....
Anmerkung der Redaktion der "Nowaja Gaseta": P.S. Hier bricht das Material
Politkowskajas ab. Es ist unvollendet. Welche Episoden außerhalb dieses
Textes blieben, wird die Redaktion klären.
Ü
bersetzung aus dem Russischen : Uwe Klußmann
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Ist
das alles erlaubt, neben schlimmen Ereignissen und solchen Film/Theatergesängen
wie oben? Wenn ich es richtig verstanden habe, spricht eine Arbeit von
Humor, es nicht fassen könnend, der-sowas. Was denn sonst, viel könnte
man sagen, wenden. Aber zurückzukommen und, etwas zu tun, ist es nicht
alter Traum der Kopfmenschen - und dann dies. Es einmal tun zu dürfen.
Aus nichts. Weniger als dem Nichts. Und soviel Opfer links und rechts seh ich
fallen. Aber Ernte auch. Vortastend dem Geiste kostbarste Nahrung.