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ONLINE - 07. Dezember 2005, 18:50
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Eklat bei Nobelpreisrede
Pinters Frontalangriff auf die USA
Wer altersmilde Dankesworte erwartet hatte, wurde von einem Donnerschlag überrascht:
Der diesjährige Literaturnobelpreisträger Harold Pinter nutzte seine
heute veröffentlichte Rede für eine massive Amerika-Kritik. Fazit:
Die USA sind "brutal, verächtlich und skrupellos".
Letztes Jahr hatte sich Elfriede Jelinek noch in ausladende Sprachartistik eingesponnen,
von Politik oder gar Gesellschaftskritik kein Ton. Ganz anders der britische
Dramatiker Harold Pinter, der in seiner gerade veröffentlichten Literaturnobelpreisrede
die Gelegenheit nutzte, über die Suche des Schriftstellers nach Wahrheit
zu sprechen - und wie diese Suche von korrupten Machthabern immer mehr erschwert
wird.
AP
Dramatiker Pinter: "Die Wahrheit bestimmen"
Ausgehend von einigen kurzen Bemerkungen zu seinen politischen Theaterstücken "Die
Geburtstagsfeier", "Berg-Sprache" und "Asche zu Asche" gelangt
der englische Dramatiker zur Einsicht, dass die politische Rhetorik den Bürger
verdumme und ihm die Wahrheit vorenthalte.
Durchgespielt wurde diese These am Beispiel der USA, die Pinter systematischer
Verbrechen in aller Welt beschuldigte. So erklärte er in der in Stockholm
auf Video abgespielten Rede, Amerika zerstöre souveräne Staaten mittels
Korruption und verdeckter Gewalt. Man verfahre so, "dass man das Herz des
Landes infiziert, dass man eine bösartige Wucherung in Gang setzt und zuschaut
wie der Faulbrand erblüht. Ist die Bevölkerung unterjocht worden oder
totgeprügelt - es läuft auf dasselbe hinaus - und sitzen die eigenen
Freunde, das Militär und die großen Kapitalgesellschaften bequem am
Schalthebel, tritt man vor die Kamera und sagt, die Demokratie habe sich behauptet".
Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten die USA außerdem "jede rechtsgerichtete
Militärdiktatur auf der Welt" unterstützt oder sie in vielen Fällen
erst hervorgebracht. "Ich verweise auf Indonesien, Griechenland, Uruguay,
Brasilien, Paraguay, Haiti, die Türkei, die Philippinen, Guatemala, El Salvador
und natürlich Chile", so Pinter. "Die Schrecken, die Amerika Chile
1973 zufügte, können nie gesühnt und nie verziehen werden. In
diesen Ländern hat es Hunderttausende von Toten gegeben. Hat es sie wirklich
gegeben? Und sind sie wirklich alle der US-Außenpolitik zuzuschreiben?
Die Antwort lautet ja, es hat sie gegeben, und sie sind der amerikanischen Außenpolitik
zuzuschreiben. Aber davon weiß man natürlich nichts."
Den Irak-Krieg geißelte der Autor als niedrigste Aggressionsform eines
Landes, das "brutal, gleichgültig, verächtlich und skrupellos" seine
Interessen durchsetze. "Die Invasion des Irak war ein Banditenakt, ein Akt
von unverhohlenem Staatsterrorismus, der die absolute Verachtung des Prinzips
von internationalem Recht demonstrierte", erklärte Pinter. "Die
Invasion war ein willkürlicher Militäreinsatz, ausgelöst durch
einen ganzen Berg von Lügen und die üble Manipulation der Medien und
somit der Öffentlichkeit."
Gerecht wäre deshalb, wenn US-Präsident George W. Bush und der britische
Premier Tony Blair vor den Internationalen Gerichtshof kämen. "Aber
Bush war clever. Er hat den Internationalen Strafgerichtshof gar nicht erst anerkannt",
folgerte der Autor bitter. Dennoch, so das Fazit Pinters, müsse man, "den
existierenden, kolossalen Widrigkeiten zum Trotz", die Entschlossenheit
bewahren, "als Bürger die wirkliche Wahrheit unseres Lebens und unserer
Gesellschaften zu bestimmen".
"Wenn sich diese Entschlossenheit nicht in unserer politischen Vision verkörpert,
bleiben wir bar jeder Hoffnung, das wiederherzustellen, was wir schon fast verloren
haben - die Würde des Menschen."
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